Der alte und der neue Adam

Predigt über Römer 5,18‑19 zum 3. Advent

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Habt ihr früher gern mit Domino-Steinen gespielt? Tut ihr es vielleicht immer noch gern? Mir jedenfalls geht es so. Ich meine nicht das Ge­sellschafts­spiel Domino, wo Zahlen­ketten gebildet werden müssen, sondern ich meine dieses Spiel: Die Domino-Steine werden hinter­einander auf­gestellt, am besten in Schlangen­linien und mit Kreuzungs­punkten. Wenn man den ersten Stein anstößt, fällt einer nach dem andern um, bis die ganze Reihe auf dem Tisch liegt.

So wie dieses simple Spiel ist vieles im Leben: eine Kette von Ursachen und Wirkungen. Oft sind die Wirkungen allerdings kaum abzusehen; man merkt gar nicht, was für eine Lawine man mit seinem Verhalten ins Rollen bringt. Im Bereich der Umwelt kann man sehr verhängnis­volle Ketten von Ursachen und Wirkungen fest­stellen, zum Beispiel diese: Beim Verbrennen von Mineralöl oder Kohle wird Kohlen­dioxid frei­gesetzt, das vorher unter­irdisch gebunden zwar. Das Kohlen­dioxid ist zwar licht­durchläs­sig, aber nicht wärme­durchläs­sig. In der Atmosphäre bildet das Kohlen­dioxid eine Schicht ähnlich einer Glasglocke, die die Sonnen­strahlen zwar hindurch­lässt, die von der Erde auf­steigende Wärme jedoch nicht. Wie in einem Treibhaus heizt sich die Atmosphäre auf, und das Weltklima verändert sich. Die teilweise verheerenden Folgen sind bekannt.

Noch un­angenehmer ist jedoch eine andere Kette von Ursachen und Wirkungen. Am Anfang dieser Kette steht der alte Adam, der Stammvater des Menschen­geschlechts. Er und seine Frau waren die ersten Menschen, die ihrem Schöpfer den Gehorsam auf­kündigten. Ihre Über­tretung, das Essen der verbotenen Frucht, mag uns heute harmlos erscheinen, tatsächlich aber erfolgte hier eine Weichen­stellung, die die ganze nach­folgende Welt­geschichte prägte. Das Vertrauens­verhältnis zu Gott war zerbrochen; Gottes Heiligkeit, Gottes Gerechtig­keit, Gottes Zorn waren heraus­gefordert. Wie ein kleines Stück Hefe den ganzen Teig verändert, so hat Adams Ursünde die ganze Menschheit vergiftet. Aus Neugier wurde Begehren, aus Begehren Ungehorsam, aus Ungehorsam Sünde, aus Sünde Scham, aus Scham Angst, aus Angst Misstrauen, aus dem gebrochenen Vertrauens­verhältnis Strafe, aus der Strafe Verdammnis und Tod. Durch des Einen Sünde ist diese Verdammnis über alle Menschen gekommen, schreibt Paulus, und: Durch den Ungehorsam des Einen sind die Vielen zu Sündern geworden. In der Tat, das ist eine verheerende Kette von Ursachen und Wirkungen mit einem kata­strophalen Ende: Gottesferne und Tod für alle, für immer! Das ist unsere wahre Erblast, die wir zu tragen haben, nicht die Verbrechen des Dritten Reiches, denn die Nazi-Verbrechen sind nur eine besonders brutale Er­scheinungs­form der Sünde, die mit Adam begann und die in uns allen drin steckt, in Adams Kindern. Das ist die Erbsünde und Erbschuld, mit der wir belastet sind, ob wir wollen oder nicht.

