Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Sollten Eltern ihren Kindern sagen: Alles ist erlaubt? Sollten Staatsregierungen auf Gesetze verzichten und ihren Bürgern stattdessen sagen: Alles ist erlaubt? Sollten Pastoren ihren Gemeindegliedern Mut machen, völlig selbstbestimmt zu leben, und sagen: Alles ist erlaubt? Ich höre die Einwände: Das geht doch nicht! Da würde ja das Chaos ausbrechen! Aber immerhin hatte der Apostel Paulus den Mut, seiner Missionsgemeinde in Korinth eben dies zu schreiben: „Alles ist erlaubt.“ Einige ängstliche Bibelkommentatoren wollten das nicht wahrhaben und dachten, Paulus zitiert hier nur einen weit verbreiteten Irrtum der Korinther, um ihn anschließend zu widerlegen. Nun schließ Paulus an diesen kühnen Satz tatsächlich ein „Aber“ an – jedoch nimmt er den Satz damit nicht grundsätzlich zurück. Auch wenn uns das irritiert, müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der Apostel hier wirklich lehrt: „Alles ist erlaubt.“ Er lehrt damit nun nicht den Verzicht auf elterliche Gewalt und die Anarchie im Staat, aber er lehrt damit nichts Geringeres als die persönliche Freiheit eines Christenmenschen. Mit der wollen wir uns jetzt beschäftigen.
Lasst mich dafür zunächst ein Gleichnis erzählen. Max und Martha backen jeder einen Kuchen. Martha hält sich brav an das Rezept aus dem Backbuch: Sorgfältig wiegt sie die Zutaten ab und mischt dann alles in der vorgegebenen Reihenfolge. Max dagegen backt, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Er nimmt nur halb so viel Zucker und fügt dafür selbstständig andere Zutaten hinzu: Pfefferkörner tut er in seinen Kuchenteig, und Senf. Martha ist entsetzt: „Das geht doch nicht, das steht doch gar nicht im Rezept.“ Max erwidert: „Na und, es ist doch nicht verboten!“ Tatsächlich braucht Max nicht zu fürchten, dass ihn jemand für sein Verhalten anzeigt oder dass er Strafe zahlen muss: Beim Kuchenbacken ist ja grundsätzlich alles erlaubt.
Und nun wenden wir uns dem Lebens-“Kuchen“ zu, an dem alle Menschen herumbacken: mehr oder weniger brav, mehr oder weniger mutig, mehr oder weniger kreativ. Solange der Mensch noch ein unmündiges Kind ist, sehen ihm die Eltern dabei auf die Finger und nehmen ihm viele Entscheidungen ab. Das kann auch nicht anders sein, denn sonst wäre das Kind von seiner Freiheit hoffnungslos überfordert. Solange der Mensch unmündig ist, muss er seinen Eltern gehorchen, und da ist eben nicht alles erlaubt. Ich weiß noch, wie ich als Teenager gern per Anhalter auf Reisen gegangen wäre, so wie das damals modern war, aber meine Eltern hatten es mir verboten. So habe ich die Freiheit dieser Art der Fortbewegung erst kennengelernt, als ich schon erwachsen war.
