Trauer über Israel

Predigt über Römer 9,1‑5 zum 10. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn wir hören oder gar mitansehen müssen, wie Menschen zugrunde gehen, dann kann uns das sehr traurig machen. Wir erfahren, wie Familien in Kriegs­gebieten täglich von Explosionen umgeben sind und wie es ihnen am Nötigsten fehlt. Wir hören, dass die Ebola-Seuche schon weit über tausend Leute weggerafft hat. Wir haben dabei schon fast vergessen, dass nach wie vor Millionen Menschen vom Hungertod bedroht sind. Manchmal wünscht man sich, man wüsste dies alles nicht. Kann man das Wissen um massen­haftes Sterben überhaupt verkraften? Kann man es ertragen, ohne zu verzweifeln oder ab­zustump­fen?

Lassen wir ruhig die große Traurigkeit zu, die uns bei diesem Thema überkommt. Und empfinden wir dann die große Traurigkeit nach, die der Apostel Paulus hatte. Hier, im neunten Kapitel des Römer­briefs, begegnet uns nämlich ein sehr trauriger Paulus. Er schreibt: „Ich habe große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen.“ Auch bei Paulus ist massen­haftes Sterben die Ursache für seine Traurigkeit – aber nicht leibliches Sterben, sondern geistliches Sterben. Ein Mensch, der sich von Gott getrennt hat, ist nach dem Urteil der Bibel geistlich tot, und er ist im Begriff, auch das ewige Leben im Himmel zu verlieren. Paulus sieht den über­wiegenden Teil seiner jüdischen Volks­genossen in dieser Gefahr, seiner „Brüder“ und „Stamm­verwandten nach dem Fleisch“, wie er sie nennt. Er muss erleben, wie sie ihren Messias, den Gott doch zuerst für sie und ihre Erlösung geschickt hatte, ablehnen. Damit verbauen sie sich den einen Weg, der die Wahrheit und das Leben ist: Jesus Christus, den Weg zu neuer, versöhnter Gemein­schaft mit dem himmlischen Vater. Paulus ist unsagbar traurig, dass die Menschen, die ihm besonders nahestehen, ihre Seligkeit verfehlen.

Das können wir nach­empfinden, liebe Brüder und Schwestern in Christus. Es gibt wohl keinen unter uns, der diesen Kummer nicht auch im Blick auf eigene Verwandte und Bekannte hat. Und da ist nicht nur wie an den Krisen­herden dieser Welt das leibliche Leben bedroht, sondern da geht es ums Ganze: ums ewige Leben nämlich, um die ewige Seligkeit. Jawohl, ich kann die große Traurigkeit und die Schmerzen des Apostels nach­vollziehen und erlebe sie auch selbst in meiner Seele.

In seinem großen Schmerz lässt Paulus sich zu einer un­geheuer­lichen Aussage hinreißen. Er schreibt: „Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder.“ Mit anderen Worten: Paulus würde seine eigene Seligkeit dafür hergeben, dass das Volk Israel gerettet wird. Hier begegnet uns eine Selbst­losigkeit, die uns Paulus wieder ein Stück entfremdet: Wer sonst würde so etwas schreiben, sagen oder auch nur denken? Freilich gibt es in der Bibel noch ein weiteres Beispiel für diese Art von Selbst­losigkeit, und zwar im Alten Testament. Es handelt sich um Mose. Nachdem die Israeliten sich am Berg Sinai vom wahren Gott losgesagt und stattdessen ein goldenes Stierbild angebetet hatten, flehte Mose zu Gott: „Vergib ihnen doch ihre Sünde; wenn nicht, dann tilge mich aus deinem Buch.“ Mose selbst wollte aus dem Buch des Lebens getilgt werden, wenn seine Volks­genossen nicht mehr zu retten sind. Aber Gott erwiderte ihm: „Ich will den aus meinem Buch tilgen, der an mir sündigt“ (2. Mose 32,23-33). Lieber Mose, lieber Paulus: Eure über­mensch­liche Selbst­losigkeit in allen Ehren, aber Gott will das nicht, dass ihr eure eigene Seligkeit für die Seligkeit anderer verpfändet. Es ist Gottes un­umstöß­liches Gesetz, dass jeder Mensch persönlich für sein eigenes Verhalten vor ihm gerade­stehen muss. Jeder ist letztlich für sich selbst ver­antwort­lich vor Gott. Niemand kann einem anderen seine Schuld in die Schuhe schieben, auch wenn man das von Adam an versucht hat. Und ebensowenig kann jemand stell­vertretend für einen anderen Gottes Verdammnis tragen. Im 49. Psalm heißt es: „Keiner kann einen andern auslösen oder für ihn an Gott ein Sühnegeld geben“ (Ps. 49,8).

Allerdings gibt es eine Ausnahme: Jesus selbst, der unschuldige Gottessohn, hat sein Leben als Sühnegeld für andere dahingegeben. Stell­vertretend für die ganze Menschheit hat er in seinem Sterben die Verdammnis geschmeckt, die alle anderen verdient haben. So ist er zu dem einen Weg geworden, auf dem Sünder neuen Zugang zu Gott finden können. Das hat Paulus selbst wunderbar erfahren in seinem Leben, als Christus ihn rief und bekehrte. Und Paulus rühmt das Volk Israel nicht nur deswegen, weil es sich um seine Brüder und Stamm­verwandten handelt, sondern auch dafür, dass Gott dieses Volk gewürdigt hat, die Erlösung in ihm vor­zubereiten, an­zukündigen und durch­zuführen. Paulus schreibt, dass den Israeliten „die Kindschaft gehört und die Herrlich­keit und die Bundes­schlüsse und das Gesetz und der Gottes­dienst und die Ver­heißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles…“

Wir wissen, wie die Sache mit Mose und den abtrünnigen Israeliten einst weiter­gegangen ist: Gott hat ihnen vergeben und sie in das Land der Verheißung geführt. So hat Gott die große Traurigkeit des Mose in Freude verwandelt. Wie die Traurigkeit des Paulus letztlich ausgehen wird, wissen wir noch nicht. Immerhin hat Gott den Paulus etwas wissen lassen, das der uns im Römerbrief wenig später weiter­gegeben hat: „So wird ganz Israel gerettet werden“ (Römer 11,26). Diese Verheißung ist schwer zu deuten, aber immerhin zeigt sie doch, dass Grund zur Hoffnung besteht. Und wer Gottes Ver­heißungen und Gottes Liebe kennt, der darf größere Hoffnung haben als Traurig­keit. Wir können uns nicht vorstellen, wie Gott im gegen­wärtigen Chaos von leiblichem und geistlichem Tod sein Heil zum Ziel führen wird – auch nicht im Blick auf die gottfernen Menschen, die uns am Herzen liegen. Aber wir sehen an der Geschichte des Mose und an der Ver­kündigung des Paulus, dass wir nicht zu resignieren brauchen. Beten wir statt­dessen, und hoffen wir auf die Gnade des Herrn Jesus Christus! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2014.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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