Auf Gutes bedacht sein gegenüber jedermann

Predigt über Römer 12,17‑21 zum 4. Sonntag nach Trinitatis

Meine Lieben!

Ja, so möchte ich heute einmal zu euch sagen. Ich nehme damit die Anrede auf, mit der Paulus die Leser des Römerbriefs anredete. Aber eigentlich ist es nicht des Paulus Anrede und auch nicht meine Anrede, sondern der Herr Jesus Christus selbst sagt zu uns durch sein Wort: „Meine Lieben!“

Meine Lieben, ich möchte mit euch am Anfang einen Test machen. Ich möchte euch einige Fragen vorlegen, die jeder für sich mit ja oder nein beantworten kann. Hier sind die Fragen: Gibt es einen Menschen, der dir Böses angetan hat? Gibt es einen Menschen, mit dem du in Streit lebst? Gibt es einen, der dich so schlecht behandelt hat, dass du denkst: Das werde ich ihm heimzahlen? Oder einen, von dem du sagst: Der kommt mir nicht mehr unter die Augen, den lasse ich nicht mehr in mein Haus? Einen, mit dem du nicht mehr redest? Einen, von dem du erwartest, dass er erstmal kommen und sich bei dir ent­schuldigen muss? Vielleicht sogar einen Mit­christen, mit dem du nicht zusammen zum Abendmahl gehen könntest?

Wenn du auch nur eine dieser Fragen mit ja beantwortet hast, dann ist dieses Gotteswort aus dem Römerbrief gerade etwas für dich. Wenn du auch nur eine Frage mit ja beantwortet hast, dann hast du hier einen guten Rat von deinem Herrn: „Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Wie ist das gemeint? Genauso, wie es dasteht: „Vergeltet niemand Böses mit Bösen“, und: „Rächt euch nicht selbst.“ Jemandem etwas heimzahlen, das ist nicht unsere Aufgabe, das steht uns nicht zu. Gottes Sache ist es, Sünde zu strafen, nicht der Menschen Sache. Paulus schreibt: „Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht ge­schrieben: ‚Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.‘“ Überlege mal: Ist es deine Aufgabe, deinen Nachbarn jeden Tag die Post vorbei­zubringen? Nein, wirst du sagen, dafür gibt es doch Brief­träger. Richtig. Ebensowenig ist es deine Aufgabe, deinen Mitmenschen ihre Schlechtig­keit heim­zuzahlen; das kannst du getrost Gott überlassen, der kann das nämlich gerechter als du.

Sich selbst nicht rächen, das ist der eine gute Rat, den wir hier bekommen. Der andere lautet: „Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“ Jedermann – also auch gegenüber denen, die dir Böses angetan haben oder die du aus irgend einem anderen Grund nicht leiden kannst. Auch das ist so gemeint, wie es dasteht. Überlege dir, wie du ihm etwas Gutes tun kannst. Stell dir vor, er sei dein Freund. Nimm den Gesprächs­faden wieder auf, ruf ihn einfach mal an. Oder wenn dir das zu schwer fällt, schreibe ihm einen Brief. Oder mach ihm ein nettes kleines Geschenk, einfach so, obwohl er gar nicht Geburtstag hat. Lade ihn ein, bewirte ihn gut. Und wenn er an irgendetwas Mangel hat, wenn er in irgendeiner Notlage steckt, dann hilf ihm. Borge ihm, schenke ihm, was er braucht.

