Gottes vorletztes und Gottes letztes Wort

Predigt über 2. Korinther 3,6‑11 zum 20. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Es gibt Worte in der Bibel, mit denen tun wir Lutheraner uns schwer. Es sind Worte, die scheinen nicht zum Evangelium zu passen. Zum Beispiel das, was Gott durch Mose den Israeliten sagen ließ: „Wer meine Gebote und Satzungen tut, der wird leben“ (3. Mose 18,5). Kennen wir das nicht anders? „Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden“ (Markus 16,16), und das bedeutet doch: der wird leben, ewig leben! „Ohne des Gesetzes Werke“, können wir mit Paulus noch ergänzen (Römer 3,28). Und dann diese ganz anderen Bibel­stellen: Wer alles tut, was Gott befiehlt, wird leben. Das klingt doch wie ein offener Wider­spruch: Einmal verheißt Gottes Wort Leben und Seligkeit denen, die ohne Tadel nach seinen Geboten leben, und dann wieder den Sündern, die bei Jesus Christus Zuflucht suchen im Glauben. Was stimmt denn nun? Was können, was sollen wir glauben? Worauf können wir uns verlassen? Verstehen können wir beides nur, wenn wir wissen: Es gibt ein vorletztes und ein letztes Wort Gottes. Es gibt einen alten und einen neuen Bund. Es gibt das Gesetz und das Evangelium. Nur wenn wir beides zusammen sehen, in der richtigen Zuordnung zueinander, können wir Gottes Wort recht begreifen.

Unser Abschnitt aus dem 2. Ko­rinther­brief hilft uns dabei. Da ist einerseits die Rede von dem Amt, das mit Buchstaben in Stein gehauen war. Es ist der alte Bund, den Gott mit dem Volk Israel am Berg Sinai schloss. Es ist der Bund des Gesetzes. Die in Stein gehauenen Buchstaben der Zehn Gebote auf den Gesetzes­tafeln sind das Kennzeichen dieses Gesetzes­bundes. Da gilt buch­stäblich: Wer das Gesetz tut (also wer so lebt, wie Gott es fordert), der wird leben. Wer aber nicht die Gebote hält, den wird Gott bestafen, ja, der muss schließlich sogar ausgerottet werden aus Gottes Volk und Land. „Gott wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen miss­braucht“, heißt es zum Beispiel im 2. Gebot (2. Mose 20,7).

Dieses Gesetz und dieser ganze alte Gesetzes­bund hatten eine große Herrlich­keit. Die Weisheit der Zehn Gebote wirkt sich bis heute in vielen Völkern und Gesell­schaften aus. Die Herrlich­keit der Zehn Gebote wird auch von vielen Nicht­christen und Nichtjuden anerkannt. Es war ein großer und feierlicher Moment, als Mose mit den Gesetzes­tafeln vom Berg Sinai herabkam und Gottes Bund zu den Israeliten brachte – zum zweitenmal übrigens, denn das erstemal hatte er die Tafeln am Fuß des Berges zer­schmettert aus Zorn über das Volk, das vom Herrn abgefallen war und sich einen Götzen gemacht hatte. Aber als der Bund wieder­hergestellt war und Mose erneut mit den heiligen Tafeln ins Lager der Israeliten trat, da leuchtete sein Gesicht, da „glänzte“ es, so heißt es in der Bibel. Es leuchtete so stark, dass die Israeliten diese Herrlich­keit nicht ertragen konnten und Mose mit einem Tuch den Kopf verhüllten. Ja, der alte Bund hatte eine große Herrlich­keit.

Und doch brachte das Gesetz den Menschen letztlich Elend und Tod. Der in Stein gehauene Buchstabe tötete sie. Und wenn das Gottes letztes Wort gewesen wäre, so würde der Gesetzes­buchstabe auch uns töten. Wie heißt es doch gleich im alten Bund: „Wer das Gesetz tut, der wird leben.“ Tun wir es denn? Ganz so, wie Gott es gemeint hat? Geben uns denn die Gebote auch die Kraft, das zu tun, was sie fordern? Nein. Das merken wir schon an den Kindern: Die Zehn Gebote lernen, das können sie, auch wenn sie es nicht immer gern tun; das klappt einiger­maßen mit dem Auswendig­lernen. Die Zehn Gebote dann aber auch halten, wirklich ganz und gar – die Eltern ehren, nicht falsch Zeugnis reden und so weiter – ‚ das schaffen sie nicht. Genauso­wenig wie wir Er­wachsenen. Nach dem alten Bund, nach dem Buchstaben des Gesetzes, haben wir den Tod verdient, trotz aller Herrlich­keit des Gesetzes.

