Gottes unbegreifliche Weisheit

Predigt über Römer 11,33-36 zum Trinitatisfest

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Gleich das erste Wort dieses Bibel­abschnitts lehrt uns das Staunen: „Oh!“ Es ist das heilige Staunen der Gottes­kinder über die un­begreifliche Weisheit ihres Herrn: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie un­begreiflich sind seine Gerichte und un­erforschlich seine Wege!“ Bewusst hat der Apostel Paulus dieses heilige Staunen an das Ende eines Gedanken­ganges gesetzt, bei dem mensch­licher Verstand nicht mehr mitkommt. Es sind die Kapitel neun bis elf des Römer­briefes. Paulus offenbart hier Gottes ewigen Ratschluss über das Volk Israel und greift zugleich die Frage der Gnadenwahl auf. Hier stoßen wir in der Tat an einen Punkt, wo wir mit Gottes Ent­scheidungen und Wegen nicht mehr mitkommen, wo wir uns nur noch staunend und anbetend vor seinem heiligen Willen beugen können.

Was ist es denn, was Paulus da offenbart? Da lernen wir, dass die Menschen in Gottes Händen wie Tonklumpen sind. Er ist der Töpfer, und er formt den Ton, wie er will. Er macht das eine Gefäß zur Ehre und das andere zur Unehre. Den einen Menschen nimmt er zu Gnaden an, und dem anderen verstockt er das Herz; dennoch möchte er, dass alle zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Kein Christ darf sich darauf etwas einbilden, dass er bei Gott angenommen ist; es ist pure Gnade, es ist zu hundert Prozent Gottes Tat, und zwar Gottes Liebestat in seinem Sohn Jesus Christus. Kein Mensch kann auch nur ein Fünkchen aus eigenem Antrieb zu seiner Bekehrung beitragen; der Heilige Geist ist es, der ganz das Wollen und Vollbringen schenken muss. Aber derselbe Gott hat den Menschen ein Gewissen und einen Willen gegeben, um ver­antwortlich zu leben. Derselbe Gott macht Menschen für ihre Schuld ver­antwortlich. Wenn einer gottlos lebt, dürfen wir nicht Gott dafür ver­antwortlich machen, sondern müssen den Grund in diesem Menschen selbst suchen. Beides aber erscheint dem Menschen­verstand als un­vereinbarer Wider­spruch. Wir können es nicht verstehen, sondern nur staunen über Gottes un­begreifliche Weisheit. Und so kann auch Paulus am Ende solcher Gedanken nur ausrufen: „Oh!“

Ebenso un­ergründlich ist das, was wir heute feiern: das Geheimnis der heiligen Drei­faltigkeit. Es gibt nur einen Gott, den Schöpfer Himmels und der Erden, den Herrn Zebaoth, so lehrt uns die Bibel. Doch dieser eine Gott offenbart sich in drei Personen, als Vater, Sohn und Heiliger Geist. Wer dies nicht glaubt, der kennt nicht den Gott der Bibel, sondern sein Gott ist ein selbst­gemachter Götze. Gott Vater, Gott Sohn und Gott Heiliger Geist stehen in einer innigen, liebevollen Beziehung zueinander. Der Vater sendet den Sohn, der Sohn gehorcht dem Vater, der Heilige Geist geht von Vater und Sohn aus. Das Werk des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes auf Erden, die Schöpfung, die Erlösung und die Heiligung; sind damit letztlich gemeinsame Werke des einen un­zertrenn­lichen Gottes, eben des dreieinigen Herrn. Wieder können wir es mit mensch­lichem Verstand nicht begreifen, sondern nur staunend ausrufen: „Oh!“

Vieles andere lehrt uns die Bibel, was wir ebenfalls nicht begreifen können – sei es die leibliche Gegenwart Christi im Abendmahl, sei es die leibliche Auf­erstehung der Toten, sei es die Frage, warum Gott dem Teufel immer noch einen gewissen Spielraum lässst. Ja, man kann sagen: Bei allen Lehren der Heiligen Schrift stoßen wir früher oder später an den Punkt, wo unsere Logik versagt. Gottes Weisheit ist sogar an solchen Stellen un­begreiflich, wo sie uns ganz einfach und selbst­verständlich erscheint. Wir finden es zum Beispiel ganz selbst­verständ­lich, dass Gott uns lieb hat und uns die Schuld vergibt. Aber wenn wir mal gründlich darüber nachdenken, dann müssen wir auch darüber staunen: Wie kann das nur angehen, dass Gott mich so lieb hat? Mich armen, elenden, sündigen Menschen, der ich ihn so oft enttäuscht habe, beleidigt und verletzt? Und für so einen Lumpen hat Gott seinen geliebten Sohn in den Tod gegeben! Un­begreifliche Weisheit des Kreuzes! Auch hier können wir letztlich nur staunend ausrufen: „Oh!“

Gottes Weisheit, die er uns in der Bibel offenbart hat, ist immer un­begreiflich für den mensch­lichen Verstand. Für manchen ist diese Erkenntnis so un­befriedi­gend, dass er sich von Gottes Wort abwendet. Und mancher Christ plagt und müht sich, doch noch den tieferen Sinn dahinter zu verstehen – vergeblich. Dabei braucht uns diese Erkenntnis überhaupt nicht zu be­unruhigen. Wir brauchen nur ein bisschen Demut, um das zu akzep­tieren. Wir brauchen nur den mensch­lichen Verstand richtig ein­zuschätzen, dürfen ihn nicht über­schätzen. Das können uns die kleinen Kinder lehren – besonders, wenn sie im Fragealter sind und eine endlose Kette von Warums auf der Zunge haben.

Da nimmt zum Beispiel ein Landwirt seinen kleinen Sohn mit aufs Feld zum Pflügen. Der fragt: „Warum pflügst du das Feld?“ – „Damit der Boden auf­gelockert wird.“ – „Warum muss denn der Boden auf­gelockert werden?“ – „Damit das Getreide später gut wachsen kann.“ – „Warum soll das Getreide wachsen?“ – „Damit man Mehl und Brot daraus machen kann.“ – „Warum macht man Mehl und Brot daraus?“ – „Damit wir was zu essen haben.“ – „Warum müssen wir denn essen?“ – „Damit wir leben können und kräftig werden.“ – „Warum müssen wir kräftig werden?“ – „Damit wir unsere Arbeit tun können.“ – „Damit du pflügen kannst?“ – „Ja, auch damit ich pflügen kann.“ – „Und warum pflügst du das Feld?“

Spätestens hier ist die Geduld des Vaters zuende; hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Man kann nicht alles hinterfragen, man kann nicht allem mit „Warum?“ auf den Grund gehen. Das liegt daran, weil unser Verstand nur in überschaubaren Bereichen funktio­niert. Unser Verstand denkt immer eine Kette von Ursachen und Wirkungen: Wenn der Boden gut gepflügt ist, wächst das Getreide. Wenn das Getreide wächst, habe ich was zu essen. Wenn ich was zu essen habe, kriege ich Kräfte. Wenn … dann …, so denken wir immer, so funktio­niert unsere Logik. Aber wir kommen mit unseren Gedanken nicht aus solchen Wenn-dann-Ketten heraus. Wir kommen mit unserem Denken nie zum Anfang, zum Ursprung. Wir können uns keine Ursache vorstellen, die nicht ihrerseits Folge einer anderen Ursache ist. Wir kommen mit unserem Denken nicht heraus aus unserer Welt, aus unseren Vor­stellungen, aus Raum und Zeit. Und wenn wir nicht hoffnungs­lose Grübler und Tagträumer werden wollen, dann müssen wir an bestimmten Punkten einfach sagen: „So ist es eben, und damit basta. Hier denke ich nicht weiter, weil man hier nicht denken kann. Ich geh einfach davon aus, dass es so ist, etwa, dass man leben, essen und stark werden soll. Das hinterfrage ich nicht.“

