Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
„Weil ich Jesu Schäflein bin, / freu ich mich nur immerhin / über meinen guten Hirten, / der mich schön weiß zu bewirten“, so haben es viele Generationen christlicher Kinder gesungen, und so singen es auch Erwachsene immer wieder gern. Was für ein wunderschönes Bild: Christus ist mein guter Hirte – liebevoll, verantwortungsvoll, umsichtig und stark. Und ich bin sein Schäflein, das fröhlich unter seiner Obhut weidet und deshalb sorglos durchs Leben ziehen kann. Schon im Alten Testament finden wir dieses Bild, in dem herrlichen 23. Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Im Neuen Testament steht dann diese wunderbare Predigt, mit der Jesus selbst sich als Hirte offenbar gemacht und verkündigt hat: „Ich bin der gute Hirte“ (Joh. 10,11). Diese heutige Evangeliumslesung hat dem Sonntag seinen zweiten Namen gegeben: „Hirtensonntag“ wird der Sonntag Miserikordias Domini auch genannt.
Nun gibt es allerdings Leute, die können mit dieser Idylle nichts anfangen. Sie werden sogar ausgesprochen ägerlich, wenn sie hören, dass Jesus unser Herr beziehungsweise Hirte sein will und dass wir nur die dummen Schafe sein sollen. Manche von ihnen erheben lauthals Einspruch und werfen dem ganzen Christentum Volksverdummung vor. Noch immer vertreten Leute die Ansicht von Karl Marx, dass Religion Opium für das Volk ist. Sie halten Jesus nicht für einen guten Hirten, der seine Schafe zur Fülle des Lebens führt, sondern eher so etwas wie einen Rattenfänger, der mit geheimen Künsten Menschen gleich Mäusen von der Fülle des Lebens weg ins Verderben führt. Wenn wir, die „Schäflein“ des guten Hirten Jesus Christus, auf solche Meinungen stoßen, dann werden wir traurig – und manchmal auch ganz verlegen, denn wir wissen nicht genau, wie wir darauf reagieren sollen.
Da kommt uns der Abschnitt aus Jesu Predigt zu Hilfe, den ich eben verlesen habe. Es ist genau der Teil aus Jesu Hirtenpredigt, der im Evangelium des heutigen Sonntags ausgelassen wird. Vielleicht ist es einigen von euch noch gar nicht aufgefallen, aber das Evangelium des Hirtensonntags aus dem 10. Kapitel des Johannes-Evangeliums hat tatsächlich eine Lücke: Es geht vom 11. bis 16. Vers und dann vom 27. bis 30. Vers. Lasst uns heute einmal besonders darauf achten, was in dieser Lücke steht, in den Versen 17 bis 26 also. Da geht es nämlich genau um diese kritische Anfrage: Ist Jesus ein guter Hirte, oder doch eher ein Rattenfänger? Schon damals, als Jesus noch sichtbar auf Erden lebte, war er mit solchen Meinungen konfrontiert. Wir erfahren in diesem Zwischenstück, wie Jesu Zuhörer darüber diskutierten und was Jesus ihnen antwortete.
Mittendrin erfahren wir allerdings noch etwas anderes: Da steht ziemlich unvermittelt eine Zeitangabe und eine Ortsangabe. Wir lesen: „Es war damals das Fest der Tempelweihe in Jerusalem, und es war Winter. Und Jesus ging umher im Tempel in der Halle Salomos.“ Mit dieser Bemerkung macht der Evangelist Johannes deutlich, dass es sich bei der Hirtenpredigt von Jesus nicht um eine Es-war-einmal-Geschichte handelt. Es ist nicht so, wie manche modernen Theologen sich das einbilden: dass nämlich erst lange nach Ostern die Apostel und die Urgemeinde sich ausgedacht haben, was Jesus gesagt haben könnte. Nein, die Hirtenpredigt wurde Jesus nicht von anderen in den Mund gelegt, sondern er hat sie wirklich gehalten – in einem wirklichen Winter, an einem wirklichen Tempelweihfest, also an einem wirklichen 25. Kislew nach jüdischem Kalender (das entspricht ungefähr unserem Dezember), in Jerusalem, im Tempel, in einem Seitenflügel, in einer ganz bestimmten Halle dort, die nach dem König Salomo benannt war. In dieser Weise berichten Zeitungsnachrichten, nicht Märchenbücher: Zeit und Ort werden präzise benannt. Das gilt übrigens nicht nur für die Hirtenpredigt Jesu, sondern das gilt für Gottes gesamte Heilsgeschichte: Sie ist wirklich Geschichte, also tatsächlich geschehen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten. Das müsste eigentlich all denen den Mund stopfen, die die Bibel für ein Mythen‑ und Märchenbuch ausgeben.
Doch zurück zu unserer Hirte-oder-Rattenfänger-Frage. Jesus hatte in seiner Predigt gerade betont, dass er bereit ist, sein Leben für die Schafe zu lassen. Der himmlische Vater erwarte das von ihm, und er nehme es freiwillig auf sich; aber er werde nicht tot bleiben, sondern er habe die Macht, wieder ins Leben zurückzukehren. An dieser Stelle kommt es zum Streitgespräch. Ist einer, der solche kühnen Sätze von sich gibt, wirklich ein guter Hirte oder eher ein gefährlicher Rattenfänger? Die Juden, die ihm in der besagten Tempelhalle zuhörten, diskutierten heftig darüber. Wir lesen: „Es entstand Zwietracht unter den Juden wegen dieser Worte.“ Diejenigen, die Jesus für einen Rattenfänger hielten, sagten: „Er hat einen bösen Geist und ist von Sinnen, was hört ihr ihm zu?“ Die anderen, die von seiner Predigt beeindruckt waren, erwiderten: „Das sind nicht Worte eines Besessenen.“ Und da Jesus unbestritten Wunder getan und viele Kranke gesund gemacht hatte, konnten sie ein ganz wichtiges Argument anfügen: „Kann denn ein böser Geist die Augen der Blinden auftun?“
Die Diskussion spitzte sich auf die alles entscheidende Frage zu: Ist Jesus der Christus, der Messias, der von Gott versprochene Erlöser, oder ist er es nicht? Das ist noch heute die alles entscheidende Frage: Glaubst du, dass Jesus dein Heiland ist, dein Retter, dein auferstandener Herr, Gottes Sohn? Wenn du seine Worte mit diesem Vertrauen hörst, wirst du zwar auch nicht gleich alles verstehen, was er sagt, aber du wirst bei allem seine große Liebe zu dir heraushören sowie seinen großen Ernst, dass du nur ja nicht verloren gehst, sondern jetzt und für immer bei Gottes Herde bleibst. Du glaubst dann den Worten seiner Predigt, dass er dein guter Hirte ist, und du freust dich, sein Schäflein zu sein. Wer aber Jesus nicht für den Christus und Gottessohn hält, der muss, wenn er konsequent ist, zu dem Schluss kommen: Er war ein Rattenfänger, ein Volksverführer, ein religiöser Spinner, ein Größenwahnsinniger. Dann würden seine Worte wirklich keinen Sinn machen, und dann wäre die Botschaft der Apostel sowie das ganze Neue Testament der größte Betrug der Weltgeschichte. Ihr merkt, es ist wirklich die alles entscheidende Frage: Ist Jesus der Christus, oder ist er es nicht?
Jesus war ein geduldiger Prediger. Er verschaffte sich in dieser Diskussion nicht mit Macht Gehör, sondern er wartete ab, bis sich die allgemeine Aufmerksamkeit von allein wieder ihm zuwandte. Wir lesen: „Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Wie lange hältst du uns im Ungewissen? Bist du der Christus, so sage es frei heraus.“ Sie stellten ihn zur Rede, sie wollten es ganz klar aus seinem eigenen Mund hören. Und wie er es ihnen schon vorher bezeugt hatte und wie er es ihnen auch später noch bezeugte bis hin zur Gerichtsverhandlung vor dem Hohen Rat, so gab er ihnen auch jetzt eine klare Antwort: „Ich habe es euch gesagt – und ihr glaubt nicht.“ Dann wies auch er auf seine Wunder und Heilungen hin und sagte: „Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir.“ Auch darauf hatte er bereits früher schon hingewiesen. Was der Prophet Jesaja Jahrhunderte zuvor vom kommenden Christus geweissagt hatte, das war durch Jesus nun erfüllt: Blinde sehen, Taube hören, Lahme gehen und Armen wird das Evangelium gepredigt. Diese Werke, die Jesus getan hat und weiter tut, beweisen, dass er kein Rattenfänger ist, kein Schwindler und kein Spinner, sondern der von Vater gesandte gute Hirte, der sich seiner Herde annimmt.
Dieses Zeugnis gilt noch heute. Wenn Menschen sich kritisch über Jesus und den Glauben äußern, dann können wir darauf hinweisen. Wir können auf das überwältigende Zeugnis der Bibel verweisen: Dass sich in Jesus all das erfüllt hat, was Propheten in vielen Jahrhunderten vom kommenden Hirten und Christus angekündigt haben. Dass Jesus große Wunder getan hat und dass mehrere Augenzeugen es aufgeschrieben haben; ihr direktes Zeugnis liegt uns noch heute vor. Dass Jesus den Tod überwunden hat und auferstanden ist. Dass Jesus durch den Heiligen Geist seinen Aposteln Kraft gegeben hat, sodass diese kleine verängstigte Schar plötzlich gewaltig zu predigen begann und Tausende zum Glauben fanden. Dass wahr geworden ist, was sich damals wie Spinnerei anhörte: nämlich dass zwölf arme und ungebildete Männer ohne Geld und Massenkommunikationsmittel es geschafft haben, das Evangelium von Jesus zu allen Völkern zu bringen. Dass auch heute immer noch viele Leute auf allen Kontinenten von Jesus so überwältigt sind, dass sie Schafe seiner Herde werden und bleiben möchten. Und dass Jesus nicht zuletzt auch heute Gebete erhört und Wunder tut; so mancher Christ kann davon berichten.
Nun geschieht es allerdings heute wie damals, dass Menschen sich nicht überzeugen lassen wollen. Wie ein Rolltor lassen sie ihre Voruteile zwischen sich und Jesus herunterrasseln und sagen: „Ich brauche keinen guten Hirten, und ich will nicht sein Schaf sein.“ Alle liebevollen Worte Jesu, alle Zeichen und Wunder, alles Rufen und Einladen lassen sie nicht an sich heran. Jesus stellte das damals im Blick auf seine skeptischen Zuhörer offen und nüchtern fest. Er sagte zu ihnen: „Ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen.“ Jesus hat sie nicht zum Glauben gezwungen. Jesus zwingt überhaupt niemanden. Wer sein Vorurteil lieber hat als Gott und Gottes Wort, der hat die Freiheit, Gott und dem wahren Leben fern zu bleiben.
Wir erleben es, dass in unseren Tagen und in unserer Gesellschaft sehr viele Menschen von dieser Freiheit Gebrauch machen. Wir Schafe von Gottes Herde sollten dabei ebenso gelassen und nüchtern bleiben wie unser guter Hirte. Er zwang seine Gegner zu nichts, aber er hörte auch nicht auf, sie zu lieben. Er verkündigte ihnen weiter Gottes Barmherzigkeit, und er tat ihnen weiter Gutes – bis dahin, dass er dann tatsächlich sein Leben für alle Menschen ließ. Nach diesem Vorbild können wir auch fröhlich weiter Mission und Diakonie treiben, das heißt fröhlich weiter Gottes Reich bezeugen, Gutes tun und für alle Menschen beten. Wer weiß, vielleicht erkennt dabei der eine oder andere Skeptiker doch noch, dass Jesus kein Rattenfänger ist, sondern der gute Hirte – der beste, den es gibt. Amen.
PREDIGTKASTEN |