Nehmt einander an – wie Christus – zu Gottes Lob

Predigt über Römer 15,5‑9 zum 3. Advent

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ganz oft höre ich die Klage, dass die Christen nicht so sind, wie sie sein sollten. Sie machen keine gute Reklame für ihren Herrn und ihre Kirche. Hinter dieser Klage verbirgt sich oft eine Ent­täuschung darüber, wie sich Mitchristen verhalten. Die Ent­täuschung ist meistens echt und tief – auch wenn mancher sie nur zum Vorwand nimmt, sich vom aktiven Gemeinde­leben fern­zuhalten. Wenn solche Klagen laut werden, dann kann man darauf hinweisen: Wir geben ja zu, dass wir Sünder sind. Wir nennen uns nicht deshalb Christen, weil wir besser sein wollen als andere, sondern deshalb, weil wir Vergebung der Sünden suchen und mit Gott ins Reine kommen möchten. Man kann ebenfalls sagen: In der Kirche gibt es viele Trittbrett­fahrer, denen die Nachfolge Jesu nicht ernst ist, die es aber aus irgend­welchen Gründen vorteilhaft finden, Kirch­glieder zu sein und für Christen gehalten zu werden. Trotzdem sollte man die Klagen über sogenannte schlechte Christen nicht einfach ab­schmettern, sondern ernst nehmen. Ein jeder von uns sollte sich prüfen, ob er vielleicht in irgendeiner Weise zu diesem Eindruck beiträgt. Dass wir Sünder sind, ist un­bestritten. Aber gefährlich wäre es, wenn wir unser Sünder-Sein als Ent­schuldigung nähmen für Lauheit, Lieb­losig­keit und mangelndes Gott­vertrauen. Unsere Sünden­erkenntnis soll uns ja vielmehr zur Umkehr treiben, sodass es besser mit uns wird. Wir sollen nicht sagen: Ich bin nun mal ein Sünder wie jeder andere, daran lässt sich nichts ändern, sondern wir sollen sagen: Zwar bin ich ein Sünder, aber Christus hat mich von der Sünde befreit; darum soll die Sünde nicht mehr über mich herrschen; mit Gottes Hilfe nehme ich den Kampf gegen sie auf.

Zu solchem Kampf gegen die Sünde ermuntert der Apostel Paulus im zweiten Teil des Römer­briefes. In den Versen, die wir eben gehört haben, betont er besonders die Ein­mütig­keit als wünschens­wertes Merkmal einer christ­lichen Gemeinde. „Gott gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid“, schreibt er, „damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt“; und: „Nehmt einander an!“ Das sind fromme Wünsche, denkt ihr vielleicht, aber wie soll das geschehen – in unserer Zeit und Welt? Ein­mütig­keit – ist das überhaupt machbar, auch nur im über­schaubaren Bereich unserer kleinen Gemeinde? Da hat doch jeder seinen eigenen Kopf. Da gibt es doch immer Leute, die sich nicht auf andere einstellen können. Wie soll das funktio­nieren mit der Ein­mütigkeit? Vielleicht sagt sich aber auch jemand im Stillen: Das ist doch ganz einfach! Es müssten nur alle so sein und so denken wie ich, dann wären wir eine wunderbar ein­trächtige und vorbild­liche christliche Gemeinde. Aber, liebe Gemeinde, es hat ja seine Ursachen, dass wir unter­schiedlich sind in unserem Denken und Handeln. Schon die Frage: Was ist dir wichtig im Leben und im Umgang mit anderen Menschen?, beantworten Menschen unter­schiedlich. Der Erste richtet sich nach seinem Verstand, es muss alles vernünftig überlegt und durchdacht sein. Der Zweite urteilt nach seinem Gefühl, nach spontanene Ein­gebungen. Der Dritte fragt wie ein ehrgeiziger Geschäfts­mann: Was springt für mich heraus, was nützt es mir? Der Vierte hat so manche Erfahrungen im Leben gemacht und daraus seine Lehren gezogen. Dem Fünften ist es wichtig, in der Gemein­schaft nicht auf­zufallen; er passt sich mit seinem Verhalten der breiten Masse an und ahmt das nach, was ihm andere vorleben.

