Die Freiheit der Gotteskinder

Predigt über Johannes 8,31-36 zum Reformationstag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Mit dem heutigen Reformations­fest beginnt das fünf­hundertste Jahr nach Luthers Thesen­anschlag. Schon seit längerer Zeit sind kirchliche und weltliche Medien voll von diesem Ereignis. Auch vor hundert, zweihundert und dreihundert Jahren hat man ein Reformations­jubiläum groß gefeiert, wobei je nach gerade herrschendem Zeitgeist verschiedene Schwerpunkte gesetzt wurden. Wer sich über den Charakter unseres bevor­stehenden Luther­jubiläums bereits etwas informiert hat, dem ist wahr­scheinlich aufgefallen: Diesmal wird die Reformation vor allem als Fest der Freiheit gefeiert. Zum Beispiel werden zur sogenannten „Welt­ausstellung Reformation“ in Wittenberg sieben „Tore der Freiheit“ aufgestellt, die den Blick in die Zukunft öffnen wollen. Tatsächlich ist man mit dem Thema Freiheit dicht an Luther und seinem reforma­torischen Anliegen dran: Eine seiner bekanntesten und wichtigsten Schriften trägt ja den Titel „Von der Freiheit eines Christen­menschen“.

Nun ist das mit der Freiheit allerdings so eine Sache: Es handelt sich um ein großes Wort, mit dem man ganz verschiedene Dinge verbinden kann – ähnlich wie mit den Wörtern „Gerechtig­keit“, „Frieden“ und „Liebe“. Freiheit kann bedeuten, dass etwas fehlt: Das zuckerfreie Getränk zum Beispiel enthält keinen Zucker. Freiheit kann auch einen Freiraum meinen: Im wörtlichen Sinne wäre das die Reise­freiheit oder die Bewegungs­freiheit, im übertragenen Sinne die Presse­freiheit oder die Meinungs­freiheit. Freiheit ist nicht in jedem Fall etwas Positives: Luther wurde auf dem Reichstag zu Worms für vogelfrei erklärt – das bedeutet, dass niemand ihn unterstützen durfte und dass jeder ihn ungestraft totschlagen konnte. Die Religions­freiheit, Glaubens­freiheit oder Gewissens­freiheit ist zwar grund­sätzlich ein gutes und wichtiges Grundrecht, aber wir müssen uns dabei im Klaren sein, dass es auch irre­führenden und falschen Glauben gibt. Und wenn ein Mensch von der Freiheit Gebrauch macht, an gar nichts zu glauben, dann darf er das zwar, aber dann tut ihm das letztlich nicht gut. Schließlich gibt es noch die ganz weit gefasste Vorstellung von Freiheit, dass einer tun und lassen kann, was er will – jedenfalls so lange, wie er damit keinem anderen schadet. Diese Art von Freiheit nennt man auch „Selbst­bestimmung“ oder „Autonomie“. Manche Leute meinen, dass die Selbst­bestimmung die Freiheit der Reformation war und dass sie die Menschen aus der Knechtschaft oder Unmündigkeit des Mittelalters heraus­geführt habe. Das aber war eigentlich gar nicht Luthers Anliegen.

Luther hatte ursprünglich ganz andere Sorgen als die Freiheit. Als er Mönch wurde, nahm er die harten Ein­schränkungen des Kloster­lebens willig auf sich. Frei sein wollte er lediglich von der Sünde, die ihn quälte. Seine große Sehnsucht richtete sich darauf, Gott nahe zu sein, in Gott geborgen zu sein, und zwar für alle Ewigkeit. Darin glich Luther den Juden zur Zeit Jesu: Sie folgten ihm nach, weil sie Sehnsucht nach Gottes Reich hatten. Unfrei fühlten sie sich nicht, sondern sie sagten stolz: „Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen.“

Vielleicht ist das auch so bei uns europäischen Christen des 21. Jahr­hunderts. Unfreiheit ist kein großes Problem für uns, denn wir haben mehr persönliche Freiheiten als Menschen jemals zuvor. Wie die Juden zu Jesu Zeit können wir sagen: „Wir sind niemandes Knecht.“ Es kann also sein, dass uns das inoffizielle Jubiläums­motto „Re­formator der Freiheit“ nicht vom Hocker reißt. Schon eher tragen wir Luthers Sehnsucht nach Gottes Nähe und Liebe in uns. Unser Glaube ist angefochten in dieser gottlosen Zeit – wenn auch anders angefochten als bei Luther. Während Luther mit seiner Zeit daran zweifelte, ob Gott ihm im Jüngsten Gericht gnädig sein werde, zweifeln wir mit unserer Zeit daran, ob Gott überhaupt so ist, wie ihn die Bibel darstellt. Aber die Sehnsucht ist dieselbe: Wir möchten gewiss werden, dass Gott uns nahe ist und dass wir bei ihm geborgen sind. Mit Freiheit scheint das wenig zu tun zu haben.

Und doch hat es mit Freiheit zu tun, sehr viel sogar. Das wird deutlich, wenn wir uns auf das kleine Gleichnis einlassen, das Jesus in unserem Predigttext erzählt. Es besteht nur aus einem einzigen Satz: „Der Knecht bleibt nicht ewig im Haus, der Sohn bleibt ewig.“ Das Gleichnis geht von einem antiken Haushalt aus, wo eine Mehr­generationen-Familie mit Knechten und Mägden zusammen­lebte. Diese Knechte und Mägde waren unfrei, gewisser­maßen Leibeigene. Sie durften nicht einfach kündigen, aber sie hatten andererseits auch kein Recht, immer in dem Haushalt zu bleiben. Der Hausvater konnte sie verkaufen oder verstoßen, wenn er wollte. Bei seinen Kindern war das anders: Die hatten die Freiheit zu gehen und ebenso die Freiheit zu bleiben. Beide Freiheiten bekommen wir in einem anderen Gleichnis vor Augen geführt, in einem ganz ausführlich erzählten Gleichnis, nämlich im Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Der jüngere von zwei Söhnen nahm die Freiheit zu gehen für sich in Anspruch: Er ließ sich sein Erbe vorzeitig auszahlen und zog fort. Der Ältere aber nahm die Freiheit zu bleiben für sich in Anspruch und arbeitete immer treu im väterlichen Haushalt mit.

