Wie kriege ich einen gnädigen Gott?

Predigt über Römer 3,21‑28 zum Reformationstag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Fast 500 Jahre nach Luthers Reformation kann man die Frage stellen: Braucht die Kirche nicht eine neue Re­formation? Manche stellen diese Frage im Hinblick darauf, dass sich die Gesell­schaft seither enorm verändert hat. Muss die Kirche dem nicht Rechnung tragen in ihrer Lehre und in ihrer Gestalt? Die damalige Reformation hatte ihren Ausgangs­punkt in der bangen Frage des Augustiner­mönchs Martin Luther: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Heute treiben die meisten Menschen ganz andere Fragen um, zum Beispiel: Wie kriege ich einen gnädigen Nächsten? Wie kriege ich eine gerechte Welt­ordnung? Wie kriege ich eine saubere Umwelt? Oder auch ganz einfach: Wie kriege ich mehr Geld? Wie kriege ich mehr Spaß? Sollte sich die Kirche nicht lieber auf solche Fragen einlassen, anstatt immerfort die Frage nach dem gnädigen Gott zu be­antworten? Ist es für uns Christen nicht selbst­verständ­lich, dass Gott gnädig ist? Wer rechnet denn überhaupt noch mit einem ungnädigen Gott?

Die brennenden Fragen der Neuzeit sind wichtig, und es ist gut, wenn wir uns ernsthaft damit be­schäftigen. Dennoch hat die Frage nach dem gnädigen Gott immer noch Vorrang, und die christliche Kirche muss der Ort bleiben, wo vor allen Dingen diese Frage beantwortet wird. Denn die grund­legenden Tatsachen haben sich seit Luthers Zeiten nicht geändert, auch wenn viele das heute verdrängen oder ungläubig abtun. Es ist eine Tatsache, dass wir Menschen von Gott beurteilt werden. Es ist eine Tatsache, dass wir einmal sterben müssen. Es ist eine Tatsache, dass wir dann vor Gottes Gericht stehen werden und ent­sprechend unserer Lebensweise gerichtet werden. Es ist eine Tatsache, dass es bei der Urteils­verkündigung dann nur zwei Alter­nativen gibt: Tod oder Freispruch. Diese Tatsachen hat Gott in seinem Wort klar und deutlich offenbart. Wer sie nicht wahrhaben will, der gleicht einer Schwange­ren, die nicht mit einer Geburt rechnet und sich nicht darauf vor­bereitet. Wer aber diese Tatsachen ernst nimmt, den wird es auch heute noch interes­sieren, wie er nach den paar Erden-Jahrzehnten den über­wiegenden Teil seines Lebens verbringen wird. Wer diese Tatsachen ernst nimmt, den muss immer noch die alte Frage bewegen: Wie kriege ich einen gnädigen Gott?

Im Grunde ist es ja keine spezielle Martin-Luther-Frage. Im Grunde fragten die Menschen schon von Anfang der Welt so. Das Volk Israel fragte so, ebenso ein frommer Vertreter desselben mit Namen Saulus. Gott schenkte ihm eine wunderbare Antwort auf diese Frage: das Evangelium von Jesus Christus. Er nahm es im Glauben an und verkündigte es unter dem Namen Paulus unzähligen Zeit­genossen in Wort und Schrift. Seine Brief­predigt an die Christen in Rom be­antwortete l500 Jahre später dem ver­zweifelten Mönch Martin Luther die Frage nach dem gnädigen Gott. Als junger Theologie­professor be­schäftigte Luther sich in seinem Studier­zimmer im Turm des Witten­berger Augustiner­klosters mit dem Römerbrief und fand hier die beglückende Antwort des Paulus. Aus diesem Grund wurde die Entdeckung der Gnade Gottes durch den Reformator später sein „Turm­erlebnis“ genannt.

Welche Antwort hat Martin Luther denn nun gefunden auf die Frage: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Er hat diese Antwort mit vier Begriffen bezeichnet, mit den vier Säulen der Re­formation, den vier „Sola“, den vier „Allein“: Wir kriegen einen gnädigen Gott sola scriptura (allein durch die Schrift), sola gratia (allein aus Gnaden), solus Christus (allein mit Christus) und sola fide (allein durch den Glauben). Wir wollen uns jetzt mit Paulus und Luther auf diese vier Säulen neu gründen, damit wir befestigt werden in der richtigen Antwort auf die wichtige Frage: Wie kriege ich einen gnädigen Gott?