Ohne alles dies jetzt abzulehnen und ohne zu behaupten, dass wir uns davon ganz befreien könnten, möchte ich doch darauf aufmerksam machen, dass Paulus in den vorhin gehörten Versen eine andere Grund­einstellung nennt, die zur Ein­mütigkeit führt. Wenn wir also Aussicht haben wollen, im christ­lichen Sinne einmütig zu handeln, dann müssen wir dieser Grund­einstellung den ersten Rang vor allem andern einräumen. Der Römerbrief ist nun freilich ein bisschen kompliziert ge­schrieben. Ich selbst habe mir den Sinn dadurch klar­gemacht, dass ich bestimmte Aussagen farbig unter­strichen habe. Grün habe ich unter­strichen, was zu unserm Verhalten gesagt ist: „ein­trächtig“, „einmütig“, „mit einem Mund“, „nehmt einander an“. Gelb habe ich unter­strichen, wo Christus als Vorbild genannt wird: „Christus Jesus gemäß“, „wie Christus euch angenommen hat“, „Christus ist ein Diener geworden“. Blau habe ich an­gestrichen, wo Zweck und Ziel unseres Verhaltens genannt sind: „damit ihr Gott lobt“, „zu Gottes Lob“, „die Heiden sollen Gott loben“. Wenn man die ver­schlungenen Gedanken auf diese Weise auseinander­nimmt, wird ganz klar, was hier über das christliche Verhalten und seine Grundlage gesagt wird: Jesus Christus ist mit seiner Liebe und mit seinem Dienst ein Vorbild; nach diesem Vorbild sollen wir einträchtig und einmütig leben. Mit solchem christ­lichen Lebens­wandel loben wir Gott. Christi Dienst und Gottes Lob sind die Eckpfeiler, die die rechte christliche Grund­einstellung ausmachen. Wenn wir also in bestimmten Situationen fragen: Was soll ich tun?, dann gilt es weiter zu fragen: Was hätte Christus an meiner Statt getan? Wie hätte er geliebt? Wie hätte er den anderen angenommen und ihm weiter­geholfen? Und wenn wir fragen: Was will ich erreichen?, dann lautet die Antwort: dass ich etwas bin zu Gottes Lob – das ist mein Lebenssinn. Ob es Christus gefällt und Gott lobt, das ist der oberste und letztlich einzige Maßstab für christ­liches Handeln, und nicht: was alle machen, was mir nützlich erscheint, was meiner Vernunft einleuchtet oder wobei ich mich am wohlsten fühle.

Und nun merken wir auch: Wenn sich alle Christen an diesen Maßstab halten würden, dann wären sie automatisch einmütig. Jeder wäre dann wie ein Radio­empfänger, der auf denselben Sender eingestellt ist: Christus ist der Sender; und wenn mein Empfänger auf seine Wellenlänge abgestimmt ist, dann macht mein Radio seine Musik und zugleich die Musik all der Radios, die ebenfalls auf diesen Sender eingestellt sind. Oder anders aus­gedrückt: Je mehr Christen Jesus und Gottes Ehre zum Maßstab ihres Handelns machen und je besser ihnen das gelingt, desto mehr wird man merken, was für eine wunderbare Gemein­schaft die Kirche Jesu Christi ist.

Nun ist vielleicht mancher enttäuscht, weil das doch wieder sehr grund­sätzliche Hinweise waren. Es tut mir leid: Das ist eigentlich alles, was Gottes Wort dazu an die Hand gibt. Aber es ist genug! Natürlich finden wir da konkretere Hinweise, etwa in den Zehn Geboten oder in der Berg­predigt. Aber letztlich sind auch das allgemeine Hinweise dazu, was es bedeutet, nach Gottes Willen zu leben. Wir finden in der Bibel keinen Katalog, wo für jede Lebens­situation die richtige Verhaltens­regel steht. Und auch ich als Pastor kann nicht aus der Bibel für jeden Christen und jede Situation das richtige Verhalten heraus­destil­lieren; schon gar nicht in einer Predigt, die so viele ver­schiedene Menschen hören. Wenn wir die Worte des Apostels Paulus ernst nehmen, kann es auch gar nicht darum gehen. Die Einmütig­keit der Christen kommt ja nicht dadurch, dass alle dieselben Regeln auswendig gelernt haben; die Einmütig­keit kommt vielmehr dadurch, dass alle von demselben Herrn erlöst sind, denselben Herrn lieben, auf denselben Herrn schauen, von demselben Herrn Liebe lernen und denselben Gott mit ihrem Leben ehren wollen. Ja, durch solch eine Grund­haltung werden wir einmütig. Und diese Grund­haltung lernen wir nur, wenn wir immer wieder fleißig auf Jesus schauen und sein wunderbares Tun an uns Menschen in uns aufsagen. Ja, wenn wir fleißig an seinem Wort bleiben und von seiner Liebe leben, dann werden wir nach seinem Bild um­gestaltet.