Wenn nun eine Kette von Ursachen und Wirkungen so verheerende Folgen hat, was kann man dagegen tun? Was gibt es für Auswege? Viele Menschen suchen Schein-Auswege: sie leugnen die Folgen, sie ver­harmlosen sie, sie arbeiten dagegen an, oder sie resig­nieren. Wir wollen uns das einmal anhand des Umwelt-Beispiels betrachten, also mit dem Klima­wandel: Der eine leugnet die schlimmen Folgen und hält all das Umwelt-Gerede für eine Mode­erscheinung unserer Zeit. Der zweite verharmlost die schlimmen Folgen und denkt sich: Die Erde ist groß, die Lufthülle ist dick, was kann da schon so ein bisschen Kohlen­dioxid schaden? Der dritte arbeitet dagegen an; er setzt sich leiden­schaftlich dafür ein, dass weniger fossiles Kohlen­dioxid in die Luft gepustet wird. Dieser Ausweg erscheint wirklich aus­sichts­reich: Es ist in der Tat emp­fehlens­wert, die ent­sprechenden Ver­brennungs­prozesse zu reduzieren. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der Klimawandel bereits begonnen hat und nicht mehr aufzuhalten ist. Selbst wenn von heute auf morgen nur noch umwelt­freundlich Energie umgesetzt würde: Es ist fünf nach zwölf; die Erwärmung der Erde ist nicht mehr auf­zuhalten. So ist es ver­ständlich, wenn der vierte resigniert und sagt: Es hat ja doch keinen Zweck mehr, die Umwelt ist nicht mehr zu retten, also lasst uns als Menschheit mit Anstand zugrunde gehen. Der Wissen­schafts-Journalist Hoimar von Ditfurth entfaltete diese Meinung in seinem Buch: „So lasst uns denn ein Apfel­bäumchen pflanzen – es ist soweit“.

Genau dieselben Auswege wählen viele Menschen im Blick auf das größere Übel der Sünde. Der erste leugnet, dass es so etwas überhaupt gibt, und meint, jeder müsse selbst ent­scheiden, was für ihn gut und richtig ist. Auch die unseligen Folgen des Ungehorsams gegen Gott werden geleugnet – bis hin zum Tod, der Sünde Sold. Wie oft regiert an Sterbe­betten die Lüge: „Es wird schon wieder werden“ – so, als ließe sich der Tod beliebig ver­schieben. Der zweite verharmlost die Sünde und meint, der Mensch sei von Geburt an gut und entwickele nur im Laufe der Zeit ein paar schlechte An­gewohnheiten – Schönheits­fehler, die leicht wieder auszubügeln sind. Dem Wort „Sünde“ wird der Ernst genommen, die sexuelle Sünde bekommt einen angenehmen erotischen Reiz, der Verkehrs­sünder hat oft kein schlechtes Gewissen mehr, und über­gewichtige Menschen erklären an der Kaffeetafel verlegen lächelnd, dass sie heute mal wieder „sündigen“. Der dritte versucht, gegen seine Sünde an­zuarbeiten. Wieder ist das nicht verkehrt; verkehrt ist es jedoch zu meinen, dass man die unseligen Folgen damit aufheben kann. Luther hat als Mönch mit allem Ernst versucht, die Sünde durch eigene Willens­kraft zu brechen. Am Ende musste er betrübt fest­stellen: „Ich fiel auch immer tiefer drein, / es war kein Guts am Leben mein, / die Sünd hatt' mich besessen.“ Der vierte schließlich resigniert: Ihm ist es egal, ob er sündigt oder nicht, und den Tod nimmt er achsel­zuckend als Schicksal in Kauf; es interes­siert ihn nicht, was danach kommt.

Leugnen, ver­harmlosen, dagegen anarbeiten, resignieren – das sind die Schein-Auswege aus so mancher Kette von Ursachen und schlimmen Folgen, ein­schließlich der schlimmsten Kette, der Sünden­verderbnis von Adam her. Aber nun gibt es einen echten Ausweg. Es ist Gottes Ausweg. Er ist nicht die Folge von irgendetwas anderem, sondern er ist etwas ganz Neues. Er ist ein Einschnitt in die Welt­geschichte, der hin­sichtlich seiner Tragweite nur mit Adams Sündenfall verglichen werden kann. Gottes Ausweg heißt Jesus Christus. Jesus Christus kam, um die Kette von Ungehorsam, Sünde und Verdammnis zu durch­brechen. „Jesus ist kommen, nun springen die Bande!“ Jesus ist kommen – das ist die Botschaft des Advent. Advent heißt: Hier kommt Gottes Ausweg. Er kommt durch den einen neuen Menschen, der zugleich wahrer Gott ist. Er kommt durch den einen neuen Menschen, der nicht unter dem Fluch der Erbsünde steht und der daher nicht von Adams Ungehorsam her verseucht ist. Er kommt durch den neuen Adam Jesus Christus – „Adam“ heißt ja nichts anderes als „Mensch“. Dieser neue Adam ist das genaue Gegenbild des alten. Und die Kette von Ursachen und Wirkungen, die der neue Adam durch sein Kommen bringt, läuft in die entgegen­gesetzte Richtung. „Wie nun durch die Sünde des Einen die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, so ist auch durch die Gerechtig­keit des Einen für alle Menschen die Recht­fertigung gekommen, die zum Leben führt. Denn wie durch den Ungehorsam des Einen die Vielen zu Sündern geworden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten.“ So spricht der Heilige Geist durch den Apostel Paulus.