Die erste Säule, das erste Sola heißt „sola scriptura“ – allein durch die Heilige Schrift. Paulus hat ge­schrieben, dass Gottes Gerechtig­keit „durch das Gesetz und die Propheten“ bezeugt ist. Das war die damalige Bezeichnung für die Heilige Schrift, jedenfalls für das Alte Testament (das Neue war ja noch im Entstehen). Ja, die Heilige Schrift zeigt uns, wie ein Mensch vor Gott gerecht wird, wie er im Gericht auf einen gnädigen Gott und auf Freispruch hoffen darf; die Heilige Schrift ist die exklusive Quelle dafür. Nur Gott selbst weiß die richtige Antwort und nur in seinem Wort können wir gewiss sein, sie zu finden.

Genau genommen sind es allerdings zwei Antworten, die Gottes Wort gibt. Zwei Wege werden in der Bibel beschrieben, um vor Gott gerecht dazustehen. Der erste Weg ist der Weg des Gesetzes und der Werke. Im Gesetz, in den Zehn Geboten, hat Gott gesagt, was er vom Menschen fordert. Wer sich danach richtet, ist in Gottes Augen gerecht und wird Lohn empfangen; wer sich aber nicht danach richten, hat Gottes Ungnade, Zorn und Strafe zu erwarten. Der zweite Weg ist der Weg der Gnade. Gott vergibt unsere Sünde; das heißt: Er rechnet sie im Gericht nicht zu, er straft nicht, sondern er spricht den Schuldigen frei. Dieser zweite Weg ist die einzige Möglich­keit, gerecht zu werden. Paulus bezeugt von Juden und Heiden: „Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhms, den sie bei Gott haben sollten und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade.“ Ja, so bezeugt es die Heilige Schrift aus­drücklich: „Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtig­keit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten.“

Damit sind wir bei der zweiten Säule, dem zweiten Sola: „sola gratia“ – allein aus Gnaden. Von „gratia“, vom lateinischen Wort für Gnade, kommt unser deutsches Wort „gratis“ her. Es bedeutet: ohne Gegen­leistung, unverdient, geschenk­weise. In der Bibel bedeutet „Gnade“, dass Gott uns die Vergebung der Sünden schenkt, dass er uns unsere Schuld nicht anrechnet, dass er uns ohne Eigen­verdienst gerecht spricht – ohne Gegen­leistung, unverdient, geschenk­weise, gratis! Gerade der Apostel Paulus wurde nicht müde, dies immer wieder zu bezeugen: Wir werden „ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade“, wörtlich: „geschenk­weise aus seiner Gnade“.

Der zweite Weg zum gnädigen Gott, der Weg der Gnade, ist der einzig gangbare, denn der Weg des Gesetzes und der eigenen Werke kann nicht zum Ziel führen. Deshalb ist es dem Apostel Paulus ganz wichtig, die beiden Wege sorgfältig voneinander zu unter­scheiden: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Martin Luther betonte diese Unter­scheidung des Evangeliums vom Gesetz besonders im Blick auf die Gesetzlich­keit der mittel­alterlichen Kirche, die den Menschen vorwiegend den strengen Richtergott vor Augen malte. Auch wir tun gut daran, den Weg der Gnade weit vom Weg des Gesetzes zu scheiden. Denn allzu leicht schleicht sich immer wieder die allzu menschliche Meinung ein, ohne Leistung gäbe es keine Gegen­leistung, und wir müssten uns den Himmel eben doch durch ein halbwegs anständiges Leben verdienen. Nein und nochmals nein! Denn so anständig kann keiner leben, dass er sich damit den Himmel verdient. Paulus hat ge­schrieben: „Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ Wer durch die Werke des Gesetzes selig werden will, der handelt wie einer, der mit eigener Kraft nach Amerika kommen will, nämlich indem er den Atlantik durch­schwimmt. Mag er auch noch so ein guter Sehwimmer sein, er wird es nicht schaffen. So ist das mit dem ersten Weg, mit der Gesetzes­gerechtig­keit. Die Gnade aber sagt: Hier hast du ein Flugticket nach Amerika, es ist gratis, ich schenke es dir; setz dich ins Flugzeug, und du wirst erleben, dass du gut in Amerika ankommst!

