Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Der Schlagersänger Max Raabe singt, was jedem sofort einleuchtet: „Küssen kann man nicht alleine.“ Wir können auch sagen: Der Kuss ist ein Zeichen der Gemeinschaft, des Zusammengehörens, der Beziehung. Das war er schon seit Menschengedenken. Darum braucht es uns nicht zu wundern, dass auch in der Bibel viel vom Küssen die Rede ist. Wer sich ein wenig im Alten Testament auskennt, der weiß, dass sich die Menschen damals üblicherweise mit einem Kuss begrüßten und auch verabschiedeten – jedenfalls dann, wenn eine herzliche Beziehung zwischen ihnen bestand. Und im Neuen Testament finden wir in den Paulus-Briefen gleich mehrfach ein Kuss-Gebot; wir haben es gerade im Predigttext gehört: „Grüßt euch untereinander mit dem heiligen Kuss.“
Was soll das denn sein – „der heilige Kuss“? Ist es ein Kuss auf die Stirn, auf den Mund, auf die Hand oder auf den Fuß? All das war damals möglich. Oder handelt es sich einfach nur um eine herzliche Umarmung? Das griechische Wort „philema“ bedeutete ursprünglich einfach „Liebkosung“. Oder war es ein besonderes Ritual? Was soll an diesem Kuss überhaupt heilig sein? Ist vielleicht einfach nur gemeint, dass es kein unheiliger Kuss sein soll? Also kein Kuss in erotischer Begehrlichkeit, weil der in die Intimität von Partnerschaft und Ehe gehört? Auch kein anbiedernder Kuss, kein einschleimender Kuss, kein höflicher Handkuss, kein Zeichen geheuchelter Freundschaft, kein Judas-Kuss? Aus all den Gedanken, die Christen im Lauf der Jahrhunderte über den heiligen Kuss geäußert haben, könnte man einen langen Vortrag zusammenstellen oder ein dickes Buch. Vor Jahren habe ich mal eine Abhandlung des Neutestamentlers Otto Kuss gelesen: Er war es leid, dass man seinen Namen als unpassend empfand für einen Theologen, und verwies aus diesem Grund auf den heiligen Kuss in der Bibel. Um den Rahmen dieser Predigt nicht zu sprengen, stelle ich hier einfach nur fest, was offensichtlich ist: Der heilige Kuss ist ein äußeres Zeichen des Zusammengehörens und der liebevollen Gemeinschaft von Glaubensgeschwistern. Die Anrede „liebe Brüder“, mit der Paulus den letzten Absatz dieses Briefes einleitet, steht in unmittelbarem Zusammhang mit dem heiligen Kuss. Dabei sind die Schwestern in Christus keineswegs ausgeschlossen.
Überhaupt geht es in diesem Schluss-Absatz des 2. Korintherbriefs vorrangig um Zusammengehörigkeit und liebevolle Gemeinschaft. Das betrifft nicht nur die zwischenmenschliche Beziehung von Christen, sondern das geht tiefer. Wenn wir der Frage heiliger Gemeinschaft in der Bibel auf den Grund gehen, dann gelangen wir direkt zu dem Thema des heutigen Festes, das ist die heilige Dreieinigkeit. Der eine wahre Gott hat sich uns Menschen in so einer Weise bekannt gemacht, dass wir drei göttliche Personen unterscheiden können: den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Das kommt auch im Schlusssatz des 2. Korintherbriefs zum Ausdruck, in diesem herrlichen Segenswort nämlich: „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus (das ist der Sohn) und die Liebe Gottes (das ist der Vater) und Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!“ Wenn wir uns auf dem Weg menschlicher Vernunft der heiligen Dreieinigkeit annähern, dann bleiben freilich viele Fragen offen, und diese biblische Lehre wird uns eher verwirren als im Glauben stärken. Da hören wir einerseits in Jesajas Weissagung von der Geburt des Erlösers, dass sein Name „Ewig-Vater“ ist (Jes. 95), und da berichten uns andererseits die Evangelisten, dass Jesus mit seinem Vater im Himmel redete. Manchmal ist vom Heiligen Geis in so einer Weise die Rede, dass man meinen könnte, es handele sich um eine unpersönliche göttliche Kraft, aber dann wird er auch „Tröster“ genannt und es ist von einer Taufe im Namen des Heiligen Geistes die Rede. Nun will uns Gott damit keineswegs verwirren oder ärgern. Im Gegenteil: Die biblischen Aussagen zu Gottes Dreieinigkeit sind hilfreich für unseren Glauben und unser Christenleben. Wir sollten aber darauf zu verzichten, diese Lehre spitzfindig mit kritischem Verstand zu analysieren, und stattdessen auf das Entscheidende achten. Das Entscheidende an der Dreieinigkeit ist offenkundig dies: Es gibt nur einen Gott, ein einziges göttliches Wesen, aber er ist kein einsames göttliches Wesen. Gott existiert vielmehr in einer inneren Gemeinschaft, einer inneren Zusammengehörigkeit. Wenn wir uns das bildlich vorstellen wollen, dann können wir durchaus sagen: Vater, Sohn und Heiliger Geist grüßen sich gegenseitig mit einem heiligen Kuss. Das heißt: Sie sind miteinander verbunden in heiliger Gemeinschaft und zeigen sich das auch; sie gehören zusammen und gehen liebevoll miteinander um. Jesus hat das besonders im Hinblick auf seine Beziehung zum himmlischen Vater betont und in vielen Predigten entfaltet: Der Vater liebt den Sohn, und der Sohn liebt den Vater. Der Vater sendet den Sohn, und der Sohn gehorcht dem Vater. Vater und Sohn gehören zusammen; sie sind eins. Was der Vater die Menschen lehren will, lehrt auch der Sohn, und was der Sohn tut, das tut auch der Vater. Beide aber reden und handeln durch den Heiligen Geist.