Liebe Gemeinde, jetzt sehen wir, warum Gottes Weisheit für uns un­verständlich bleiben muss. Denn Gottes Weisheit kommt nicht aus der Welt, in der wir leben, sondern sie kommt von außen zu uns, aus seinem ewigen Himmel­reich. Da reichen unsere Gedanken nicht hin, da können wir nichts mit dem Verstand nachprüfen, da können wir nur blind glauben. Kein Mensch hat je in einer himmlischen Rats­versammlung gesessen, wo der dreieinige Gott mit all den Engeln seine Wege und Ent­scheidungen beschließt. „Wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“, zitiert Paulus aus dem Alten Testament. Gott ist auch nicht ein Glied in einer nach­vollzieh­baren Wenn-dann-Kette. Gott lässt sich nicht in das Schema von Ursache und Wirkung pressen, das unserem Denken zugrunde liegt. „Wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste?“, fragt Paulus noch einmal mit dem Alten Testament. Gott ist vielmehr der Ursprung aller Dinge, die absolut erste Ursache, die deshalb nicht Wirkung von etwas anderem sein kann. Zugleich aber ist er Ende und Ziel aller Dinge, ohne dass noch etwas hintendran folgt. Und alles, was dazwischen liegt, geschieht nicht ohne seinen Willen. „Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.“ Logisch, dass seine Weisheit nicht logisch ist, nicht dem mensch­lichen Denken ver­ständlich! Unser Ursache-Wirkung-Denken ist an Raum und Zeit gebunden, Gott ist das nicht. In der Ewigkeit gibt es keine logische Abfolge von Ereig­nissen, weil es keine Zeit gibt, in der etwas aufeinander folgen könnte. Da kann man wirklich nur staunen: „Oh!“

Und nichts anderes tun die Theologen, wenn sie sich mit Gottes Wort be­schäftigen. Jedenfalls sollten sie nichts anderes tun. Ihre Aufgabe ist es nicht, aus den vielen un­begreif­lichen Aussagen der Bibel ein logisches System zu basteln. Das kann nur schief­gehen. Ihre Aufgabe ist es schlicht und einfach, Gottes un­begreifliche Offenbarung nach­zusprechen, nach­zubuchsta­bieren, wie ein ABC-Schütze seine Fibel durch­buchsta­biert. Und das gilt nicht nur für Theologen, sondern das gilt für alle Christen: Wir wollen Gottes Offenbarung einfach hören, glauben und darüber staunen! Wir wollen es kindlich annehmen und empfangen, was wir da gesagt bekommen, und nicht unseren kritischen Verstand walten lassen. So wichtig der in vielen Lebenslagen ist, hier ist er fehl am Platz.

Liebe Gemeinde, wir haben erkannt, dass Gottes Weisheit un­begreiflich ist, dass seine Wege und Ent­scheidungen vom mensch­lichen Verstand nicht nach­vollzogen werden können. Was folgt daraus für unser Christen­leben? Drei Dinge folgen daraus. Erstens: Diese Erkenntnis stellt uns an den richtigen Platz als Geschöpfe Gottes. Sie macht uns demütig, und Demut allein ist die angemessene Haltung des Geschöpfs seinem Schöpfer gegenüber. Wir Menschen sind eben nicht Gottes Ratgeber, sondern vielmehr Gottes Rats­empfänger. Zweitens: Diese Erkenntnis lehrt uns, dass wir es hier wirklich mit Gottes Offenbarung zu tun haben, nicht mit mensch­lichen Gedanken. Wenn sich Menschen die Bibel ausgedacht hätten, dann würden ihre Aussagen dem mensch­lichen Verstand wesentlich mehr entgegen­kommen. Aber gerade die Spitzen­aussage der Heiligen Schrift, das Kreuz Christi, ist dem natürlichen Menschen eine Torheit. Wir aber erkennen gerade daran, dass es von Gott kommt, dass es seine Weisheit ist, seine un­begreifliche Weisheit. Drittens: Diese Erkenntnis bringt uns zum Loben. Das Staunen über Gottes Weisheit geht immer in den Lobpreis über. Auch die Dogmen der kirchlichen Lehre sind letztlich nichts anderes als Lobpreis. Sie wollen nicht spitzfindig Gottes Wort in ein mensch­liches Denkschema pressen, sondern Gottes Offenbarung staunend nach­sprechen. So wird aus der Dogmatik die Doxologie, aus der Lehre der Lobpreis. Auch wir wollen daher mit Paulus staunen: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!“ Und wir wollen mit Paulus loben: „Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1992.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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