Wenn wir durch diesen zweiten Weg gerecht werden, den Gnadenweg, dann stellt Paulus treffend fest, dass Eigenruhm aus­geschlossen ist. Wir können uns nichts darauf einbilden, dass wir Gerettete sind. Der Ruhm gilt vielmehr allein Jesus Christus. Das ist die dritte Säule, das dritte Solus: „solus Christus“ – allein Jesus Christus rettet uns. Er ist nämlich derjenige, durch den der Gnadenweg zur Seligkeit erst möglich wurde. Einen anderen Gnadenweg gibt es nicht; ohne Christus kann niemand in Gottes Gericht bestehen und selig werden. Wie Jesus uns gerettet hat, das hat Paulus in einem wunderbaren Bild aus­gedrückt, ein Bild, das besonders für seine jüdischen Volks­genossen bestimmt war. Paulus schrieb: „Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtig­keit.“ Für „Sühne“ steht da das Wort „hilasterion“; das ist zugleich die Bezeichnung für den Deckel der Bundeslade. In der Bundeslade befanden sich die Steintafeln mit den Zehn Geboten. Ihr Deckel war prächtig mit Gold überzogen und mit Engel­figuren geschmückt; er galt als Gottes Thron. Deshalb wird der Deckel der Bundeslade auch „Gnaden­thron“ oder „Gnaden­stuhl“ genannt, und so hat Luther diese Stelle auch ur­sprünglich übersetzt: „Den (Jesus Christus) hat Gott für den Glauben hingestellt als einen Gnaden­stuhl.“ Jesus Christus ist im über­tragenen Sinn der Deckel der Bundeslade, der die Zehn Gebote bedeckt, das ver­nichtende Urteil des Gesetzes über den Sünder. Schon zur Zeit des Alten Testaments wurde am großen Versöhnungs­tag Blut an den Gnadenstuhl gesprengt zur Vergebung der Sünden. Das war ein Vorzeichen auf Jesus Christus hin, der mit seinem blutigen Opfer am Kreuz zum universalen Gnadenstuhl für alle Menschen geworden ist. Nicht, dass Gott nun einfach alle Sünden übersieht und beide Augen zudrückt, das ist nicht gemeint mit dem Deckel über den Gesetzes­tafeln. Nein, Gott bleibt gerecht und muss das Böse strafen. Aber Jesus hat die Strafe stell­vertretend für uns getragen, sodass Paulus schreiben kann: „Gott ist selbst gerecht und er macht den gerecht, der da ist aus dem Glauben an Jesus Christus.“

Da sind wir nun bei der vierten Säule, dem vierte Sola: „sola fide“ – allein durch den Glauben. Ohne Glauben kann niemand den gnädigen Gott finden. Zwar hat Christus die Sünden­vergebung für alle Menschen erworben, die Gnade Gottes gilt wirklich allen Menschen. Aber nur wer sie im Glauben annimmt, hat auch wirklich das ewige Heil davon. Im Bild gesprochen: Wer ein Flugticket nach Amerika geschenkt bekommen hat, muss damit zum Flughafen kommen und losfliegen, sonst nützt es ihm nichts. Das ist der rettende Glaube, dass ich mich auf Gottes Gnade und das Opfer Jesu verlasse, dass ich ihn meinen Herrn nenne und auf seine Erlösung vertraue. Freilich müssen wir uns davor hüten, aus dem Glauben ein Werk zu machen, eine fromme Leistung. Wenn jemand meint, dass ihn sein frommer, gläubiger Lebens­wandel selig macht, der versucht damit ja schon wieder, selbst zu „schwim­men“; der versucht, durch eigene Gerechtig­keit selig zu werden – was immer ein ver­geblicher Versuch bleiben muss. Nein, der rechte Glaube ist nichts anderes als die aus­gestreckte Hand eines Bettlers, der ein königliches Geschenk bekommt. Und selbst dieser Glaube ist kein Produkt mensch­lichen Willens, sondern ein Gottes­geschenk, ein Wunder des Heiligen Geistes in unseren Herzen.

Liebe Gemeinde, anfangs hatte ich die Frage auf­geworfen, ob die Kirche eine neue Reformation braucht. Reformation bedeutet eigentlich „Rück-Formung“, „Rück­besinnung“. Luther besann sich zurück auf die richtige Antwort zu der stets aktuellen Frage: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Wenn die Kirche heute eine Reformation nötig hat, dann keine andere als eine Rück­besinnung auf diese alte Frage als auch auf die richtige Antwort dazu: „sola scriptura, sola gratia, solus Christus, sola fide“ – allein durch die Schrift, allein aus Gnaden, allein Christus, allein durch den Glauben. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1992.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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