Ja, genau das ist Gottes Ausweg: Jesus war seinem himmlischen Vater absolut gehorsam. Durch seinen Sühnetod am Kreuz schuf er die Voraus­setzung dafür, dass sein Gehorsam den sündigen Menschen angerechnet wird. So werden durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten, nämlich zu Gerecht­fertigten, zu gerecht Ge­sprochenen – von Gott persönlich gerecht gesprochen. Es sind diejenigen, die durch Taufe und Glaube den neuen Adam Jesus Christus „anziehen“, seine Kinder werden, in seiner Nachfolge stehen. Es sind die „Adame“ – sprich: die Menschen – ‚ die zu „Christus­sen“ – sprich: zu Christen – geworden sind. Nicht durch eigene Leistung sind sie heraus­gekommen aus der Kette des Unheils und hinein in die Kette des Heils, sondern durch Gottes Gnade allein. Sie sind neu geschaffen, neue Kreaturen. Sie sind neu geboren, wieder­geboren durch die Taufe. Sie haben neues Leben, unbelastet vom alten Adam.

Unbelastet vom alten Adam? Liebe Brüder und Schwestern, sind wir das wirklich? Wir bekennen und beklagen doch immer wieder unsere Schuld. Wir seufzen über An­fechtungen und Glaubens­schwäche. Wir spüren die Versuchung zur Sünde in unseren Herzen, und wie oft kommt sie zum Ausbruch! Sind wir wirklich unbelastet vom alten Adam? Ja und nein. Nein, weil wir eben als Menschen nun mal Nachkommen Adams sind und die Erbsünde nicht abbürsten können wie einen Fussel vom Mantel. Ja, weil wir die Gerechtig­keit Christi in der Taufe wie einen Umhang umgelegt bekamen, unter dem aller Schmutz ver­schwindet. Wir sind gewisser­maßen Doppelwesen – noch Adamiten, schon Christen. Wir stecken in beiden Ketten von Ursachen und Wirkungen drin, sowohl in der unseligen Adams-Kette als auch in der seligen Christus-Kette. Es herrscht täglich Kampf in uns zwischen Adam und Christus. Der alte Adam in uns muss täglich ersäuft werden mit seinen Sünden und bösen Lüsten, heißt es im Kleinen Katechis­mus, und ein neuer Mensch soll heraus­kommen, ein neuer Adam, ein Christen­mensch, ein Christus.

Aber wir dürfen wissen, dass wir dieses Doppelwesen nicht ewig führen müssen. Es ist nichts Festes, nichts Bleibendes. Vielmehr herrscht Bewegung in unserem Leben – eine Bewegung weg vom alten Adam, hin zu Christus. Es gibt nichts Schöneres, als sich von Christus in dieser Bewegung mitreißen zu lassen. Advent bedeutet solche Bewegung, denn Kommen ist Bewegung. Die wartende Gemeinde ist in Bewegung: weg von Adam, weg von Ungehorsam, Sünde und Verdammnis, hin zu Christus, hin zu seiner Gerechtig­keit, zum Gehorsam und zum Leben. Das Ziel haben wir dabei klar vor Augen. Es ist der zukünftige Advent, die Wiederkehr unseres Herrn in Herrlich­keit. Es ist das Ziel von Gottes Ausweg. Adam und die Folge seiner Sünde werden dann für immer vergessen sein.

Ja, Anfang, Weg und Ziel heißen Jesus Christus. Ihm sei Ehre in Ewigkeit. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1988.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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