Was das für Folgen haben kann, das will ich nun aber doch noch mit ein paar Beispielen füllen. Eigentlich muss ich sagen: Was das für Folgen hat, denn es ist ja bereits ganz offen­sichtlich vorhanden, was Paulus schreibt: „… damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt.“ Wir sind nur schon so sehr daran gewöhnt, dass wir gar nicht mehr recht wahrnehmen, wie wunderbar sich Woche für Woche unsere Einheit in Christus zeigt: Mit einem Munde, mit denselben Worten bekennen wir Sonntag für Sonntag unseren Glauben. Wo in unserer Umwelt gibt es das sonst noch? Welche politische Partei kann sagen, dass ihre Angehörigen mit denselben Worten ihr Partei­programm hersagen können, und das seit Jahr­hunderten? Wir bekennen mit einem Munde den Glauben – nicht nur unsere Gemeinde, sondern die ganze Kirche; nicht nur die Christen unserer Zeit, sondern die Christen aller Zeiten seit den ersten Jahr­hunderten nach Christus! Auch unsere Liturgie, unsere Gottes­dienst­ordnung, geht auf diese lange Tradition zurück. Bereits vor über 1500 Jahren haben Christen in Asien, Afrika und Europa mit denselben Worten das Abendmahl gefeiert wie wir heute. So schön und wichtig zeitgemäße Gottes­dienst­formen sind, die traditio­nelle Liturgie ist doch ein so ungeheuer großes Zeichen von Einmütig­keit und einmündigem Loben, dass man das nicht leicht­fertig aufgeben sollte.

Auch bei Ent­scheidungen der Gemeinde wird die Einmütig­keit sichtbar. Natürlich werden nicht immer alle dieselbe Meinung haben. Aber wenn eine Ent­scheidung gefallen ist, etwa in einer Gemeinde­versammlung, dann ist doch eigentlich immer die Minderheit bereit, die Ent­scheidung der Mehrheit mit­zutragen. Wir sind ja keine Demokratie in der Gemeinde, wo die Mehrheit immer Recht hätte, noch eine Diktatur, wo der Pastor oder sonst irgend jemand immer Recht hätte. Wir sind vielmehr eine Christo­kratie, eine Christus­herrschaft, wo die Gemeinde unter dem einen Herren sich darum müht, zu einmütigen Ent­scheidungen zu kommen.

Am schwie­rigsten ist es mit der Einmütig­keit wohl in der Hinsicht, die Paulus so umschreibt: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat.“ In der Gemeinde in Rom gab es Christen mit jüdischer Herkunft und Christen mit heidnischer Herkunft. Die Juden standen immer ein wenig in der Gefahr, sich auf ihr alt­testament­liches Erbe etwas einzubilden und auf die Heiden herab­zusehen. Ihnen machte Paulus ganz klar, dass Christus gleicher­maßen für Juden und Heiden ein Diener geworden ist, und er belegte das durch eine Schrift­stelle des Alten Testaments. Auch sollten die Juden die Heiden nicht verachten wegen ihrer nicht­jüdischen Ess- und Lebens­gewohn­heiten – und umgekehrt. So soll es auch bei uns sein: Wie Christus jedermanns Diener wurde, sollen auch wir uns unter­einander annehmen und dienen: Alte und Junge, Alt­eingeses­sene und Hinzu­gekommene, geborene Frei­kirchler und Über­getretene, Moderne und Alt­modische, Kluge und Einfältige, Reiche und Arme, politisch Konser­vative und politisch Liberale. Nicht beim sym­pathischen und gleich­gesinnten Glaubens­bruder bewährt sich die Bruder­liebe, sondern bei dem, der ganz anders ist. Nehmt einander an, liebe Gemeinde, seht euch das von Christus ab, tut es zu Gottes Ehre! Vielleicht kann es dann wieder so weit kommen wie in der Urkirche, wo Außen­stehende von den Christen bewundernd sagten: Seht mal, wie sie sich einander lieben! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1987.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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