Versuchung und Sünde

Predigt über Johannes 13,21-30 zum Sonntag Invokavit

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Es ist sinnlos darüber zu grübeln, warum wir Menschen nach wie vor Sünder sind. Es ist sinnlos darüber zu grübeln, warum der Teufel uns immer noch versucht. Es ist sinnlos darüber zu grübeln, warum Gott das Böse nicht schon längst ausgerottet hat. Solange wir in dieser Welt leben, werden wir keine Antwort finden, die unseren Verstand restlos befriedigt. Nur soviel können wir sagen: Das Böse ist das Risiko der Freiheit. Wenn Gott alle seine Engel zwanghaft gehorsam erschaffen hätte, dann wäre Satan mit seinem Gefolge nicht zu Gottes Wiedersacher geworden. Und wenn Gott den Menschen keinen freien Willen gegeben hätte, dann hätte Adam sich niemals zur Sünde verleiten lassen, ebensowenig wie Eva. Nun aber wollte Gott freie Engel und freie Menschen haben – mit dem Risiko, dass sie sich von ihm abwenden und böse sein können. Es ist sinnlos darüber zu grübeln, warum Gott das wollte; wir müssen es einfach zur Kenntnis nehmen. Es wäre ein Fehler so zu tun, als ob es die Macht des Bösen nicht gäbe und die Menschen gewisser­maßen nur aus Versehen Böses tun. Wenn man gegenwärtig wahrnimmt, was in der Welt Schlimmes passiert, dann wäre diese Ansicht geradezu naiv. Aber viele glauben trotzdem, man müsse nur nett und verständnis­voll zu den Menschen sein und sie gut erziehen, dann würden sie vernünftig werden und nichts Böses mehr tun. Alle ent­sprechenden Bemühungen sind bisher mehr oder weniger fehl­geschlagen. Es gilt nach wie vor: Auch in den edelsten Völkern und in den besten Familien kommt das Böse immer wieder zum Vorschein. Selbst in Jesu Jüngerkreis war das so, obgleich die Jünger unter dem besten Einfluss standen, den man sich denken kann.

Damit sind wir bei Judas und bei seinem Verrat. Sein Fall ist ziemlich gut dokumentiert in der Bibel. Unser Predigttext ist ein Ausschnitt davon. Die Versuchung begann aber schon eher, einen Tag vor dem besagten Abendmahl. Bereits am Anfang des 13. Kapitels schreibt der Evangelist Johannes, dass „der Teufel dem Judas, Simons Sohn, dem Iskariot, ins Herz gegeben hatte, ihn zu verraten.“ Und die anderen Evangelisten berichten davon, dass Judas dem amtierenden Hohen­priester und seinem Leitungs­gremium angeboten hatte, ihnen Jesus bei günstiger Gelegenheit aus­zuliefern. Warum tat ein Jünger das – einer von Jesu Freunden? Über die Motive des Verräters ist viel spekuliert worden. War Judas neidisch auf Jesus? Oder war er enttäuscht von ihm? Oder wollte er ihn provozieren, dass er endlich seine wahre Macht zeigt? Oder war er einfach nur geldgierig? Oder hatte er Angst? Die Bibel sagt lediglich, dass der Teufel ihn versuchte. Judas stand somit an einer Weggabelung: rechts der Weg der treuen Jesus­nachfolge, links der Weg des Verrats. Irgendwie verlockte ihn der Teufel, den linken Weg zu wählen, den bösen. Aber noch war nichts entschieden, noch konnte Judas zurück.

Noch heute versucht der Teufel Menschen in gleicher Weise. Da wird ein Mensch von jemandem enttäuscht, der ihm nahesteht und den er bisher sehr geschätzt hat – vielleicht ein Verwandter, ein Freund, oder sogar der Ehepartner. Und da versucht der Teufel den Menschen, ihm diese Enttäuschung heim­zuzahlen. Es sind zunächst nur finstere Gedanken und ein unbestimmter Groll. Aber da quellen aus seinem Herzen auch schon konkrete Pläne, wie er den bisherigen Freund demütigen kann, bloßstellen, ärgern oder schädigen. Wer hätte etwas davon? Niemand. Was könnte damit erreicht werden? Nichts Gutes. Trotzdem fühlt sich der Mensch an seiner Weggabelung versucht, den linken Weg zu wählen, den bösen. Er hat auch die Freiheit, den rechten Weg zu wählen, aber ein unheimlicher Sog zieht ihn nach links. Lieber Mensch, nimm diese Versuchung nicht auf die leichte Schulter! Denke nicht, dass der Teufel nur eine harmlose Märchenfigur ist! Wähle den Weg der Liebe, nicht des Hasses!