Nun ist das Gesetz aber nur Gottes vorletztes Wort, und wir kennen auch sein letztes Wort. Das ist sein Evangelium. Das ist seine frohe Botschaft, nicht mit Buchstaben in Stein gehauen, sondern durch den Heiligen Geist in lebendige Menschen­herzen ge­schrieben. Diesem neuen Bund dienen wir, schreibt Paulus – dem neuen Bund nämlich, den Jesus mit seinem Blut gestiftet hat. Er hat es im Altar­sakrament für immer mit dem Wein verbunden unter den Worten: „Das ist mein Blut des neuen Testaments (also des neuen Bundes), für euch vergossen zur Vergebung der Sünden.“

Nicht, dass Gottes vorletztes Wort, der alte Bund, nun für ungültig erklärt würde. Nein, Jesus hat ihn vielmehr erfüllt, hat ihn zur Vollendung gebracht: Jesus hat an unserer Statt all das Gute getan, was der alte Bund von uns forderte und was wir nicht schafften. Und Jesus hat mit seinem Leiden und Sterben all das Böse erlitten, was wir an Strafe mit unserem Ungehorsam gegen die Gebote verdient hatten. Jesus hat an unserer Statt Gottes alten Bund erfüllt und so den neuen auf­gerichtet: Gottes Gnadenbund. Der beinhaltet, dass alle Sünder, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Dieser neue Bund hat daher unendlich viel größere Herrlich­keit als der alte: die Herrlich­keit des auf­erstandenen Christus, die Herrlich­keit des gerecht gemachten Sünders, die Herrlich­keit des ewigen Lebens bei Gott. So ist dieser neue Bund das Wichtigste und Ent­scheidene – für uns ebenso wie für Paulus. Natürlich haben auch die Gebote noch eine Bedeutung für uns: Sie sind „Zucht­meister auf Christus hin“, wie Paulus an anderer Stelle geschrieben hat (Gal. 3,24). Sie lassen uns vor unserer Sünde und vor Gottes Zorn er­schrecken; sie treiben uns so in die Arme des Herrn Jesus Christus, wo wir Rettung finden. Aber das Leben haben wir nur aus dem Evangelium. Und ebenfalls nur dort erhalten wir die Kraft und die Fähigkeit, von Herzen das zu wollen und zu tun, was Gott gefällt.

Alter und neuer Bund, Gesetz und Evangelium, das sind nun aber nicht nur Verstehens­hilfen von Gottes Wort. Wenn wir es recht annehmen, dann wird die Unter­scheidung von Gottes vorletztem und Gottes letztem Wort unser ganzes Leben prägen. Paulus hat es vom Ver­kündigungs­dienst der Apostel so bezeugt: „Wir sind nicht Diener des Buch­stabens, sondern des Geistes.“ Lasst mich darum zum Schluss drei Beispiele nennen, wie sich die größere Herrlich­keit des Evangeliums in unserem Leben zeigen kann: erstens im Blick auf uns selbst, zweitens im Blick auf unsere Mit­christen, drittens im Blick auf andere Mit­menschen.