Diesen Rat hat schon der weise König Salomo gegeben, diesen Rat gibt der Apostel Paulus im Römerbrief weiter, dieser Rat kommt von Gott selbst: „Wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.“ Ja, wenn du deinem Feind Gutes tust, dann sammelst du feurige Kohlen der Beschämung auf sein Haupt. Dann wird er sich wundern, dass du ihn immer noch lieb hast, obwohl soviel zwischen euch steht. Das wird ihm peinlich sein, und vielleicht wird ihn das dahin bringen, dass auch er seine Feindschaft dir gegenüber aufgibt. Vielleicht wird er dann seinerseits Frieden mit dir suchen. Auf jeden Fall solltest du es aus­probieren. Wie schreibt Paulus? „Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden.“

Möglicher­weise denkst du jetzt: Das ist ja alles gut und schön. Aber in meinem Fall liegt die Sache anders. Mir hat einer so ent­setzliches Unrecht getan, dass ich nicht freundlich auf ihn zugehen kann. Ich kann einfach nicht über meinen Schatten springen. Ich weiß, als Christ müsste ich ihm vergeben und freundlich zu ihm sein, aber das geht einfach nicht. Es sperrt sich in mir alles dagegen, ich kann ihm einfach nicht mehr normal begegnen. Liebe Gemeinde, solche Worte habe ich in seelsorger­lichen Gesprächen schon manches Mal gehört; ich weiß, dass es einigen so geht, dass einige sagen: Ich kann einfach nicht. Und ich nehme das diesen Menschen ab. Sie können ihrem Feind wirklich nicht vergeben und ihm Gutes tun. Das ist ganz normal und menschlich. Wohl kaum jemand hat die Kraft und die innere Größe, um an diesem Punkt über den eigenen Schatten zu springen. Nein, wir können es wirklich nicht. Möglicherweise steckst du also in einer Zwickmühle: Du hörst aus Gottes Wort, dass du keine üblen Gedanken deinem Feind gegenüber haben sollst, sondern dass du ihn annehmen sollst wie einen Freund. Du siehst auch ein, dass das richtig wäre, dass man sich als Christ so verhalten müsste. Und doch: Du schaffst es nicht. Was tun?

Ich möchte an dieser Stelle an den Anfang der Predigt erinnern, an die ersten zwei Wörter. Weißt du noch, wie sie hießen? „Meine Lieben“ – so habe ich die Predigt begonnen. Diese Wörter stammen aus unserem Predigt­text. Und sie stehen da an ent­scheidender Stelle: „Rächt euch nicht selbst, meine Lieben.“ Das heißt, eigentlich steht da im Urtext nur ein Wort: „Geliebte“. Paulus erinnert genau an dieser Stelle seine Leser daran, dass sie von Gott Geliebte sind. Paulus erinnert sie daran, wie Gott mit ihnen umgeht: Er vergilt ihnen nicht im Zorn die Sünden, rächt sich nicht an ihnen, bricht nicht alle Brücken zu ihnen ab, sondern hat sie trotz aller Schuld und Sünde immer noch lieb. Ja, er hat sich in Liebe aufgeopfert für sie durch seinen Sohn Jesus Christus. „So sehr hat Gott die Welt geliebt…“ „Geliebte“, so redet Gott auch uns an, dich und mich. Ich hab dich doch lieb, sagt Gott, obwohl du schon so oft von mir weggelaufen bist. Du machst mir viel Kummer, dienst anderen Göttern, vergisst mich, ver­nach­lässigst mich, setzt dich über meine Gebote hinweg. Aber ich habe dich lieb, ich will dich bei mir haben, ich vergebe dir und schenke dir ewiges Leben. Ja, meine Lieben, so geht Gott mit seinen Feinden um! Wenn wir uns das vor Augen führen, dann können wir nicht mehr anders, als auch unserer­seits die Feinde lieben und uns nicht rächen.

Aber steht da nicht auch: „Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr“? Richtig. Und doch können wir auch in diesem Satz lauter Liebe lesen, wenn wir ihn mit Jesus Christus auf­schließen. Gott rächt alle Sünden, auch unsere Sünden. Gott vergilt alle Missetaten, auch unsere Missetaten. Gott muss es tun, denn er ist gerecht. Aber Gottes Rache und Gottes Vergeltung treffen nicht uns, die wir es verdient haben, sondern seinen eigenen Sohn, den un­schuldigen Jesus Christus. Der trägt Gottes Rache und Vergeltung für die Sünden aller anderen Menschen. Und nur, wer nicht glaubt und dieses stell­vertretende Opfer ausschlägt, wird Gottes Rache und Vergeltung am eigenen Leib erfahren müssen, wenn Gottes großer Gerichtstag kommt.

