Beten im Namen Jesu

Predigt über Johannes 16,23b‑28 zum Sonntag Rogate

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ich kenne eine ältere Dame, die bedauert es, nicht malen zu können. Wenn sie malen könnte, so sagte sie mir, würde sie gern einmal folgendes Bild auf die Leinwand bringen: Da ist eine tiefe Felsen­schlucht. Auf der einen Seite stehen die Menschen dieser Welt – arme und reiche, fröhliche und traurige, weiße und farbige. Auf der anderen Seite steht Gott und streckt liebevoll seine Arme nach den Menschen aus. Es gibt nur eine Möglich­keit, die Schlucht zu überwinden: Ein riesiges Kreuz liegt quer über der Schlucht und verbindet die beiden Seiten. Über dieses Kreuz gehen die Menschen zum Vater.

Dieses Bild macht an­schaulich, was es heißt, durch Jesus Christus erlöst zu sein. Die Schlucht, die uns vom himmlischen Vater trennt, ist die Sünde. Übrigens hängt das Wort „Sünde“ mit „absondern“ und „Sund“ zusammen; „Sund“ ist seiner Grund­bedeutung nach ein tiefer Graben. Die Sünde ist das, was uns von Gott trennt. Weil die Sünde uns unheilig macht, trennt sie uns vom heiligen und gerechten Gott. Jesus hat diesen Graben überbrückt. Er hat am Kreuz unsere Sünden­strafe auf sich genommen. Weil Gott statt unserer Un­heilig­keit Christi Gerechtig­keit ansieht, sind wir für ihn wieder ge­meinschafts­tauglich. Das Kreuz ist die Brücke über den Abgrund unserer Schuld, der Weg in die aus­gestreckten Arme unseres lieben Vaters.

Dieses Bild kann uns auch zeigen, was Beten im Namen Jesu bedeutet. Von solchem Betem redet Jesus ja in dem eben gehörten Wort. Da sagt er: „Wenn ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er's euch geben“; und: „Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen.“ Mit Beten im Namen Jesu ist natürlich nicht gemeint, dass jedes Gebet formelhaft mit der Wendung „im Namen Jesu“ schließen muss. Vielmehr wird diese Wendung deshalb so häufig gebraucht, damit uns bewusst wird: Wir haben eben in seinem Namen gebetet. Was das bedeutet, kann uns, wie gesagt, das Bild mit dem Graben und dem Kreuz deutlich machen. Als Erlöste können wir mit all unsern Bitten über die Kreuzes­brücke zum Vater kommen und ihn bitten „wie die lieben Kinder ihren lieben Vater“. Die Erlösung Jesu Christi ist die Grundlage dafür, dass wir ihm überhaupt unter die Augen treten können. Ohne die Vergebung der Sünden und ohne den Glauben an Jesus wäre unser Beten nichts als ein Hilfeschrei über den Graben zu einem fernen Gott.

Ja, liebe Gemeinde, viele Menschen können nur so aus der Ferne beten – durchaus fromme Menschen. Manch einer hat mir gesagt: An Gott glaube ich, und ich bete auch, aber mit Christus kann ich nichts anfangen. Solche Menschen sind arm dran, weil sie nicht im Namen Jesu beten. Sie betreten nicht die Kreuzes­brücke zum Vater. Sie stehen am Rande des Abgrunds und schreien zu Gott hinüber, der auf der anderen Seite ist. Gott ist fremd und fern; er erscheint ihnen wie ein launisches Schicksal, das bald hört und hilft, bald sich taub stellt oder gar noch Schwereres auflegt. Wer so betet, muss an seinem Gott und am Gebet irre werden, sobald Gott ihm wirklich mal was Schweres zumutet.

Gott sei Dank, dass wir im Namen Jesu beten können. Wir dürfen uns glücklich preisen, dass wir in Gottes neuem Gebets­zeitalter leben. Dieses neue Gebets­zeitalter ist mit Jesu Auf­erstehung und Himmelfahrt an­gebrochen. Als Jesus zu seinen Jüngern diese Worte redete, wurden schon die Vor­bereitungen für seine Gefangen­nahme getroffen. Die Wende zum neuen Gebets­zeitalter stand unmittelbar bevor. In dieser Situation sagte Jesus: „Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen.“ Und er machte den Jüngern klar, dass sie bald nicht mehr mit den Andeutungen dunkler Bildreden vorlieb­nehmen müssen. Dann werde er, Jesus, ihnen frei heraus ver­kündigen, und sie werden verstehen. Sie werden dann um den Sinn des Kreuzes wissen: Es ist die Brücke, über die Sünder zum Vater gelangen. Jesus verhieß ihnen: „An jenem Tag werdet ihr bitten in meinem Namen.“

Dieser Tag ist nun also gekommen. Wir leben in dem Zeitalter, in dem wir zum Vater beten im Namen Jesu, also auf der ver­söhnenden Grundlage seines Kreuzes­todes. Ich möchte nun dem Gedanken nachgehen, was das denn praktisch bedeutet: im Namen Jesu beten. Ich könnte auch sagen: was es praktisch bedeutet, als Christ zu leben. Jesus hat die Brücke des Kreuzes geschlagen. Der Glaube ist nun nichts anderes, als dass ich meinen Fuß auf diese Brücke setze und zum Vater hinüber­gehe. Wenn ich das tue, habe ich Gemein­schaft mit ihm. Er schließt mich in seine liebenden Arme; ich liebe ihn und fühle mich ganz geborgen bei ihm. Weil das so ist, werde ich ihm auch alles an­vertrauen, werde mit ihm Freud und Leid teilen – genauso wie ich es bei Menschen tue, die ich liebe und mit denen ich enge Gemein­schaft habe.

Freud und Leid mit Gott teilen – das tue ich im Gebet, und zwar im anhaltenden regel­mäßigem Gebet. Ich danke Gott und lobe ihn für das, was mir Freude macht oder weiter­hilft. Ich klage ihm meine Not bei allem, was mich bedrückt oder was mir für andere Menschen ein Herzens­anliegen ist. Ich kann auch ganz mutig um Dinge bitten, die menschlich gesehen aussichts­los sind. Ich brauche keine Angst zu haben, dass Gott sich taub stellt oder mich noch härter drückt. Ich bete ja im Namen Jesu. Ich bin ja bei ihm, geborgen in seinen Armen. Dass er mich liebt und meine Schuld nicht anrechnet, hat er um Jesu willen mit heiligem Eid geschworen. Dieser Eid gilt felsenfest für alle, die an Jesus glauben und über die Kreuzes­brücke zu Gott kommen.

Es mag sein, dass manche Dinge im Leben anders kommen, als wir wünschen. Dass Gott Gebete erhört, heißt ja nicht, dass er prompt und automatisch unseren Willen erfüllt. Er erhört vielmehr wie ein Vater. Er sagt zuweilen: Noch nicht! Er sagt zuweilen: Nicht so, wie du dir das vorstellst, sondern anders – viel besser! Dass er aber um Jesu willen hört, das ist ganz sicher. Ja, wir können bei jedem Gebet sicher sein: Gott wird uns das geben, was für uns und alle Menschen das Beste ist.

Seinen Glauben leben heißt: das ganze Leben bewusst als Gotteskind gestalten.

Wer als Christ lebt, der blickt jeden Morgen zu­versicht­lich auf den Tag, der vor ihm liegt. Er dankt Gott für die Ruhe der Nacht und für den neuen Tag. Er befiehlt Gott die bevor­stehende Arbeit und die anderen Vorhaben des Tages an. Er bittet Gott um Leitung und Bewahrung vor Sünde, um das tägliche Brot und um Schutz vor allem Bösen. Er tut dies im Namen Jesu.

Wer als Christ lebt, bittet zu den Mahlzeiten um Gottes Segen und dankt ihm für seine Gaben. Weil Gott uns den Tisch über­reichlich deckt, sollten wir auch an Dank nicht sparen. Ist es nicht beschämend, dass die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg für das Wenige, das sie hatten, oft viel dankbarer waren, als wir es heute für den Überfluss sind? Ein Christ nimmt seine Speise mit dankbarem Herzen im Namen Jesu.

Wer als Christ lebt, legt schließlich in seinem Abendgebet den Tag zurück in Gottes Hände. Er dankt für alles Gute und alle Bewahrung. Er bittet um Vergebung für die Sünden, die er begangen hat. Er denkt fürbittend an seine Angehörigen und an manch einen, dessen Not ihm an diesem Tag besonders bewusst geworden ist. Er bittet seinen himmlischen Vater um eine gesegnete Nachtruhe. Er tut es im Namen Jesu.

Wer als Christ lebt, weiß um den besonderen Segen, den Gott auf das gemeinsame Gebet gelegt hat. Wenn er nicht allein wohnt, wird er mit seinen Haus­genossen regelmäßig beten. Christliche Eltern wissen, dass ihre Kinder gerade auch im Beten Vorbilder brauchen. Was für ein Segen ist es, wenn Kinder von klein auf merken: Meine Eltern können alles, was sie auf dem Herzen haben, ganz einfach Gott sagen; sie brauchen auch nicht immer aus alter­tümlichen Büchern schwer verständ­liche Sätze vorzulesen, wenn sie beten.

Höhepunkte in der Woche eines Christen sind die Gottes­dienste. Hier versammelt sich die Gemeinde vor ihrem himmlischen Vater, um im Namen Jesu zu beten und loben.

Schließlich kann ein Christ an jedem Ort und in jeder Situation beten, wenn ihm danach zumute ist. Wenn er Angst hat, wenn es gefährlich wird oder wenn eine Gefahr glücklich überstanden ist, auch, wenn er von der Not eines Mitmenschen erfährt oder wenn menschliche Beziehungen verfahren sind – immer darf er zu seinem Vater reden, auch heimlich im Stillen, auch ganz kurz, auch mit unbeholfen stammelnden Worten. Hauptsache, er tut es im Namen Jesu! Hauptsache, er geht über die Brücke des Kreuzes in die Arme des liebenden Vaters! Jesus fordert uns auf: „Bittet, so werdet ihr nehmen, dass eure Freude vollkommen sei!“

Ich habe jetzt ganz einfach be­schrieben, wie ein Christ im Namen Jesu lebt und betet. Ich weiß ebensogut wie ihr, dass die Praxis bei vielen Christen weit davon entfernt ist. Heute wird weniger gebetet als früher. Heute sind viele zu kraftlos, um dem Satan den Kampf anzusagen, der immer wieder unser Gebetsleben stören und unseren Glauben vernichten will. Der Teufel will uns einreden, dass die Brücke des Kreuzes nicht trägt oder dass es überhaupt nichts bringt, an die andere Seite der Schlucht zu Gott zu kommen. Wenn dann unsere Hände müde werden zum Gebet und unser Herz müde zum Glauben, dann wird Jesus für uns zum Für­sprecher; das gehört zu seinem Amt als Hoher­priester. Er setzt sich für uns beim Vater dafür ein, dass er uns wieder neu mit seinem Geist füllt, glauben lässt und beten lehrt. Dann aber, wenn wir wieder glauben und beten können, haben wir wieder direkten Zugang zum Vater. Deshalb sagte Jesus seinen Jüngern: „Ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten will; denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin.“ Wie bei so manchem anderen Bibelwort merken wir wieder, dass wir als Christen in dieser Welt hin‑ und hergerissen sind: Einerseits noch im Fleisch, noch mit Sünde und Zweifel behaftet, anfällig gegen die Angriffe des Teufels und darauf angewiesen, dass Jesus als Mittler Fürsprache beim Vater für uns einlegt. Anderer­seits schon im Geist, Erlöste, Heilige, Gerechte, Glaubende, Betende, freie Gottes­kinder, die ungehindert selbst zu ihrem himmlischen Vater kommen können – jederzeit und mit allem, was das Herz bewegt. Machen wir uns stets bewusst, dass wir Letzteres für immer bleiben sollen! Stellen wir darauf unser ganzes Leben ein, auch unser Gebets­leben! Nehmen wir den Kampf gegen Satan auf, der uns das immer wieder kaputt­machen will! Und bitten wir den Vater um Kraft in diesem Kampf! Tun wir's im Namen Jesu! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1987.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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