Die Zungenrede

Predigt über 1. Korinther 14,1-25 zum 2. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Heute möchte ich mit euch über die Zungenrede sprechen, auch Glossolalie oder Sprachen­gebet genannt. Nun ist ja die Zungenrede eigentlich kein Thema in der lutherischen Kirche; sie kommt so gut wie gar nicht vor. Anders ist das bei den Pfingstlern; die legen großen Wert auf Zungenrede. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Gottes Wort uns einiges zur Zungenrede sagt; darum sollten wir dieses Thema nicht einfach unter den Tisch fallen lassen.

Lasst uns zunächst der Frage nachgehen: Was ist das eigentlich, die Zungenrede? Wir alle wissen, dass unsere Zungen für das Sprechen ganz wichtig sind; ohne Zunge könnte niemand richtig sprechen. Darum werden seit alters die ver­schiedenen Sprachen auch „Zungen“ genannt. Ich rede jetzt zu euch in deutscher Zunge; in anderen Ländern wird in anderen Zungen gepredigt. Zu Pfingsten sprachen die Apostel in ver­schiedenen Zungen, so wie der Heilige Geist sie ihnen eingegeben hatte, und die Menschen aus fremden Ländern verstanden sie. Nun hören wir in der Bibel aber nicht nur von ver­schiedenen menschlichen Sprachen, sondern auch von himmlischen Sprachen, wie sie die Engel sprechen; daher kommt unsere Redewendung: „mit Menschen‑ und mit Engelzungen reden“. Wir hören auch davon, dass der Heilige Geist einen Christen befähigen kann, solche nicht-menschlichen Sprachen zu sprechen. Genau das ist mit Zungenrede gemeint: Ein Christ lobt Gott mit Worten, die Außen­stehenden wie Kauderwelsch vorkommen; es kann ein Lallen sein oder ein Seufzen oder vielleicht auch nur ein stummes Bewegen der Lippen oder sogar eine Impro­visation auf einem Musik­instrument. Jedenfalls kommuniziert da jemand mit Gott in einer Sprache, die in keinem Land der Welt gesprochen wird; sie wird auch nicht vom Verstand gesteuert.

Der Apostel Paulus hielt große Stücke vom Zungenreden. Auch er selbst betete manchmal in Zungen. Im Römerbrief schrieb er: „Wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit un­aussprech­lichem Seufzen“ (Römer 8,26). Ja, manchmal ist ein Stoßseufzer zu Gott ein besseres und ehrlicheres Gebet als viele fromme Worte.

Im 1. Korinther­brief aber hat Paulus sich mit einem Missbrauch der Zungenrede auseinander­gesetzt. Dieser Missbrauch war in der christlichen Gemeinde in Korinth eingerissen. Da war es nämlich üblich geworden, dass Gemeinde­glieder im Gottesdienst aufstanden und lange Gebete in un­verständ­lichen Sprachen von sich gaben. Paulus sagt nun nicht, dass das nur eine fromme Show sei und dass diese Christen mit ihrer Gabe der Zungenrede bloß angeben wollen; das mussten die schon mit sich selbst in ihrem Gewissen klären. Paulus macht ihnen vielmehr klar, dass solcher Gebrauch der Zungenrede lieblos und egoistisch ist. Genau darum geht es in dem langen Abschnitt aus dem 14. Kapitel des 1. Korinther­briefs, den ich als Predigttext vorgelesen habe.

Warum lieblos und egoistisch? Ganz einfach: Weil niemand in der Gemeinde von dieser Zungenrede Gewinn hat außer dem Zungen­redenden selbst. Niemand kann da mitbeten, niemand wird dadurch getröstet, niemand kann dadurch etwas lernen. Paulus vertieft dieses Argumente mit einer Reihe von Beispielen. Er sagt: Nehmen wir mal ein Musik­instrument, zum Beispiel eine Flöte oder eine Harfe. Zugenrede ist so, wie wenn jemand immer nur einen einzigen Ton darauf spielt; niemand könnte dann eine Melodie erkennen. Und Paulus sagt: Nehmen wir mal eine Signal­posaune, die im Ver­teidigungs­fall die Soldaten mit einem bestimmten Signal zusammen­rufen soll. Wenn nun jemand ein unbekanntes Signal darauf bläst, wird kein Mann regagieren. Und Paulus sagt: Nehmen wir mal eine Fremd­sprache, die niemand der Anwesenden versteht. Zungenrede ist so, wie wenn jemand in dieser Fremdsprache predigen oder beten würde. Die Gemeinde hätte erst dann etwas davon, wenn jemand das Gesagte in ihre Sprache übersetzt. Paulus macht den Korinthern also klar: Wenn Zungenrede nicht in Klartext übersetzt wird, dann hat sie im Gottesdienst nichts zu suchen.

