Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Ganz oft höre ich die Klage, dass die Christen nicht so sind, wie sie sein sollten. Sie machen keine gute Reklame für ihren Herrn und ihre Kirche. Hinter dieser Klage verbirgt sich oft eine Enttäuschung darüber, wie sich Mitchristen verhalten. Die Enttäuschung ist meistens echt und tief – auch wenn mancher sie nur zum Vorwand nimmt, sich vom aktiven Gemeindeleben fernzuhalten. Wenn solche Klagen laut werden, dann kann man darauf hinweisen: Wir geben ja zu, dass wir Sünder sind. Wir nennen uns nicht deshalb Christen, weil wir besser sein wollen als andere, sondern deshalb, weil wir Vergebung der Sünden suchen und mit Gott ins Reine kommen möchten. Man kann ebenfalls sagen: In der Kirche gibt es viele Trittbrettfahrer, denen die Nachfolge Jesu nicht ernst ist, die es aber aus irgendwelchen Gründen vorteilhaft finden, Kirchglieder zu sein und für Christen gehalten zu werden. Trotzdem sollte man die Klagen über sogenannte schlechte Christen nicht einfach abschmettern, sondern ernst nehmen. Ein jeder von uns sollte sich prüfen, ob er vielleicht in irgendeiner Weise zu diesem Eindruck beiträgt. Dass wir Sünder sind, ist unbestritten. Aber gefährlich wäre es, wenn wir unser Sünder-Sein als Entschuldigung nähmen für Lauheit, Lieblosigkeit und mangelndes Gottvertrauen. Unsere Sündenerkenntnis soll uns ja vielmehr zur Umkehr treiben, sodass es besser mit uns wird. Wir sollen nicht sagen: Ich bin nun mal ein Sünder wie jeder andere, daran lässt sich nichts ändern, sondern wir sollen sagen: Zwar bin ich ein Sünder, aber Christus hat mich von der Sünde befreit; darum soll die Sünde nicht mehr über mich herrschen; mit Gottes Hilfe nehme ich den Kampf gegen sie auf.
Zu solchem Kampf gegen die Sünde ermuntert der Apostel Paulus im zweiten Teil des Römerbriefes. In den Versen, die wir eben gehört haben, betont er besonders die Einmütigkeit als wünschenswertes Merkmal einer christlichen Gemeinde. „Gott gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid“, schreibt er, „damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt“; und: „Nehmt einander an!“ Das sind fromme Wünsche, denkt ihr vielleicht, aber wie soll das geschehen – in unserer Zeit und Welt? Einmütigkeit – ist das überhaupt machbar, auch nur im überschaubaren Bereich unserer kleinen Gemeinde? Da hat doch jeder seinen eigenen Kopf. Da gibt es doch immer Leute, die sich nicht auf andere einstellen können. Wie soll das funktionieren mit der Einmütigkeit? Vielleicht sagt sich aber auch jemand im Stillen: Das ist doch ganz einfach! Es müssten nur alle so sein und so denken wie ich, dann wären wir eine wunderbar einträchtige und vorbildliche christliche Gemeinde. Aber, liebe Gemeinde, es hat ja seine Ursachen, dass wir unterschiedlich sind in unserem Denken und Handeln. Schon die Frage: Was ist dir wichtig im Leben und im Umgang mit anderen Menschen?, beantworten Menschen unterschiedlich. Der Erste richtet sich nach seinem Verstand, es muss alles vernünftig überlegt und durchdacht sein. Der Zweite urteilt nach seinem Gefühl, nach spontanene Eingebungen. Der Dritte fragt wie ein ehrgeiziger Geschäftsmann: Was springt für mich heraus, was nützt es mir? Der Vierte hat so manche Erfahrungen im Leben gemacht und daraus seine Lehren gezogen. Dem Fünften ist es wichtig, in der Gemeinschaft nicht aufzufallen; er passt sich mit seinem Verhalten der breiten Masse an und ahmt das nach, was ihm andere vorleben.
Ohne alles dies jetzt abzulehnen und ohne zu behaupten, dass wir uns davon ganz befreien könnten, möchte ich doch darauf aufmerksam machen, dass Paulus in den vorhin gehörten Versen eine andere Grundeinstellung nennt, die zur Einmütigkeit führt. Wenn wir also Aussicht haben wollen, im christlichen Sinne einmütig zu handeln, dann müssen wir dieser Grundeinstellung den ersten Rang vor allem andern einräumen. Der Römerbrief ist nun freilich ein bisschen kompliziert geschrieben. Ich selbst habe mir den Sinn dadurch klargemacht, dass ich bestimmte Aussagen farbig unterstrichen habe. Grün habe ich unterstrichen, was zu unserm Verhalten gesagt ist: „einträchtig“, „einmütig“, „mit einem Mund“, „nehmt einander an“. Gelb habe ich unterstrichen, wo Christus als Vorbild genannt wird: „Christus Jesus gemäß“, „wie Christus euch angenommen hat“, „Christus ist ein Diener geworden“. Blau habe ich angestrichen, wo Zweck und Ziel unseres Verhaltens genannt sind: „damit ihr Gott lobt“, „zu Gottes Lob“, „die Heiden sollen Gott loben“. Wenn man die verschlungenen Gedanken auf diese Weise auseinandernimmt, wird ganz klar, was hier über das christliche Verhalten und seine Grundlage gesagt wird: Jesus Christus ist mit seiner Liebe und mit seinem Dienst ein Vorbild; nach diesem Vorbild sollen wir einträchtig und einmütig leben. Mit solchem christlichen Lebenswandel loben wir Gott. Christi Dienst und Gottes Lob sind die Eckpfeiler, die die rechte christliche Grundeinstellung ausmachen. Wenn wir also in bestimmten Situationen fragen: Was soll ich tun?, dann gilt es weiter zu fragen: Was hätte Christus an meiner Statt getan? Wie hätte er geliebt? Wie hätte er den anderen angenommen und ihm weitergeholfen? Und wenn wir fragen: Was will ich erreichen?, dann lautet die Antwort: dass ich etwas bin zu Gottes Lob – das ist mein Lebenssinn. Ob es Christus gefällt und Gott lobt, das ist der oberste und letztlich einzige Maßstab für christliches Handeln, und nicht: was alle machen, was mir nützlich erscheint, was meiner Vernunft einleuchtet oder wobei ich mich am wohlsten fühle.
Und nun merken wir auch: Wenn sich alle Christen an diesen Maßstab halten würden, dann wären sie automatisch einmütig. Jeder wäre dann wie ein Radioempfänger, der auf denselben Sender eingestellt ist: Christus ist der Sender; und wenn mein Empfänger auf seine Wellenlänge abgestimmt ist, dann macht mein Radio seine Musik und zugleich die Musik all der Radios, die ebenfalls auf diesen Sender eingestellt sind. Oder anders ausgedrückt: Je mehr Christen Jesus und Gottes Ehre zum Maßstab ihres Handelns machen und je besser ihnen das gelingt, desto mehr wird man merken, was für eine wunderbare Gemeinschaft die Kirche Jesu Christi ist.
Nun ist vielleicht mancher enttäuscht, weil das doch wieder sehr grundsätzliche Hinweise waren. Es tut mir leid: Das ist eigentlich alles, was Gottes Wort dazu an die Hand gibt. Aber es ist genug! Natürlich finden wir da konkretere Hinweise, etwa in den Zehn Geboten oder in der Bergpredigt. Aber letztlich sind auch das allgemeine Hinweise dazu, was es bedeutet, nach Gottes Willen zu leben. Wir finden in der Bibel keinen Katalog, wo für jede Lebenssituation die richtige Verhaltensregel steht. Und auch ich als Pastor kann nicht aus der Bibel für jeden Christen und jede Situation das richtige Verhalten herausdestillieren; schon gar nicht in einer Predigt, die so viele verschiedene Menschen hören. Wenn wir die Worte des Apostels Paulus ernst nehmen, kann es auch gar nicht darum gehen. Die Einmütigkeit der Christen kommt ja nicht dadurch, dass alle dieselben Regeln auswendig gelernt haben; die Einmütigkeit kommt vielmehr dadurch, dass alle von demselben Herrn erlöst sind, denselben Herrn lieben, auf denselben Herrn schauen, von demselben Herrn Liebe lernen und denselben Gott mit ihrem Leben ehren wollen. Ja, durch solch eine Grundhaltung werden wir einmütig. Und diese Grundhaltung lernen wir nur, wenn wir immer wieder fleißig auf Jesus schauen und sein wunderbares Tun an uns Menschen in uns aufsagen. Ja, wenn wir fleißig an seinem Wort bleiben und von seiner Liebe leben, dann werden wir nach seinem Bild umgestaltet.
Was das für Folgen haben kann, das will ich nun aber doch noch mit ein paar Beispielen füllen. Eigentlich muss ich sagen: Was das für Folgen hat, denn es ist ja bereits ganz offensichtlich vorhanden, was Paulus schreibt: „… damit ihr einmütig mit einem Munde Gott lobt.“ Wir sind nur schon so sehr daran gewöhnt, dass wir gar nicht mehr recht wahrnehmen, wie wunderbar sich Woche für Woche unsere Einheit in Christus zeigt: Mit einem Munde, mit denselben Worten bekennen wir Sonntag für Sonntag unseren Glauben. Wo in unserer Umwelt gibt es das sonst noch? Welche politische Partei kann sagen, dass ihre Angehörigen mit denselben Worten ihr Parteiprogramm hersagen können, und das seit Jahrhunderten? Wir bekennen mit einem Munde den Glauben – nicht nur unsere Gemeinde, sondern die ganze Kirche; nicht nur die Christen unserer Zeit, sondern die Christen aller Zeiten seit den ersten Jahrhunderten nach Christus! Auch unsere Liturgie, unsere Gottesdienstordnung, geht auf diese lange Tradition zurück. Bereits vor über 1500 Jahren haben Christen in Asien, Afrika und Europa mit denselben Worten das Abendmahl gefeiert wie wir heute. So schön und wichtig zeitgemäße Gottesdienstformen sind, die traditionelle Liturgie ist doch ein so ungeheuer großes Zeichen von Einmütigkeit und einmündigem Loben, dass man das nicht leichtfertig aufgeben sollte.
Auch bei Entscheidungen der Gemeinde wird die Einmütigkeit sichtbar. Natürlich werden nicht immer alle dieselbe Meinung haben. Aber wenn eine Entscheidung gefallen ist, etwa in einer Gemeindeversammlung, dann ist doch eigentlich immer die Minderheit bereit, die Entscheidung der Mehrheit mitzutragen. Wir sind ja keine Demokratie in der Gemeinde, wo die Mehrheit immer Recht hätte, noch eine Diktatur, wo der Pastor oder sonst irgend jemand immer Recht hätte. Wir sind vielmehr eine Christokratie, eine Christusherrschaft, wo die Gemeinde unter dem einen Herren sich darum müht, zu einmütigen Entscheidungen zu kommen.
Am schwierigsten ist es mit der Einmütigkeit wohl in der Hinsicht, die Paulus so umschreibt: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat.“ In der Gemeinde in Rom gab es Christen mit jüdischer Herkunft und Christen mit heidnischer Herkunft. Die Juden standen immer ein wenig in der Gefahr, sich auf ihr alttestamentliches Erbe etwas einzubilden und auf die Heiden herabzusehen. Ihnen machte Paulus ganz klar, dass Christus gleichermaßen für Juden und Heiden ein Diener geworden ist, und er belegte das durch eine Schriftstelle des Alten Testaments. Auch sollten die Juden die Heiden nicht verachten wegen ihrer nichtjüdischen Ess- und Lebensgewohnheiten – und umgekehrt. So soll es auch bei uns sein: Wie Christus jedermanns Diener wurde, sollen auch wir uns untereinander annehmen und dienen: Alte und Junge, Alteingesessene und Hinzugekommene, geborene Freikirchler und Übergetretene, Moderne und Altmodische, Kluge und Einfältige, Reiche und Arme, politisch Konservative und politisch Liberale. Nicht beim sympathischen und gleichgesinnten Glaubensbruder bewährt sich die Bruderliebe, sondern bei dem, der ganz anders ist. Nehmt einander an, liebe Gemeinde, seht euch das von Christus ab, tut es zu Gottes Ehre! Vielleicht kann es dann wieder so weit kommen wie in der Urkirche, wo Außenstehende von den Christen bewundernd sagten: Seht mal, wie sie sich einander lieben! Amen.
PREDIGTKASTEN |