Wenn du auf dich selbst blickst, kommt in dir dann nicht auch immer wieder die Frage auf: Was für ein Christ bin ich eigentlich? Müsste ich nicht ganz anders sein? Ist mein Christen­leben nicht Krampf? Nehmen wir zum Beispiel mal das Vaterunser, das Herren­gebet, das Jesus selbst uns gelehrt hat. Du betest es oft, hoffentlich täglich. Aber immer wieder gleiten deine Gedanken ab. „Vater unser“ sagen deine Lippen, aber dein Herz denkt ganz etwas anderes. Deine Gedanken stecken irgendwo im grauen Alltag drin. „Vater unser“ sagen deine Lippen, aber in Wahrheit bist du in diesem Moment deinem himmlischen Vater ziemlich fern. Was tun? Natürlich kannst du dir jetzt das Gesetz sagen: „Der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen miss­braucht“ – auch den nicht, der gedankenlos das Vaterunser plappert. Dieses Gebot ist ja Gottes Ernst und gilt; du wirst also erschrecken und dich vor Gottes Zorn fürchten. Aber daraus kommt nie und nimmer die Kraft, dass es besser wird. Der Buchstabe des Gesetzes tötet nur. Du kannst dich aber von diesem Gesetz und durch dieses Erschrecken in die Arme Christi treiben lassen. „Herr, erbarme dich“, kannst du rufen, wenn du dich beim gedanken­losen Vaterunser ertappt hast. Ja, Christus hat auch dafür geblutet. So sehr liebt dich Gott. Und er lässt dich nicht fallen, auch wenn du ihn enttäuscht hast. So tröstet dich der Geist mit dem Evangelium. Du wirst froh, gewinnst neue Zuversicht und lernst dann auch wieder neu beten: „Vater unser im Himmel!“ – Mein lieber, lieber Vater! Du meinst es ja so gut mit mir!

Oder das zweite Beispiel, wie wir mit Mitchristen umgehen. Die Bibel lehrt uns, dass wir nicht nur nett und freundlich miteinander sein sollen, dazu hilfsbereit und ehr­erbietig. Nein, wir sollen auch geistlich miteinander umgehen, einander ermahmen und trösten, so steht es wörtlich in der Schrift. Wie macht man das? Wie macht man das zum Beispiel dann, wenn sich jemand vom Gemeinde­leben zurück­gezogen hat? Du kannst es mit dem Buchstaben des Gesetzes probieren, der hat seine Herrlich­keit: „Du sollst den Feiertag heiligen!“ – Also los, alter Freund, nun heilige mal den Feiertag, kannst dich ruhig mal wieder im Gottes­dienst sehen lassen! Aber wir werden damit wahr­scheinlich wenig erreichen; das Gesetz tötet. Darum ist es gut, sich auf die größere Herrlich­keit des Evangeliums zu besinnen. Lasst uns lockend einladen und sagen: Sieh, der Herr Jesus Christus hat dich sehr lieb; und du hast ihn doch auch lieb, oder? Er möchte dir etwas schenken, das so wertvoll ist wie nichts auf dieser Welt, was du nirgends sonst bekommst. Darum lädt er dich zu seinem Fest ein, in seinen Gottes­dienst. Da will er zu dir reden von Liebe und Trost. Da will er sich mit dir vereinigen im Heiligen Abendmahl. Wenn Christus selbst dich so einlädt, warum solltest du dann seine Einladung immer wieder aus­schlagen? Wenn du so mit einem anderen Gemeinde­glied redest und es nicht schon geistlich ganz abgestumpft ist, dann werden diese Worte nicht in den Wind geredet sein.

Oder das dritte Beispiel: Wenn du einem Außen­stehenden Zeugnis gibst von deinem Glauben, dann kannst du natürlich von der Herrlich­keit des Gesetzes reden, wie weise die Zehn Gebote sind und wie nötig die Menschen einen moralischen Halt brauchen. Der Kern des Glaubens aber liegt doch ganz woanders, nämlich im Evangelium mit seiner größeren Herrlich­keit: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen ein­geborenen Sohn gab…“ (Joh. 3,16). An den glaube ich, kannst du bezeugen, und darum brauche ich mich vor dem Tod nicht zu fürchten und vor dem Leben auch nicht. Denn er hat alles für mich ins Reine gebracht. Durch ihn gehöre ich zu Gott. Und wenn Gott auf meiner Seite steht, was soll mich da noch schrecken?

Das waren nur ein paar Beispiele, liebe Gemeinde. Eines aber, so hoffe ich, ist in jedem Fall für unser Leben wieder deutlich geworden: Wir tun gut daran, uns an Gottes letztes Wort zu halten, an das Evangelium von Jesus Christus, das gerecht macht und lebendig zum ewigen Leben. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1990.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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