Im Galaterbrief erklärt der Apostel Paulus die christliche Freiheit so: Zur Zeit des Alten Testaments, schreibt er, waren Gottes Kinder wie unmündige Kinder; sie standen unter den Geboten und Verboten des Mose-Gesetzes. Wer sich einmal mit diesen vielen Satzungen im 2. bis 5. Buch Mose näher beschäftigt hat, der weiß, wie sehr sie in das persönliche Leben jedes Einzelnen eingriffen. Das ist mit Christus nun vorbei, erklärt Paulus. Wer getauft ist und an Jesus glaubt, der ist frei vom Gesetz. Er gleicht jetzt einem erwachsen gewordenen Kind: Zwar ist er immer noch Kind seiner Eltern, aber er darf und soll nun selbstbestimmt leben, ohne sich von Vater und Mutter alles vorschreiben zu lassen. Damit hat Paulus die christliche Freiheit trefflich erklärt. Und in allen seinen Briefen geht er ausführlich darauf ein, warum das so ist: Wer getauft ist und an Jesus glaubt, der braucht keine Angst mehr vor Gottes Strafe zu haben. Seine Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater beruht nämlich nicht mehr darauf, dass er Gottes Gesetz gehorcht, sondern sie beruht darauf, dass Christus ihn am Kreuz erlöst hat. Sein Verhältnis zu Gott wurzelt nicht in einer „Werkgerechtigkeit“, sondern in der „Glaubensgerechtigkeit“, wie Paulus es formuliert. Darum ist jeder Christ grundsätzlich frei vom Gesetz, und es gilt für ihn: „Alles ist erlaubt.“ Wenn er beim Backen seines Lebenskuchens von den herkömmlichen Rezepten abweicht, dann braucht er nicht zu befürchten, dass ihm das im Jüngsten Gericht das Genick brechen wird.
Ich komme zu meinem Gleichnis zurück. Inzwischen sind die beiden Kuchen fertig – der Kuchen von Max und der Kuchen von Martha. Probieren wir sie! Sind sie gut? Bei Marthas bravem Rezept-Kuchen können wir ziemlich sicher sein: Er schmeckt so, wie er schmecken soll. Der Kuchen von Max, fürchte ich, schmeckt nicht so gut. Senf im Kuchen ist nun mal nicht jedermanns Sache. Vielleicht ist dieser Kuchen auch schwer verdaulich, unbekömmlich, oder gar völlig ungenießbar. Aber egal, wie er gelungen ist: Verboten ist es nicht, so einen Kuchen zu backen. Nur eben: Es ist schade, wenn er misslingt; niemand hat etwas davon, und die schönen Zutaten sind verschwendet.
Damit kommen wir zu dem „Aber“, dass der Apostel Paulus seinem kühnen Satz von der christlichen Freiheit angefügt hat: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten.“ Und weiter: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf.“ Nicht alles ist gut und hilfreich. Nicht alle Zutaten passen gleich gut zusammen, und nicht alles schmeckt gleich gut. Nicht alle Mischungen ergeben einen bekömmlichen Kuchenteig. Übertragen auf den Lebenskuchen bedeutet das: Zwar haben wir als Gotteskinder große Freiheit und können ohne Angst vor Gottes Strafen leben. Aber (hier ist wieder, das „Aber“ des Paulus!) wenn wir diese Freiheit falsch gebrauchen, dann könnte es sein, dass uns der Lebenskuchen nicht gut schmecken wird. Es könnte sogar sein, dass wir in Situationen geraten, die äußerst unangenehm sind, ja, die sich schlimmstenfalls als Sackgassen erweisen. Wenn wir uns nur von momentanen Launen treiben lassen oder von schlechten Angewohnheiten oder von irgendwelchen werbenden Verlockungen, dann könnte sich unser Lebenskuchen am Ende als sehr unbekömmlich erweisen. Nicht alles ist gut, nicht alles baut auf – vieles ist sogar äußerst schlecht und macht kaputt. Darum sollte sich jeder mündige Christ gut überlegen, wie er denn seine christliche Freiheit nutzt und wie er verantwortlich mit ihr umgehen kann.