Nun kommen wir zu den Ereignissen am Grün­donnerstag-Abend aus unserem Predigttext. Der Evangelist Johannes hat bestimmte Einzelheiten sehr ausführlich geschildert, viel aus­führlicher als die anderen Evange­listen. Er hat es ja auch alles aus nächster Nähe miterlebt. Der Jünger, der sich bei dem Festmahl direkt neben Jesus befand (nach römischer Sitte auf Polstern liegend), war niemand anderes als Johannes. Er hatte alles genau beobachtet und konnte sich später gut daran erinnern. So bemerkte er, dass Jesus auf einmal ganz betrübt aussah, ja geradezu erschüttert. Jesus erkannte in diesem Moment, was in Judas vor sich ging und was er vorhatte. Jesus hatte keine Geheimnisse vor seinen Jüngern, darum sagte er ihnen offen, was er dachte: „Einer unter euch wird mich verraten.“ Jesus wusste ganz genau, was Versuchung ist, er wusste es aus eigener Erfahrung. Der Herr hatte ja selbst erleben müssen, wie der Teufel mehrfach an ihn heran­getreten war und ihn mit ver­führerischen Worten aufgefordert hatte, den linken Weg zu wählen, den bösen. Jesus war in dieser Situation seinem himmlischen Vater treu geblieben; er hatte dem Satan eine klare Absage erteilt und den rechten Weg gewählt. Aber Jesus wusste auch: Wenn jemand vom Teufel versucht wird, kann der Vater im Himmel kein Happy-End garantieren. Die Willens­freiheit geht, wie gesagt, stets mit dem Risiko einher, dass jemand den bösen Weg wählt. Jesu klares Wort erschreckte die Jünger. Sie wagten nicht, offen über das Problem zu reden. Ihre Frage drang nur verschämt mit einer Art stillen Post an Jesu Ohr: „Herr, wer ist’s?“ Mit einem sonderbaren Zeichen gab Jesus Antwort: Er nahm einen der Brocken des Abendmahls­brotes, tunkte ihn in eine Schüssel mit Brühe und reichte ihn Judas. Dieses Zeichen war sein letztes Werben um Judas’ Seele. Der Heiland gab ihm auf diese Weise zu verstehen: Du gehörst doch zu mir, du hast Anteil an meinem Leib, der in diesem Brot ist und der auch für deine Sünden in den Tod gegeben wird. Lass dich doch nicht vom Teufel ins Unglück bringen, noch ist es nicht zu spät!

Der Mensch, der vom Teufel versucht wird, ist deswegen noch kein Sünder. Selbst Jesus ist versucht worden. Versuchung ist in unserer gefallenen Welt ganz normal, ganz menschlich. Vor Versuchung kann man sich ebensowenig schützen wie davor, dass einem die Vögel über den Kopf fliegen, so hat Martin Luther es einmal formuliert. Wichtig ist es dann, dass der Mensch die Gefahr erkennt und heilsam erschrickt. Und noch wichtiger ist es, dass er dann besonders aufmerksam auf Jesu Stimme hört. Gott ist die Liebe, und mit Jesus wohnt diese göttliche Liebe unter uns. Mit seinem Wort und besonders auch im Heiligen Abendmahl will er uns diese Liebe immer wieder neu zeigen. Der Mensch, der sich auf diese göttliche Liebe einlässt, kann der Versuchung widerstehen. Dann wird er darauf verzichten, seinem Mitmenschen die erlittene Enttäuschung heimzuzahlen – vielleicht einem Verwandten oder einem Freund oder sogar dem Ehepartner. Lieber Mensch, lass dich von Gottes Güte zur Umkehr leiten! Widerstehe dem Sog, dich nach links zu wenden, und halte dich nach rechts, zum Weg der Liebe! Und wenn du dich zu schwach dazu fühlst, dann lass dich von Jesus an die Hand nehmen und auf diesen Weg führen!

Wie gesagt: Auch den Judas Iskariot wollte Jesus noch an die Hand nehmen und auf den guten Weg zurück­führen. Er hielt ihm das Abendmahls­brot hin, und Judas nahm es aus seiner Hand. Aber doch hat Judas die helfende Hand des Herrn letztlich aus­geschlagen. Den Kelch mit dem Wein und mit dem Blut des neuen Bundes nahm er nicht mehr, sondern verließ das heilige Mahl vorzeitig. Er kündigte die Gemeinschaft auf, er floh von Jesus und dem Jüngerkreis. An diesem Punkt hat der Evangelist ein zweites Mal fest­gestellt, dass der Satan in Judas fuhr. Aber nun war das keine Versuchung mehr, sondern nun kam es zum endgültigen Entschluss des Judas: Ich werde Jesus verraten. Nun war Judas bereits auf dem linken Weg unterwegs, dem bösen, dem ohne Liebe. Da sagte Jesus zu ihm: „Was du tust, das tue bald.“ Ebenso wie sein himmlischer Vater zwang Jesus ihn nicht zu seinem Glück, sondern ließ ihm die Freiheit, der Versuchung nachzugeben und das Böse zu tun. Den Jüngern stockte der Atem. Konnte so etwas möglich sein – in ihrem ver­schworenen Kreis, in ihrer vertrauten Runde? Sie reagierten menschlich und verdrängten das Schreck­liche. Einige sagten: Wahr­scheinlich soll Judas, unser Kassenwart, noch schnell ein paar Einkäufe machen, weil die Läden den Feiertag über schließen. Andere meinten: Judas soll wohl noch etwas Geld für arme Leute spenden, wie es zum Passafest üblich ist. Niemand wollte an die Worte denken, die Jesus vorher gesagt hatte: „Einer unter euch wird mich verraten.“

Der Mensch, der der Versuchung nachgibt, wird zum Sünder. Er spielt nicht mehr nur mit dem Gedanken, seinem Mitmenschen eins aus­zuwischen, sondern er tut das wirklich. Er streut zum Beispiel böses Gerede über ihn aus, oder er ist nicht mehr bereit, ihm zu helfen. Er lädt ihn nicht mehr ein und besucht ihn auch nicht mehr. Und wenn er doch noch mit ihm zusammen ist, dann überhäuft er ihn mit Vorwürfen oder mit ver­ächtlichem Spott – sei es ein Verwandter, ein Freund oder sogar der Ehepartner. Es handelt sich nun gewisser­maßen um ein neues, ein zweites Werk Satans: Versuchen ist das Eine, in die Sünde Treiben das Andere. Bei der Versuchung steht Satan noch werbend und lockend neben dem Menschen, bei der Sünde aber ergreift er Besitz von ihm. Es ist so, wie wenn die Vögel beginnen, Nester auf seinem Kopf zu bauen. Gegen die Versuchung kann sich niemand wehren, gegen die Sünde schon. Martin Luther hat gesagt: Du kannst die Vögel nicht daran hindern, deinen Kopf zu umkreisen, aber du kannst sie daran hindern, auf deinem Kopf Nester zu bauen. Leider lassen viele Menschen es dennoch zu. Und dann verharmlosen sie die Sünde; sie finden tausend Gründe und Ent­schuldigun­gen, warum sie so handeln müssten. Auch die, die das miterleben, sind dann oft hilflos und passiv; sie wollen nicht wahrhaben, dass hier Böses geschieht in ihrer Mitte. So kommt es vor, dass auch grobe Sünde in unserer Gesellschaft oft genug verharmlost wird: Kriminelle und brutale Leute werden oft nur als hilflose Opfer ihrer sozialen Verhältnisse angesehen. Auch auf diese Weise wird Satans Werk verharmlost und unter­schätzt. Lieber Mensch, hüte dich davor, den Teufel zu unter­schätzen, sonst gelangst du von der Versuchung ganz schnell zur Sünde!

Wir wissen, wie die Sache mit Judas Iskariot ausgegangen ist. Er lieferte Jesus seinen Mördern aus und geriet anschließend in so tiefe Ver­zweiflung, dass er sich selbst tötete. Jesus aber hat sich seinen Mördern gestellt und ist dem Kreuz nicht ausgewichen, damit niemand in solcher Verzweiflung enden muss wie Judas. Lieber Mensch, selbst wenn du der Versuchung nachgegeben hast und der Teufel dich auf den Weg der Sünde führt: Du kannst umkehren. Jesus hat dir den Weg der Buße eröffnet. Er ist gestorben, damit du immer wieder zum himmlischen Vater zurückkehren kannst und nicht in tiefer Verzweiflung und im Tod enden musst. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2016.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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