Was wir mit den Augen sehen – was wir mit dem Herzen glauben

Predigt über Johannes 11,25‑26 zu einer Beerdigung

Liebe Trauergemeinde!

Ein langes und erfülltes Leben ist zu Ende gegangen; das wird uns heute besonders bewusst. Die Familie musste in den letzten Monaten mit ansehen, wie ihr Vater immer schwächer und kränker wurde, wie er kaum noch Nahrung zu sich nahm, wie er in den letzten Tagen dann auch nicht mehr sprach. Die Nachbarn sahen ihn seit einiger Zeit nicht mehr auf seinem täglichen Rundgang durch den Ort; sie werden ihn auch in Zukunft vermissen. Die Mitglieder unserer Kirchen­gemeinde werden ihn nicht mehr auf seinem an­gestamm­ten Platz in der Kirche sitzen sehen. Mit diesem Gemeinde­glied hat uns auch ein Stück Gemeinde­geschichte verlassen, hatte er doch als ältestes Gemeinde­glied noch den ersten Pastor dieser Gemeinde bewusst kennen­gelernt. Ja, das steht uns vor Augen: Ein langes und erfülltes Leben ist zu Ende gegangen. Und wenn der Verstorbene auch durch eine hohe Zahl von Jahren gesegnet war, können wir alle nach­vollziehen, was die Angehörigen empfinden: Es ist immer zu früh.

Was wir vor Augen haben, ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist das, was wir als Christen mit dem Herzen glauben. Diese andere Seite tritt leuchtend hell und klar in dem Wort unseres Herrn Jesus Christus hervor, das der Verstorbene sich als Beerdigungs­text gewünscht hat: „Ich bin die Auf­erstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“ Was wir mit dem Herzen glauben und was in diesem Wort ausgesagt ist, straft das andere Lügen – das, was wir vor Augen haben. Wir glauben: Nein, unser Bruder in Christus ist nicht gestorben, jedenfalls nicht wirklich, sondern sein Leib ruht nur in der Erde bis zum Jüngsten Tag. Dann wird er auferstehen von den Toten und mit seinem Herrn Jesus Christus für immer leben. Jesus hat ja ver­sprochen: „Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.“ Hier ist also nicht ein Leben zu Ende gegangen, sondern hier soll ein Leben weitergehen in Ewigkeit. Der Tod begegnet uns nur äußerlich, nur scheinbar, nur in seiner leiblichen Gestalt – wie wir im Osterchoral bekennen: „Jesus Christus hat dem Tod genommen / all sein Recht und sein Gewalt; / da bleibt nichts denn Tods Gestalt, / den Stachel hat er verloren. / Halleluja!“ Wie sagte doch Jesus? „Wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“ Auch dieser Bruder in Christus ist nicht gestorben – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sein Leben nun endgültig zu Ende gegangen wäre. Es ist vielmehr ans Ziel gekommen, zu seiner Erfüllung und Vollendung. Ja, das glauben wir mit dem Herzen, und wir glauben noch mehr: Wenn auch sein irdischer Leib immer schwächer und kränker wurde, wenn sein irdischer Leib nun tot ist und im Laufe der Jahre wieder zu Erde werden wird, so wird er doch am Jüngsten Tag mit einem neuen wunderbaren und voll­kommenen Leib auf­erstehen, schön und kräftig wie ein Jüngling – mit einem Leib, der nie wieder alt und krank wird. Ja, der Glaube im Herzen straft unsere Augen Lügen. Und wir glauben noch mehr: Unsere Kirchen­gemeinde hat in Wirklich­keit gar kein Glied verloren. Der Verstorbene gehört weiter zur Kirche Jesu Christi, denn sie besteht ja nicht nur aus uns Christen hier auf Erden, sondern auch aus den Engeln im Himmel und aus all den Menschen, die uns voran­gegangen sind in die ewige Herrlich­keit. Der Verstorbene gehört nun zu ihnen. Wenn er auch nicht mehr mit uns in der Kirchenbank sitzt, so lobt er doch weiterhin und in alle Ewigkeit Gott in der Gemein­schaft der Erlösten.

All dies, was ich jetzt als andere Seite der Medaille genannt habe und was so wunderbar in dem Wort unseres Herrn zusammen­gefasst ist, hat der Verstorbene Zeit seines Lebens geglaubt und bekannt. Er hat gewusst: Nicht das, was vor Augen ist, ist das Wichtigste, und nicht das, was vor Augen ist, hat Bestand, sondern vielmehr das, was Christus durch sein Wort versprochen hat und was wir mit dem Herzen glauben. Er hat nicht an irgendetwas geglaubt, so wie man heute oft hört: An irgendetwas muss der Mensch ja glauben, und meint damit nur so ein bisschen psycho­logische Lebens­hilfe. Nein, er hat an seinen ge­kreuzigten und auf­erstandenen Herrn Jesus Christus geglaubt, der auch heute noch wirklich lebt. Und weil unser Bruder wusste, dass sein Herr lebt, darum hat er auch Gemein­schaft mit ihm gehabt. Glauben heißt ja nicht nur irgendetwas für wahr halten, sondern in lebendiger Gemein­schaft mit Jesus stehen – sein Wort hören, zu ihm beten, in der christ­lichen Gemeinde leben. So wichtig war das dem Ver­storbenen, dass er noch vierzehn Tage vor seinem Tod zu Hause das Heilige Abendmahl begehrte und empfing, als er schon zu schwach war, den Gottes­dienst zu besuchen. Ja dieser Glaubens­bruder, von dem wir hier Abschied nehmen, hat sich stets zu seinem Herrn Jesus Christus bekannt und mit ihm gelebt. Nun darf er schauen, was er geglaubt hat – in der trium­phierenden Kirche, wie man sie nennt, in der ewig anbetenden Gemeinde bei Gott.

Wenn wir von der trium­phierenden Kirche sprechen, dürfen wir dabei die andere Kirche nicht vergessen, die die kämpfende genannt wird. Das ist die Christen­gemeinde hier auf Erden, die unser Bruder verlassen hat, zu der wir aber noch gehören. Sie heißt nicht zufällig kämpfende Kirche. Einerseits Krankheit, Ver­gänglich­keit und Tod vor Augen, anderer­seits Auf­erstehung, ewiges Leben und einen verklärter Leib, mit dem Herzen geglaubt – das erzeugt eine innere Spannung in uns, einen Konflikt, einen Kampf, den jeder wahre Christ auf Erden spürt. Auch der Verstorbene ist nicht davon verschont geblieben. Wenige Wochen vor seinem Tod sagte er: Der Stachel des Todes ist dunkel. Auch sind ihm seine letzten Erdentage nicht leicht geworden. Das muss so sein. Er wusste es genau, und wir sollten es auch wissen: Mit der Ver­gänglich­keit unseres Leibes zeigt uns Gott ganz deutlich den Fluch der Sünde. Die Sünde aber steckt tief in allen Menschen drin. Und diese Sünde verdient Gottes Zorn und Fluch, das zeigt uns das menschliche Elend des Sterbens sehr deutlich. Wenn es nach dem ginge, was wir mit unserm Leben erreicht und geleistet haben, dann könnte keiner von uns vor Gottes Gericht bestehen, wir alle müssten für immer im Tod bleiben, in der schreck­lichen Gottes­ferne, die wir dann auch als solche erfahren würden und die man auch heute noch ganz un­geschminkt Hölle nennen sollte. Ja, liebe Gemeinde, vor Gottes Augen können wir nicht mit einem bisschen guten Willen bestehen; er fordert von uns ganzen Gehorsam, das bezeugt die Bibel ganz klar. Solch makellosen Gehorsam bringen wir einfach nicht zustande; auch unser ver­storbener Mitchrist hat ihn nicht zustande gebracht. Mit seinem Leben hat er vielmehr die Hölle verdient, ebenso wie ich und du und alle Menschen auf Erden.

Aber gerade hier kommt Jesus ins Spiel: Er hat am Kreuz die Hölle stell­vertretend für uns ertragen: für unseren Bruder, für dich, für mich und für alle, die an ihn glauben. Ja, das ist eigentlich der christliche Glaube: Dass Christus uns erlöst hat, indem er bei Gott die Strafe bezahlte, die wir verdient haben. Da erkennen wir: Nur durch Jesus kann man selig werden, durch nichts und niemanden sonst. Wer sich Zeit seines Lebens in diesem Glauben geübt hat, der ist gut dran. Der Kampf des Todes wird dann immer noch schwer genug sein, aber der Trost des auf­erstandenen Christus ist stärker. Es ist der Trost, der auch unserm Glaubens­bruder durch die letzten dunklen Stunden hindurch­geholfen hat, der Trost, der kaum klarer zum Ausdruck kommt als in der Verheißung des Herrn, die wir eben betrachtet haben: „Ich bin die Auf­erstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1987.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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