Geistliche Blindheit und göttliches Licht

Predigt über 2. Korinther 4,3‑6 zum Epiphaniasfest

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Es gibt zwei Arten von Blindheit: die Blindheit der Augen und die Blindheit des Herzens. Letztere tritt wesentlich häufiger auf als erstere. Und das Tragische an der Blindheit des Herzens ist: Wer sie hat, der merkt das gar nicht. Er meint manchmal sogar, er habe einen besonders klaren Blick.

Der Herzens­blinde sieht all das Elend in der Welt und denkt: Es kann keinen Gott geben, denn der würde das nicht zulassen. Er sieht, dass man auch ohne Gott fröhlich sein etwas erreichen kann (vielleicht sogar mehr als unter den Beschrän­kungen der Zehn Gebote), und macht sich deshalb nicht die Mühe, Gottes Wege zu suchen. Er entdeckt mit ver­meintlichem Scharfblick Un­gereimt­heiten und Wider­sprüche in der Bibel und hält die Heilige Schrift deshalb für reines Menschen­werk. Am wenigsten aber erkennt er von Jesus Christus. Dass Gott in Jesus Mensch wurde und dass Jesus uns zugut leiden und sterben musste, dass kommt dem scharfen Verstand des Herzens­blinden wie Unsinn vor. Es wird ihm zur „Torheit des Kreuzes“, wie Paulus formu­lierte. In unserm Predigttext heißt es von den geistlich Blinden: „Ist nun unser Evangelium verdeckt, so ist es denen verdeckt, die verloren werden, den Un­gläubigen, denen der Gott dieser Welt den Sinn verblendet hat, dass sie nicht sehen das helle Licht des Evangeliums von der Herrlich­keit Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes.“ „Gott dieser Welt“ nennt Paulus hier ironisch den Teufel, dessen Blendwerk die geistliche Blindheit herbei­geführt hat.

Wir Christen können voll Lob und Dank sein, dass Gott an uns das große Heilungs­wunder getan und uns von solcher Blindheit des Herzens geheilt hat. Wir sehen ja im Glauben „das helle Licht des Evangeliums von der Herrlich­keit Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes“. Auch hat Gott „einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben“. Wir dürfen nicht nur mit unsern leiblichen Augen das Licht der Sonne und die Schönheit dieser Welt sehen, sondern wir dürfen mit unserm Herzen auch das göttliche Licht erkennen.

Darüber freuen wir uns besonders heute am Epiphanias­tag. Ephanias heißt „Er­scheinung“ und meint die Erscheinung der Herrlich­keit Christi, die wir nicht im Licht der Sonne, sondern nur im Licht des Evangeliums erkennen können. In diesem wunderbaren Licht sehen dann unsere Herzen die herrliche Welt von Gottes Neu­schöpfung. Haben wir zum Christfest vor allem Stall und Krippe vor Augen gehabt und an Gottes Er­niedri­gung gedacht, so denken wir heute besonders daran, dass dieses Christkind „Gott von Art“ ist, nämlich Gottes Sohn und das Ebenbild des lebendigen Gottes. Er ist der Herr über Himmel und Erde, der König der ganzen Welt, und auch mein ganz persön­licher Herr und König. Der Weihnachts­stern strahlt etwas von diesem über­irdischen Licht wider. Die königlichen Geschenke der Weisen deuten auf die göttliche Majestät Jesu hin. Maler vergangener Jahr­hunderte, die mit dem Herzen sehen konnten, haben das Christkind mit einem Heiligen­schein gemalt – ein Symbol für den Abglanz göttlicher Herrlich­keit. Wer diesen Schein im Herzen hat, der sieht auch heute Gottes Wort und die ganze Welt in diesem andern Licht. Gottes Wort wird dann „unsers Fußes Leuchte“ und „ein Licht auf unserm Wege“ (Ps. 119,105). Gott spricht uns darin persönlich an, erscheint uns wunderbar herrlich, erscheint uns in Christus, tröstet uns, stärkt uns, mahnt uns, ermuntert uns und macht uns große Ver­heißungen für die Zukunft. Damit wird die Bibel zum größten Schatz auf Erden. Der Kummer und das Elend der Welt machen uns nicht sprachlos und verbittert, sondern sind dem Jünger Jesu eine Bestätigung dafür, dass er auf dem Weg des Meisters nachfolgt. Der Krone geht das Kreuz voraus; es gibt kein Ostern ohne Karfreitag und keinen Epiphanias-Glanz ohne Stall-und-Krippen-Elend. Das Elend ist die kleine Zeit des Leides, die uns Christen vorhergesagt ist, ehe die ewige Herrlich­keit beginnt. Sie ist ein Durchgangs­stadium, in dem Satan, obwohl er schon besiegt ist, noch ein wenig wüten kann. Darum braucht ein Christ im Lichte Gottes nicht an seinem Kreuz zu ver­zweifeln, sondern kann es getrost aufnehmen.

Geistlich Blinde und geistlich Sehende – diese beiden Gruppen gibt es, und von beiden ist in unserm Textwort die Rede. Da drängt sich nun eine schwierige Frage auf: Warum muss es denn diese beiden Gruppen gehen? Könnte Gott nicht alle Blinden heilen? Könnte er nicht an allen das Wunder des Glaubens tun? Warum schenkt er uns den Glauben, andern aber nicht?

Man hat ver­schiedene Antworten gesucht. Die römisch-katholische Kirche und der Pietismus meinen, dass der Mensch es selbst in der Hand habe, ob er zu den Blinden oder den Sehenden gehören will – wenigstens zu einem kleinen Teil. Wenn ein Mensch nur ein bisschen guten Willen signali­siert, dann schenkt ihm Gott den hellen Schein ins Herz. Im Calvinis­mus dagegen meint man, Gott wolle gar nicht, dass alle Menschen gerettet werden, darum mache nur die Aus­erwählten sehend – sozusagen seine Lieblinge. Beide Erklärungen sind Versuche, das Un­begreif­liche, was Gott uns in der Bibel offenbart, in ein logisches System zu pressen. Aber genau das ist der Fehler. Gottes Wege mit den Menschen können nicht im Licht der Vernunft begriffen werden. Aber das wollen viele nicht wahrhaben. Stattdessen wollen sie am liebsten neben Gott auf den Feldherren­hügel steigen, ihm in die Karten schauen und dann die Welt­geschichte wie er sehen und begreifen. Das ist aber Über­heblich­keit, das ist Sünde gegen das 1. Gebot – die Sünde schlecht­hin, das Wie-Gott-sein-Wollen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir selber nur Staub­körnchen der Schöpfung sind, in deren Spatzen­gehirnen Gottes ewige Pläne keinen Platz haben. Darum sagt uns Gott nur das, was uns zu wissen Not tut. Er legt seine Karten nicht auf den Tisch. Wir können als Christen nicht mit den Ideologien und Philo­sophien konkur­rieren, die versuchen, die Welt naht- und lückenlos zu erklären – und die dabei übrigens kläglich scheitern.

In der luthe­rischen Theologie hat man das akzeptiert und sagt: Wir wollen uns gar kein System schaffen, mit dem wir erklären können, warum einige geistlich sehen und andere geistlich blind sind. Wir freuen uns einfach über das, was Gott uns gezeigt hat, und versuchen es nach­zusprechen. Nicht Überein­stimmung mit Logik und Vernunft, sondern Treue zu Gottes Wort ist unsere Leitlinie. Wenn wir davon ausgehen, können wir zu unsrer kniffligen Frage Folgendes sagen: Wenn Menschen geistlich blind sind, dann liegt das daran, dass sie unter dem Einfluss des Teufels stehen, des „Gottes dieser Welt“, wie Paulus ihn ironisch nennt. Wenn wir aber geistlich sehen, dann liegt das einzig und allein an Gottes Wundertat, dass er uns den Glauben geschenkt hat. Diese Wundertat ist mit dem Wunder der Schöpfung aus dem Nichts vergleich­bar, wie Paulus schrieb: „Gott, der da hieß das Licht aus der Finsternis hervor­leuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben.“

Gott möchte nun, dass dieser helle Schein weiter­strahlt  – auch in die Herzen der geistlich Blinden, damit sie sehen – keinen schließt er von vornherein aus: „Er hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlich­keit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“ So ist auch der Predigt­dienst des Apostels Paulus zu versteben, der grund­sätzlich allen gilt.

Diese Fest­stellungen geben uns, wie gesagt, keine Formel an die Hand, mit der wir geistliche Blindheit und Erleuchtung umfassend erklären können. Aber sie reichen aus, um einerseits unsere Erleuchtung im rechten Licht zu sehen und anderer­seits mit geistlich Blinden richtig umzugehen.

Folgendes ist somit die praktische Summe aus diesen Über­legungen: Einserseits ist unsere Erleuchtung kein Grund, uns zu rühmen; sie ist vielmehr ein Grund, Gott zu rühmen, der dieses Wunder an uns getan hat. Wenn ich sage: Ich bin ein Christ und ich glaube an Jesus Christus, dann rühme ich damit nicht mich selbst, sondern dann gebe ich damit allein Gott die Ehre. Anderer­seits sollen wir im geistlich Blinden einen Mitmenschen sehen, an dem Gott dasselbe Wunder tun möchte. Wir sollten uns folglich fragen, wie wir für diesen Menschen Gottes Werkzeug werden und das Licht des Evangeliums leuchten lassen können.