Ja, ein Geliebter Gottes bist du durch Jesus Christus. Jesus hat deine Bosheit mit Gutem vergolten und dich mit dem Vater versöhnt. Wenn wir das glauben, dann können wir selbst nicht mehr anderen Böses mit Bösem vergelten. Dann tut Gott durch den Heiligen Geist in uns das, was wir aus eigenen, natürlichen Kräften nicht schaffen: unseren Feinden vergeben und ihnen Gutes tun. Dann ist es auf einmal ganz schön und leicht, gegenüber jedermann auf Gutes bedacht zu sein; wirklich jedermann.

Ich könte hier die Predigt ab­schließen, denn das Ent­scheidende ist gesagt. Ich möchte aber noch einen Nach­gedanken anfügen, der auch wichtig ist. Es könnte jetzt nämlich jemand einwenden: Wenn alle so handeln würden, wenn alle nur immer Böses mit Gutem vergelten würden, dann würde es auf der Welt ganz schön bunt zugehen. Dann würden wohl die Kinder ihren Eltern auf der Nase herum­tanzen, und die Verbrecher würden alle anständigen Menschen tyranni­sieren. Das stimmt. Es ist Schwärmerei zu glauben, man könnte die Welt mit dem Evangelium regieren und damit rechnen, dass alle sich gemäß der Liebe Gottes verhalten. Gott selbst weiß natürlich ganz genau, dass das nicht geht. Und darum hat er sich auf Erden Ordnungen geschaffen, durch die er selbst das Böse straft – „Ich will vergelten, spricht der Herr.“ Er hat zum Beispiel den Elternstand geschaffen und durch das 4. Gebot geschützt. Eltern dürfen und müssen ihre Kinder strafen, wenn sie Böses tun. Eltern sollen das freilich nicht im Jähzorn machen, um sich selbst Genugtuung zu ver­schaffen. Sie sollen es in dem Bewusstsein tun, dass sie hier ihrem göttlichen Erziehungs­auftrag nachkommen. Ebenso hat Gott Regierungen eingesetzt, Obrig­keiten, die unter den Völkern für Recht und Ordnung sorgen sollen. Auch dies geht nur, wenn das Böse gestraft wird. Es ist kein Zufall, dass Paulus gleich im nächsten Absatz dieses Thema an­schneidet: „Die Origkeit ist Gottes Dienerin“, schreibt er. „Sie trägt das Schwert nicht umsonst; sie vollzieht das Straf­gericht an dem, der Böses tut.“ Auch hier darf es nicht um die persönliche Vergeltung eines Königs, eines Richters oder eines Polizisten gehen, sondern es geht um Gottes Auftrag, das Böse in der Welt in Schranken zu halten und auf diese Weise ein Mindestmaß an äußerer Ordnung zu wahren.

Dies alles fasst man in der luthe­rischen Kirche mit dem Begriff der Zwei-Reiche-Lehre zusammen. Wir Christen leben in zwei Reichen: im Reich zur Linken – das ist das Reich dieser Welt – ‚ und im Reich zur Rechten – das ist das Himmel­reich. Im Reich zur Linken herrscht das Gesetz, um die äußere Ordnung zu wahren. Da hat Gott Eltern, Obrigkeiten und andere Herren eingesetzt, um das Gute zu lohnen und das Böse zu strafen. Im Reich zur Rechten aber herrscht das Evangelium, da herrscht die Vergebung. Da wird nach dem Vorbild Jesu Böses nur mit Gutem vergolten, da wird Sünde nicht zu­gerechnet. So sollen wir Christen miteinander umgehen, und so sollen wir mit jedermann umgehen, wenn wir einfach als Mitmenschen mit ihm zu tun haben. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1990.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum