Der Heilige Geist – das lebendige Wasser

Predigt über Johannes 7,37‑39 zum Sonntag Exaudi

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Von allen Pfingst­liedern in unserem Gesangbuch enthält über die Hälfte die aus­drückliche Bitte: „Komm, Heiliger Geist!“ Das hat einmal einen Anhänger der Pfingst­kirche, der sich in einen luthe­rischen Gottes­dienst verirrt hatte, zu der Fest­stellung veranlasst: Ihr Lutheraner bittet dauernd darum, dass der Heilige Geist kommen soll; wir haben ihn bereits! Hat er nicht in gewisser Hinsicht recht? Redet nicht zum Beispiel die Apostel­geschichte oft von Christen, die „voll des Heiligen Geistes“ waren? Sollte das nicht für Lutheraner gelten? Und wenn doch, warum bitten wir dann immer wieder um den Heiligen Geist?

Ich möchte diese Frage erst am Schluss der Predigt be­antworten. Fragen, die den Heiligen Geist betreffen, sind oft nicht leicht zu klären. Wir bekennen zwar den Geist als die dritte Person der heiligen Drei­einigkeit, aber doch entzieht er sich unserer Vorstellung schneller als Gott der Vater und Gott der Sohn. Der Vater wird uns in der Heiligen Schrift durch menschliche Gleichnisse und Bilder nahe­gebracht, der Sohn ist sogar Fleisch geworden und hat sich uns als Mensch gezeigt. Aber der Geist? „Der Tröster“ nennt Jesus ihn einmal, was wörtlich heißt: der „Zurufer“. Bei Jesu Taufe erschien er in Gestalt einer Taube. In der Pfingst­geschichte wird er im Rauschen des Windes und durch Feuer­flammen wahr­genommen. In dem Wort, das wir eben gehört haben, vergleicht Jesus ihn mit „lebendigem Wasser“. Das alles fördert nicht gerade unsere Vorstellung vom Heiligen Geist als Person – und das muss wohl so sein. Gottes Offenbarung will unser Augenmerk nicht so sehr auf den per­sönlichen Charakter des Geistes lenken (obwohl sie ihn natürlich un­bestritten als Person bezeugt), sondern vielmehr auf sein Wirken, seine Kraft.

Dies geschieht auch in dem Abschnitt des Johannes­evangeliums, den wir hier betrachten. Es ist von einem Fest die Rede; es handelt sich um das Laubhütten­fest, das die Juden noch heute als Fest der Jahreswende feiern. Eine Woche lang wohnen sie in zelt­ähnlichen Laubhütten im Gedenken an die vierzig­jährige Wüsten­wanderung. Zu Jesu Zeit pilgerte man nach Jerusalem, um dieses Fest zu feiern. Es war gleich­zeitig eine Art Ernte­dankfest und gehörte neben dem jüdischen Passa- und Pfingstfest zu den jährlichen Haupt­festen. Das Laubhütten­fest wurde im Herbst gefeiert, nach der Wein- und Obsternte, genau ein halbes Jahr vor dem Passafest im Frühling. Jesus war nach anfäng­lichem Zögern zu diesem Fest nach Jerusalem gegangen – ein halbes Jahr vor jenem Passafest, an dem er gekreuzigt wurde, und knapp acht Monate vor dem ersten Pfingstfest der Kirche.

Jesus hatte die Chance der vielen in Jerusalem ver­sammelten Festpilger genutzt und an den Tagen des Laubhütten­festes im Tempel gepredigt. Am letzten Tag, dem Abschluss und Höhepunkt des Festes, fand auch sein Predigen einen Höhepunkt: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke! Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Jesus „rief“ dies, bezeugt der Evangelist Johannes, er schrie es in die Menge hinein wie ein orien­talischer Wasser­verkäufer: „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke!“ Trinkwasser ist in Palästina ein ziemlich wichtiger Stoff. Wer schon einmal dort war, kann bezeugen, wie quälend der Durst in diesem Klima werden kann. Man pflegte ihn damals nicht mit Wein, Bier, Fruchtsaft oder Limonade zu stillen, sondern meistens mit Wasser. Auch die Zeremonien des Laubhütten­festes haben mit Wasser zu tun. Mit einem goldenen Krug schöpfte man Wasser aus der Siloa­quelle, der Trinkwasser-Versorgung Jerusalems, und goss es über dem Brandopfer­altar aus – als zeichen­haftes Gebet, dass Gott auch im kommenden Jahr genug von dem lebens­wichtigen Nass geben möge. Jesus predigte also ganz aktuell und knüpfte mit seinen Worten an das an, was an diesen Festtagen und auch alltags die Menschen be­schäftigte.

Ob sie ihn aber verstanden? Da stand er nun und rief: „Alle herkommen, die Durst haben!“, und hatte keinen Wasserbehälter und kein Schöpf­gerät. Dabei versprach er auch noch, lebendiges Wasser zu geben – also fließendes Wasser, frisch dahin­strömendes Wasser, kein ab­gestandenes Zisternen­wasser. Und dann dieser merkwürdige Satz: „Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen.“ Natürlich kannte man die Ver­heißungen des Alten Testaments, an die Jesus hierbei dachte: „Ich will in der Wüste Wasser und in der Einöde Ströme geben, zu tränken mein Volk“ (Jesaja 43,20); „Ich will Wasser gießen auf das Durstige und Ströme auf das Dürre“ (Jesaja 44,3); „Wohlan alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser!“ (Jesaja 55,1); „Du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasser­quelle, der es nie an Wasser fehlt“ (Jesaja 58,11). Aber wie wollte Jesus diese Ver­heißungen erfüllen? Natürlich kannte man die Wasser­speier der kunstvollen römischen Brunnen, die mitunter die Gestalt von Menschen­leibern hatten. Aber wie wollte Jesus es be­werkstelli­gen, dass vom Leib eines lebendigen Menschen Wasser­ströme fließen?

Durch den Evan­gelisten Johannes erfahren wir, dass die Leute Jesus damals noch gar nicht verstehen konnten. Erst acht Monate später ging den Jüngern ein Licht auf – zu Pfingsten nämlich, als sie den Geist empfingen. Dann erst, aus der Rückschau, konnte Johannes kraft des Heiligen Geistes die Worte Jesu deuten: „Das sagte er aber von dem Geist, welchen empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn der Geist war noch nicht da, denn Jesus war noch nicht ver­herrlicht.“ Der Durst, von dem Jesus sprach, war Durst nach Gemein­schaft mit Gott, Durst nach Befreiung von der Sünden­schuld angesichts der Bürde des Mose-Gesetzes, Durst nach Heil und Leben. Diesen Durst stillt Jesus durch den Heiligen Geist. Und wer von diesem lebendigen Wasser trinkt, wer also an Jesus glaubt, der wird selbst zum Träger und Spender des Heiligen Geistes für andere: Von dessen Leib strömt der Geist, der bekennt sich vor der Welt zum Heil in Christus und wird auch in seinem Tun zu einem Licht der Welt.

Es ist ein wunderbares Geschehen, das Jesus hier mit wenigen Worten voraus­gesagt hat, das sich im Pfingst­geschehen erfüllte und das sich seither immer wieder erfüllt. Ich möchte es durch ein weiteres Bild vertiefen, damit es uns ganz anschaulich werde, und ich nehme da ein Stück Wasserrohr zuhilfe. Das Wasserrohr steht für einen Menschen, das Wasser ist der Heilige Geist. So ein Wasserrohr ist ein ganz nutzloser Gegenstand, wenn kein Wasser drin ist. So ist es auch mit uns Menschen. Gott hat uns geschaffen, dass wir mit ihm leben und Gemein­schaft haben sollen. Ein Mensch ohne den Heiligen Geist geht an dieser Bestimmung vorbei, er verfehlt seinen eigent­lichen Lebens­zweck. Er ist so nutzlos wie ein leeres Wasserrohr. Wohl dem Menschen, dem diese Erkenntnis geschenkt wird, denn dann wird sich Durst einstellen, das Verlangen nach Wasser. Gibt es nicht viele ungläubige Menschen, die sich leer vorkommen und keinen Sinn in ihrem Leben sehen? Sie sind leere Wasser­rohre! Sagen wir ihnen doch, dass es Wasser für sie zu trinken gibt, dass sie bei Jesus trinken und durch ihn ihr leeres Leben mit dem rechten Inhalt füllen können!

Wenn nun der Durst da ist und auch die Quelle bei Jesus bekannt ist, dann kann sich das Rohr mit Wasser füllen. Das spielt sich nicht automatisch ab. Es gefällt dem Wasser, also dem Heiligen Geist, durch das Wort des Evangeliums zu kommen und durch die Sakramente. Wer seinen Durst löschen will, muss sich dem Wort aussetzen, Predigten hören und in der Bibel lesen. Er muss auch getauft sein. Er muss zum Tisch des Herrn kommen, muss dort und Leib und Blut Christi unter Brot und Wein in Empfang nehmen. Hast du also Lebens­durst, fühlst du dich leer, fragst du nach dem Sinn deines Lebens, dann gibt es nur eins: Hin zum Wasser, dem Heiligen Geist, der durch die Gnaden­mittel zu haben ist! Das hat Christus ver­sprochen, darauf können wir uns fest verlassen, und auch die Weis­sagungen aus dem Alten Testament, die Jesus zitierte, machen dies ganz gewiss.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass uns alt­gewohnten Christen der Durst abhanden gekommen ist. Wie lustlos trinken wir oft das kostbare Nass des Heiligen Geistes, das uns in Wort und Sakrament angeboten wird! Wissen wir überhaupt, was Durst ist? Als Mittel­europäer sind wir verwöhnt durch teure Getränke und können uns kaum vorstellen, wie köstlich ein Schluck Wasser schmecken kann. Geht es uns auch so im geistlichen Leben? Sind wir zu sehr an Wort und Sakrament gewöhnt, um es noch als köstlich und erquickend zu empfinden? Das Problem, meine ich, liegt noch woanders. Ich denke, das Wasserrohr ist manchmal an seinem Ende verstopft. Der Christ trinkt den Geist, das Rohr füllt sich mit Wasser und ist dann sehr bald voll. Nichts rührt sich mehr, nichts fließt mehr hinein oder heraus. Dem entspricht zum Beispiel die Haltung von Konfir­manden, die sich schon bald nach der Konfir­mation nicht mehr sehen lassen. Sie denken, sie haben nun genug erfahren von Gottes Wort, sind voll davon und brauchen nicht mehr. Dabei geht es doch jetzt erst richtig los, jetzt erst kann der Christ aus der Fülle von Wort und Sakrament leben. Oder ich denke an den Christen, für den sein Christen­leben Privatsache ist. Zur privaten Erbauung liest er die Bibel und geht auch ab und zu in die Kirche, aber im Alltag lässt er sich nichts davon anmerken. Das Rohr ist verstopft! Dabei sollen doch nach Jesu Willen Ströme lebendigen Wassers vom Leib der Gläubigen fließen. Das Wasser muss lebendig sein, muss fließen; der Christ soll aus der Fülle des Geistes leben und seine Mitmenschen an dieser Fülle Anteil haben lassen. Ein Rohr, in dem das Wasser steht, ist genauso unnütz wie ein Rohr, in dem überhaupt kein Wasser ist. Erst wenn Wasser hindurch­fließt, erfüllt das Rohr seinen Zweck. Jeder, der reichlich den Geist trinkt, kann so ein Spender lebendigen Wassers werden. Seine Mitmenschen können merken, dass der Heilige Geist bei ihm am Werke ist, dass er über­sprudelt vor Freude über die Erlösung durch Jesus Christus. Der junge Mensch kann seine ganze Kraft, seinen ganzen jugend­lichen Überschwang hineinlegen in ein Leben für Christus. Der Mensch in den mittleren Lebens­jahren kann in seinem Beruf und in seiner Familie sich als um­sichtiger, liebevoller und opfer­bereiter Jünger Jesu erweisen. Der alte Mensch darf seiner Freude Ausdruck verleihen, dass er dem Paradies nun ganz nahe ist. Jeder, der von der Quelle der Gnaden­mittel den Geist trinkt und glaubt, wird über­sprudeln vor lauter Früchten des Heiligen Geistes.

Ja, so sollte es sein in unserem Leben. Und wenn es nicht so ist, dann dürfen wir heute und jeden Tag zum Vater gehen und uns um Jesu willen vergeben lassen. Wir dürfen an der Quelle des Evangeliums trinken und aufs neue eine Quelle lebendigen, frischen Wassers werden. Nun lässt sich die eingangs gestellte Frage leicht be­antworten: Haben wir den Heiligen Geist, oder haben wir es nötig, um ihn zu bitten? Beides ist richtig. Denn wenn wir rechte Wasserrohre sind, in denen das Wasser nicht steht, sondern wo es hindurch­fließt, dann sind wir einerseits stets voll Wasser, haben anderer­seits auch immer Durst nach mehr Wasser. So sollen wir ständig von der Quelle der Gnaden­mittel das frische Wasser des Heiligen Geistes trinken und können dabei doch gleich­zeitig voll Heiligen Geistes sein. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1985.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

 


 

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