Damit sind wir beim praktischen Zielthema von Epiphanias, dem Thema Mission. Mission ist ja nicht nur eine Sache der Profis, die in Afrika oder sonst irgendwo weit weg das Evangelium predigen. Vielmehr geschieht Mission überall da, wo geistlich Sehende mit geistlich Blinden Kontakt haben. Und aus dem, was wir eben über diese beiden Gruppen bedacht haben, ergibt sich Einiges für den praktischen Umgang mit geistlich Blinden.

Erstens: Wir sollen sie nicht verachten, sondern lieben, wie auch Christus ausnahmslos alle Menschen liebt. Einem Blinden kann man nicht vorwerfen, dass er nichts sieht. Wenn Ungläubige schreck­liche Dinge tun, wenn sie fluchen, lästern, huren, lügen und betrügen, dann haben wir keinen Grund, uns moralisch über sie zu entrüsten. Weil unsere Gesell­schaft nicht mehr durch und durch christlich geprägt ist, ist es das Natür­lichste von der Welt, dass sich Ungläubige so verhalten; wir können sie nicht mit moralischen Vor­haltungen davon abbringen. Sie werden nicht eher ihr Tun als Sünde erkennen, bis der Schein des Evangeliums in ihr Herz kommt.

Zweitens: Wir sollten die Herzens­blinden nicht für sehend halten. Im Bereich mensch­licher Wissen­schaft mögen sie zwar einen weitaus schärferen Blick haben als wir selbst, aber wenn sie Aussagen über göttliche Dinge machen, müssen sie im Dunkeln tappen. Ich denke hier an bestimmte Aussagen der Psychologie über die Seele oder an bestimmte Aussagen der Biologie über die Entstehung des Lebens. Vor allem aber müssen geistlich Blinde ein schiefes Bild von Jesus haben. Er mag für sie Vorbild, Religions­stifter, Re­volutio­när und sogar Wundertäter gewesen sein. Dass er aber der Fleisch gewordene Gott ist, der um unserer Sünde willen starb und auferstand und der zum letzten Gericht für alle sichtbar wieder­kommen wird, das können nur die erkennen, die den Schein des Evangeliums im Herzen haben.

Drittens: Wir sollten uns nicht selbst für blind halten. Natürlich kommen Stunden der Anfechtung und des Zweifels, die bestimmt auch vom Umgang mit Nicht­christen herrühren. Aber auch wenn unser Herz unter Sehschwäche leidet, sind und bleiben wir Sehende. Wer schlecht sieht, ist ja noch lange nicht blind. Der helle Schein des Evangeliums mag ihm matt und schwach vorkommen, aber er kann ihn sehen, und er weiß: Wenn er matt und schwach erscheint, dann liegt das nicht an dem Schein selbst, sondern an seinen schwachen Augen.

Viertens: Wir können in Glaubens­dingen niemanden mit Argumenten überzeugen. Man kann auf einen Blinden noch so überzeugend einreden, er solle doch nur richtig hinschauen, dann werde er die Farben schon unter­scheiden können – es wird nichts nützen. Man kann einem Blinden eigentlich nur be­schreiben, was man selber sieht. Zu nichts mehr sind wir aufgerufen: bezeugen, was wir im Lichte des göttlichen Scheins sehen. Wir können mit Wort und Tat nur etwas von Gottes Evangeliums-Liebe wider­spiegeln.

Fünftens: Wir dürfen nie vergessen, dass geistliches Sehen ein Wunder ist, das Gott wirkt, wann und wo er will. Und wenn wir in der Bibel darauf achthaben, wie Gott Wunder tut, dann werden wir fest­stellen: Er tut sie immer durch sein Wort. Jesus sagte zum Beispiel zu einem Toten: „Steh auf!“ Daraufhin erhob sich der Tote – aber nicht, weil er dem Befehl Jesu nachkommen konnte, sondern weil dieser Befehl ein wirk­kräftiges Gotteswort war, so wie einst sein Wort: „Es werde Licht!“ Nicht kluges mensch­liches Denken, sondern Gottes Wort muss im Mittelpunkt stehen, wenn wir andern das Wunder wünschen, dass ihr Herz sehen möge. Dabei sollte die Fürbitte auf keinen Fall zu kurz kommen – Gott möchte ja, dass seine Wunder von uns erbeten werden. Die Fürbitte ist ebenso wichtig wie der liebevolle, ans Wort gebundene Umgang mit den geistlich Blinden. So lasst uns heute am Epiphanias­tag sowie allezeit für die Mission, für die Erleuchtung der geistlich Blinden bei uns und anderswo, inständig bitten. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1984.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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