Das betrifft nicht nur jeden von uns persönlich, sondern das betrifft auch die Gemeinschaft, in der wir leben. Normalerweise bäckt ja niemand einen Kuchen nur dafür, dass er ihn dann ganz allein aufisst. Nein, auch andere sollen etwas davon haben. Das lässt sich ebenfalls vom Lebenskuchen sagen: Wie wir unsere christliche Freiheit nutzen, das hat nicht nur Auswirkungen auf uns selbst, sondern das hat auch Auswirkungen auf unsere Mitmenschen. „Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten“ – für uns selbst nicht und auch für andere! „Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf“ – uns selber nicht und auch andere nicht! Um das ganz deutlich zu machen, schließt Paulus den folgenden Satz an: „Niemand suche das Seine, sondern was dem anderen dient.“ Bei den Korinthern ging es konkret um die Frage, ob Christen Fleisch essen dürfen, das mit heidnischen Opfer-Ritualen geschlachtet wurde. Die Juden sagten damals: Auf keinen Fall, denn das wäre ja Götzendienst, das wäre ein schwerer Verstoß gegen das 1. Gebot! Paulus sah das nicht so eng, er vertrat ja den Standpunkt der christlichen Freiheit: Alles ist erlaubt – also auch das Essen von Götzenopferfleisch. Aber (hier ist wieder unser wichtiges Aber!) es könnte sein, dass man Judenchristen furchtbar vor den Kopf stößt, wenn man in ihrer Gegenwart demonstrativ solches Fleisch verzehrt. Das wäre nicht gut, das wäre ausgesprochen lieblos. Darum legt die christliche Liebe der christlichen Freiheit hier Zügel an und verzichtet auf etwas, was an sich harmlos ist. Noch einmal der Grundsatz: „Niemand suche das Seine, sondern, das, was dem andern dient.“
Ja, die christliche Freiheit muss mit der christlichen Liebe zusammenarbeiten, sonst ist es keine christliche Freiheit. Martin Luther hat diesen Zusammenhang ausführlich dargelegt in seiner berühmten Reformationsschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“. Er entfaltet darin folgende beiden Sätze: „Der Christ ist völlig freier Herr über alles und niemandem untertan. Der Christ ein allen völlig dienstbarer Knecht und jedermann untertan.“ Die Liebe bringt also einen freien Christenmenschen dazu, sich als Diener zu verkleiden und anderen Gutes zu tun – besonders denen, die auf fremde Hilfe angewiesen sind. Das ist das Leitmotiv für jede diakonische Tätigkeit, wenn sie denn diesen Namen verdient. Alles ist erlaubt, und wir sind zu nichts verpflichtet – aber die Liebe drängt uns, das nicht egoistisch auszunutzen, sondern dem Nächsten zuliebe auf Freiheiten zu verzichten. Da trennen sich viele Christen von ihren Karriere-Träumen, von einem Teil ihrer Freizeit und von einem Teil ihres Geldes, um anderen Gutes zu tun und ihnen damit etwas von der göttlichen Liebe weiterzugeben, die sie selbst unverdient empfangen haben. Ja, darum geht es in der Diakonie.
Es ist alles erlaubt, und jeder darf seinen Lebens-Kuchen so backen, wie er will. Trotzdem ist es normalerweise hilfreich, sich an bewährte Rezepte zu halten, denn dann wird der Kuchen meistens gelingen und uns sowie auch anderen gut schmecken. Die Zehn Gebote und die Weisungen unsers Herrn Jesus Christus sind solche guten Rezepte; man sollte nicht ohne zwingenden Grund davon abweichen. Wer dem himmlischen Vater vertraut und den Herrn Jesus Christus lieb hat, der kommt auch gar nicht auf die Idee, dass er selbst es besser wüsste. Vielmehr erkennt er Gottes Weisheit und Liebe nicht nur im Evangelium, sondern auch in Gottes Gesetz, und richtet sich danach. Wer aber dem himmlischen Vater nicht vertraut und Jesus Christus nicht lieb hat, der ist noch gar nicht zur christlichen Freiheit durchgedrungen und steht darum voll unter der Anklage von Gottes Gesetz.
Kurz: Es ist mit der christlichen Freiheit so, wie ich es einmal auf einem Hinweisschild in der Fußgängerzone einer deutschen Kleinstadt gelesen habe. Da stand: „Vernünftige Leute fahren hier nicht Rad. Den anderen ist es verboten.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |