Weniger ist mehr

Predigt über Johannes 20,30‑31 zum Sonntag Quasimodogeniti

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Nur ein schlechter Lehrer wird versuchen, den gesamten Lernstoff vollständig in die Köpfe seiner Schüler zu stopfen. Nur ein schlechter Lehrer wird darauf wert legen, seinen Schülern auch noch die letzte englische Vokabel oder die letzte mathe­matische Formel einzu­trichtern. Nur ein schlechter Lehrer hat Angst davor, von seinem Stoffplan Abstriche zu machen. Ein guter Lehrer dagegen weiß: Bei der Bildung kommt es nicht auf Voll­ständig­keit an. Viel wichtiger ist es, dass die Schüler die wesent­lichen Zusammen­hänge des Fachs begreifen. Wenn das gelingt, wird es ihnen nicht schwer fallen, eventuelle Lücken bei Bedarf selbst­ständig zu schließen. Ein guter Lehrer zielt also darauf ab, seine Schüler zu selbst­ständig denkenden und lernenden Menschen zu machen, nicht zu wandelnden Lexika. Ihm ist bekannt, was der berühmte Pädagoge Pestalozzi einst so formu­lierte: „Bildung ist das, was bleibt, wenn das Gelernte vergessen ist.“ Kurz gesagt, auch und gerade im Bildungs­wesen gilt: Weniger ist mehr.

Was für die Bildung gilt, das gilt ebenso für den Glauben. Gott erwartet nicht, dass jeder Christ ein wandelndes theologisches Lexikon wird. Gott erwartet erst recht nicht, dass wir ihn, die Menschen und die Welt vollkommen verstehen; dazu sind unsere Köpfe ohnehin viel zu klein. Glauben heißt nicht, viel über Gott und den Himmel zu wissen. Glauben heißt einfach, Gott kennen­lernen und richtig leben lernen. Wer Gott kennenlernt und dabei richtig leben lernt, der wird sich im Lauf der Zeit auch seinen Reim auf die eine oder andere theolo­gische Frage machen – aber das ist, wie gesagt, nicht das Ent­scheidende.

Damit sind wir beim Thema der beiden Verse am Schluss des Johannes­evan­geliums, die wir hier bedenken. Wie ein guter Lehrer hat der Apostel und Evangelist Johannes Mut zur Lücke. Es kommt ihm nicht auf Voll­ständig­keit an. Er hat sein Evangelium geschrieben unter dem Motto: Weniger ist mehr. Ich lese noch einmal den ersten Satz unseres Predigt­textes: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch.“ Das Johannes­evan­gelium kann man nicht unter dem Titel ver­öffent­lichen: „Sämtliche 4278 Wunder, die Jesus getan hat“ (oder wieviele es auch immer waren), denn Johannes berichtet nur beispiel­haft von einigen wenigen Wunder­zeichen. Es sind bei ihm sogar deutlich weniger als bei den anderen drei Evange­listen Matthäus, Markus und Lukas, und selbst die erheben keinen Anspruch auf Voll­ständig­keit. Als Johannes sein Evangelium schrieb, waren die anderen Evangelien schon bekannt; darum hat Johannes nur ergänzt und vertieft, was aus dem Leben Jesu für den Glauben wichtig ist. Auch sind alle vier Evangelien keine Jesus-Biografien im modernen Sinne, denn sie haben große Lücken im Lebenslauf unsers Herrn. Aber gerade in der Auswahl erweisen sich Johannes und die anderen Evange­listen als gute Lehrer beziehungs­weise Ver­kündiger, denn sie schreiben genau das, was einen Menschen zum Glauben bringt und ihn im Glauben wachsen lässt.

Das bezeugt Johannes aus­drücklich im zweiten Satz unseres Predigt­textes. Da heißt es: „Diese Zeichen sind ge­schrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“ Wie gesagt: Glauben heißt einfach, Gott kennen­lernen und richtig leben lernen. Das gelingt immer dann, wenn ein Mensch die ent­scheidenden Dinge von Jesus erfährt und dann durch Jesus den himmlischen Vater erkennt.

Das wird unter anderem daran klar, dass Johannes und die anderen Evange­listen selten das Wort „Wunder“ benutzen, sondern lieber von „Zeichen“ reden, die Jesus getan hat. Ein Wunder ist etwas, worüber man sich einfach wundert, aber ein Zeichen ist etwas, das einem etwas zeigt. Deshalb können wir das Johannes-Evangelium durchaus mit der Erwartung lesen: Lieber Johannes, zeige mir Jesus, und dann zeige mir durch Jesus Gott! Hören wir noch einmal die Antwort von Johannes: „Diese Zeichen sind ge­schrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“

Das wichtigste Zeichen von Jesus finden wir im selben Kapitel, nur wenige Verse davor. Es ist die Auf­erstehung Jesu. Natürlich ist das auch ein unfassbar großes Wunder: Da war jemand tot und lag schon im Grab, und da kommt er lebendig wieder heraus und erscheint vielen Leuten. Der Jünger Thomas, der das zuerst gar nicht glauben kann, darf sogar die Wundmale Jesu genau untersuchen und dabei fest­stellen: Obwohl Jesus am Kreuz gehangen hat und da auch noch eine tödliche Wunde zugefügt bekam, steht er jetzt leibhaftig und quick­lebendig vor mir! Aber das Ent­scheidende ist nicht der äußere Augen­schein, sondern ent­scheidend ist das Zeichen: Jesus zeigt dem Thomas und den anderen Jüngern mit seiner Auf­erstehung, dass er wirklich tot war und damit alle Schuld gesühnt hat. Und er zeigt ihnen weiterhin, dass er die Macht des Todes überwunden hat. Und weil nur Gott selbst die Macht des Todes überwinden kann, zeigt er ihnen auf diese Weise auch noch, dass er Gottes ein­geborener Sohn ist. Da ruft der Thomas dann aus: „Mein Herr und mein Gott!“ Und Jesus macht ihm (und ebenso uns) deutlich, dass die unsichtbare Botschaft, die er uns mit seiner Auf­erstehung zeigen will, viel wichtiger ist als das vorder­gründige Wunder, über das wir uns wundern. Jesus sagt nämlich: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Ja, und dann schließen sich die beiden Verse unseres Predigt­textes an: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind ge­schrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“

Zeige mir Gott und zeige mir, wie ich gut leben kann! So können wir den Evange­listen Johannes bitten. Johannes zeigt uns mit seinem Evangelium, wie Gottes Wort Fleisch wurde, also wie Gottes ein­geborener Sohn ein Mensch wurde. Er zeigt uns, wie Jesus den Menschen half, wie er Kranke heilte, wie er Sünden vergab und wie er von seinem himmlischen Vater Zeugnis gab. Es kommt Johannes nicht auf Voll­ständig­keit ein, denn er ist ein guter Lehrer und hat sein Evangelium geschrieben nach dem Motto: Weniger ist mehr. Aber das, was er geschrieben hat, baut uns Schritt für Schritt eine Brücke zum himmlischen Vater, der die Quelle des Lebens ist. Schritt für Schritt findet der, der sich den Worten des Johannes nicht ver­schließt, Zugang zum guten Leben und sogar zum ewigen Leben. So finden wir bei Johannes ganz wichtige Kernsätze aus Jesu Predigten, wie zum Beispiel diesen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh. 14,6). Und damit werden wir von Johannes zum Wesent­lichen hingeführt, zum Kreuzestod Jesu und zu seiner Auf­erstehung von den Toten.

Wer Johannes hört, der findet Jesus so, wie er sich selbst finden lassen will. Wer aber Jesus findet, der findet den Christus, den Messias, den lange ver­sprochenen Erlöser. Wer aber durch Johannes und die anderen Apostel Jesus als den Christus findet, der findet den Sohn des lebendigen Gottes. Wer aber Gottes Sohn findet, der findet den himmlischen Vater. Wer aber den himmlischen Vater findet, der findet die Quelle des Lebens. Wer aber die Quelle des Lebens findet, der lernt richtig leben und dringt durch zum ewigen Leben, denn der Tod hat keine Macht mehr über ihn. Halten wir uns also einfach an die Zeichen, die Johannes uns verkündigt hat, am aller­meisten aber an das Zeichen der Auf­erstehung. Denn: „Diese sind ge­schrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2015.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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