Diese Gleichnisse handeln vom Reich Gottes, wie alle Gleichnisse Jesu. In Gottes Haushalt haben wir die Freiheit zu gehen und die Freiheit zu bleiben, denn wir sind Gottes Kinder. Wer aber die Freiheit zu gehen in Anspruch nimmt, der verlässt damit das Reich des Vaters und gelangt in ein fremdes Land, in den Herrschafts­bereich des Teufels nämlich. Zunächst meint er, dass er auch dort frei ist – vielleicht sogar noch freier als in Gottes Reich: Er braucht keine Rücksicht mehr auf den himmlischen Vater und seine Gebote zu nehmen, sondern kann völlig selbst­bestimmt leben. Der jüngere Sohn im Gleichnis genießt diese ver­meintliche Freiheit in vollen Zügen – aber nur, solange das Geld reicht, das der Vater ihm mitgegeben hat. Danach findet er sich als Knecht wieder, als Unfreier, als Schweine­hirt. So geht es jedem Menschen, der sich die Freiheit nimmt, Gottes Haushalt zu verlassen und selbst­bestimmt zu leben. Früher oder später wird ihm unangenehm bewusst werden, dass er unfrei geworden ist, ein „Knecht der Sünde“, wie Jesus es formulierte. Denn die Sünde, also ein Leben losgelöst von Gott und seinen Ordnungen, ist eine Rutschbahn: Hat man sich erstmal drauf­gesetzt, so geht es immer weiter abwärts, ob man will oder nicht. Wer von der Freiheit, Gott zu verlassen, Gebrauch macht, landet in der Gefangen­schaft der Sünde und damit letztlich im Elend.

Was kann ich da machen?, fragt der Sünder verzweifelt. „Wer wird mich erlösen von diesem tod­verfallenen Leibe?“, fragte der Apostel Paulus (Römer 7,24). „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“, fragte Martin Luther. Unser Herr Jesus Christus gibt die Antwort. Es ist dieselbe Antwort, die er damals seinen jüdischen Jüngern gab, noch bevor sie die verzweifelte Frage stellten, ja, noch bevor sie sich der Sünden­knechtschaft überhaupt richtig bewusst geworden waren: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen… Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei.“ Da verstehen wir, um welche Freiheit es hier geht: die Freiheit der Gottes­kinder, die Jesus schenkt. Am Kreuz hat Jesus die Befreiung aller Menschen bewirkt, und in seinem Wort hat er diese Freiheit verkündigt. Es ist die Freiheit zur Umkehr, zur Heimkehr. Niemand kann sich diese Freiheit selbst nehmen, denn wer sich auf der Rutschbahn der Sünde befindet, ist der Schwerkraft des Bösen aus­geliefert. Jesus aber hat diese Schwerkraft des Bösen überwunden und macht einen Neuanfang möglich. Auch der Verlorene Sohn empfing diese Freiheit zur Umkehr, obwohl er nur noch ein armseliger Knecht war. Er konnte umkehre und heimkehren; der Vater wartete schon auf ihn und nahm ihn mit Freuden auf. Nicht die Freiheit wegzugehen ist also ent­scheidend, auch nicht die Freiheit zu bleiben, sondern diese neu geschenkte Freiheit umzukehren.

Damit sind wir beim Kern der Reformation, ja, beim Kern des Christseins, wie Luther ihn mit großer Klarheit in der Heiligen Schrift erkannt hat. Es ist kein Zufall, dass die erste seiner 95 Thesen von der Buße handelt und sagt, dass das ganze Christen­leben Buße sein soll, also Umkehr, Heimkehr in Gottes Reich. Davon handelt auch der erste Teil seiner Reformations­schrift „Von der Freiheit eines Christen­menschen“: Der durch Christus erlöste Mensch ist kein Knecht der Sünde mehr, sondern ein freies Gotteskind im Haus des himmlischen Vaters. Der zweite Teil dieser Schrift handelt dann vom rechten Gebrauch dieser Freiheit – gewisser­maßen von der neu gewonnenen Freiheit zu bleiben: Da macht sich der Christ nach dem Vorbild des Vaters daran, seinen Mitmenschen zu dienen – so hin­gebungs­voll, wie ein treuer Knecht dient. Er tut es, weil er das Evangelium von Jesus Christus erkannt hat und sein Jünger geworden ist. Wie sagte doch der Herr? „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, vielleicht geht es dem einen oder anderen von euch ja so wie den Juden damals, die Jesus nachfolgten: Vielleicht ist euch die Knechtschaft der Sünde in eurem Leben noch gar nicht richtig bewusst geworden. Lasst euch trotzdem das sagen, was Jesus damals gerade auch ihnen gesagt hat: Auch ihr habt Befreiung nötig – die Freiheit der Umkehr, die Freiheit der Heimkehr. Und auch ihr bekommt sie geschenkt, weil Jesus euch durch sein Opfer am Kreuz befreit hat. In diesem Evangelium – und nur in ihm! – finden wir die Gewissheit, dass Gott uns nahe ist, dass er uns lieb hat und dass wir bei ihm für immer geborgen sind. Kurz: In diesem Evangelium finden wir die rechte Freiheit der Gottes­kinder. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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