Es ist kein Zufall, dass Paulus diese Erörterung direkt an das berühmte Hohelied der Liebe an­geschlossen hat, das so beginnt: „Wenn ich mit Menschen‑ und mit Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle“ (1. Kor. 13,1). Er zeigt dann: Zungenrede ohne Übersetzung ist lieblos und egoistisch, denn sie hilft der Gemeinde ebensowenig wie das scheppernde Geräusch einer Kuhglocke. Was der Gemeinde dagegen hilft und sie im Glauben auferbaut, das sind klar ver­ständliche Worte der Ver­kündigung. Paulus nennt sie „pro­phetische Rede“. Er hat geschrieben: „Ich will in der Gemeinde lieber fünf Worte reden mit meinem Verstand, damit ich auch andere unterweise, als zehntausend Worte in Zungen.“ Die Korinther könnten jetzt einwenden: Glaube hat doch nichts mit Verstand zu tun; wir wollen kindlich glauben, fröhlich und spontan! Darauf erwidert Paulus: „Seid nicht Kinder, wenn es ums Verstehen geht, sondern seid Kinder, wenn es um Böses geht; im Verstehen aber seid vollkommen.“ Mit anderen Worten: Das Kindliche am Glauben ist das vorbehalt­lose Vertrauen zu Gott, nicht jedoch das Ausschalten des Verstandes. Gottes Wort will gehört und verstanden werden, und der Verstand ist eine gute Gabe Gottes.

Zungenrede ist aber nicht nur lieblos und egoistisch gegenüber der Gemeinde, sondern auch gegenüber Gästen im Gottes­dienst, die noch keine Christen sind. Die Zungenrede macht ihnen zwar gleichnis­haft klar, dass sie von Gottes Wort nichts kapieren, aber sie hilft ihnen nicht, dass das anders wird. Wenn Außen­stehende eine sinnfrei lallende, stammelnde, seufzende und jauchzende Gemeinde antreffen, dann werden sie denken: Die sind verrückt. Wenn aber die Gemeinde­glieder sich auf die Gäste einstellen und ihnen ein klares Zeugnis geben, dann besteht die Chance, dass sie zum Glauben kommen.

Nun scheint diese ganzer Erörterung ja kaum etwas mit uns und unserem Gottesdienst zu tun zu haben. Wie gesagt: Die Zungenrede ist eigentlich kein Thema in der lutherischen Kirche. Oder doch? Drei Dinge, so meine ich, können wir aus diesem Gotteswort für uns mitnehmen.

Erstens: Wenn du für dich allein beten willst, dann ist es nicht unbedingt nötig, klare und sinnvolle Wörter zu verwenden. Gott versteht dich auch, wenn du mit ihm so redest, wie dir gerade zumute ist, auch wenn das kein anderer Mensch verstehen kann. Jauchze oder seufze also nach Herzenslust zu Gott; habe keine Angst vor solcher Zungenrede! Auch der Apostel Paulus hat so mit Gott geredet, und viele andere Christen haben es getan. Es ist besser, du redest mit Gott in Zungen, als dass du überhaupt nicht mit ihm redest.

Zweitens: Wir reden in unseren Gottes­diensten zwar nicht mit Engels­zungen, aber doch kommen auch in unserem Gottesdienst fremde Zungen vor – Wörter, die Außen­stehenden und selbst treuen Gemeinde­gliedern nicht geläufig sind. wir sagen „halleluja“ und „hosianna“ und „Kyrie eleison“; wir reden von „Erbarmen“ und „Frohlocken“ und „Benedeien“. Entsprechend dem Rat des Apostels Paulus sollten wir solche Begriffe sparsam verwenden und mehr nach klaren geistlichen Worten suchen, nach „pro­phetischer Rede“ also. Das heißt nun nicht, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten müssen: Altvertraute liturgische Begriffe und Gesänge, die die Christenheit schon jahr­hunderte­lang benutzt hat, brauchen wir nicht in einem liturgischen Bildersturm hinaus­zuwerfen. Aber wir sollten sie übersetzen und auslegen. So versuche ich immer wieder, die Bedeutung solcher Wörter zu erklären: „Halleluja“ heißt „Lobt den Herrn“; „hosianna“ heißt dasselbe wie „eleison“, nämlich „hilf doch“; „Kyrie“ heißt „Herr“; „erbarmen“ heißt „nicht im Stich lassen“, „frohlocken“ heißt „fröhlich springen“ und „benedeien“ bedeutet Gott sagen, wie gut man ihn findet.

Und drittens das Wichtigste: Hüten wir uns davor, lieblos und egoistisch zu sein – in welcher Weise auch immer. Nur weil Jesus liebevoll und selbstlos in die Welt gekommen ist, sind wir erlöst. Weil wir zu ihm gehören und an ihn glauben, soll das auch unsere Einstellung sein: Liebevoll und selbstlos für die anderen Menschen leben. Das gilt auch im Gottes­dienst: Wir sollen nicht nur zu unserer eigenen Erbauung hierher kommen, sondern auch aus Liebe zu unseren Mitchristen. Wenn wir im Gottesdienst mit klaren Worten unseren Glauben bekennen, fröhlich mitsingen und andachtsvoll mitfeiern, hilft das den anderen Christen im Gottesdienst zur Stärkung des Glaubens. Und wenn wir vor dem Gottes­dienst, nach dem Gottesdienst und auch im Alltag uns klar zu Jesus bekennen, wenn wir in seinem Namen auf andere zugehen und ihnen gute Worte sagen, dann hilft ihnen das mehr als jede abgehobene Frömmigkeit. So merken wir: Beim Thema Zungenrede und bei jedem Thema geht es letztlich auch immer um die Liebe. Wie begann doch Paulus seine Ausführungen über die Zungenrede? Er begann mit dem Satz: „Strebt nach der Liebe!“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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