Gott hat sich als der Dreieinige offenbart, um uns zu zeigen: Auf die Gemeinschaft kommt es an, auf das friedliche Miteinander! In die liebevolle Beziehung von Vater, Sohn und Heiligen Geist werden nun wir Menschen einbezogen. Genau das war ja der Grund, warum der Gottessohn Mensch wurde: Durch sein Opfer am Kreuz hat er uns mit Gott versöhnt; er hat die Feindschaft der Sünde überwunden und uns mit ihm in Frieden wiedervereinigt. Jesus hat in seinen Predigten wiederholt darauf hingewiesen, dass wir in die Gemeinschaft von ihm und dem himmlischen Vater neu eingebunden werden sollen, also in die innere Zusammengehörigkeit des dreieinigen Gottes. Das ist die Kernbotschaft der Bibel, Gottes gute Nachricht, das Evangelium, auf Deutsch „Freudenbotschaft“. Es gibt keine größere Freude und kein größeres Glück als mit Gott zusammenzusein, wie es ja auch in unserer Jahreslosung heißt: „Gott nahe zu sein ist mein Glück“ (Psalm 73,28). Auch unser Predigttext setzt mit der herrlichen Aufforderung ein: „Liebe Brüder, freut euch!“ Freilich kommt nur derjenige in den Genuss dieser Freude, der seinen inneren Widerstand gegen Gott aufgibt, sich von der Sünde lossagt, Buße tut und sich von Gott zurechtbringen lässt. Darum schließt sich an die Aufforderung zur Freude sogleich der Rat an: „Lasst euch zurechtbringen, lasst euch mahnen!“ Diese Aufrufe hat Paulus bewusst in der Mehrzahl verfasst, denn er wendet sich an die Christen als Gemeinschaft, nämlich an die Gemeinde in Korinth sowie auch an die ganze christliche Kirche. Was für die drei Personen des einen Gottes untereinander gilt und was für jeden einzelnen Christen in seiner Beziehung zu Gott gilt, das gelte auch für die Gemeinschaft der Christen untereinander: Sie sei von herzlicher Liebe, Frieden und heiliger Zusammengehörigkeit geprägt. Folgerichtig fährt Paulus fort: „Habt einerlei Sinn, haltet Frieden! So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein.“ Dieses umfassende heilige Zusammensein findet wohl seinen stärksten Ausdruck im Heiligen Abendmahl. Das Sakrament des Altars wird darum auch „Kommunion“ genannt, auf Deutsch „Gemeinschaft“. Im Heiligen Abendmahl bewirkt der Heilige Geist, dass wir aufs Engste mit dem Gottessohn verbunden werden, wenn wir seinen Leib und sein Blut empfangen. Das Opfer des Sohnes aber überwindet, was uns von Gott trennt, und stiftet Frieden mit dem himmlischen Vater. Zugleich fügt das Abendmahl alle Kommunikanten (das sind die, die es gemeinsam empfangen) zu einem Leib zusammen, zu einer herzlichen und liebevollen Gemeinschaft.
In manchen Gemeinden ist es üblich, dass sich die Christen bei der Abendmahlsfeier gegenseitig Gottes Frieden wünschen, die Hand reichen oder ein anderes „Zeichen des Friedens“ geben, wie es in neueren liturgischen Texten heißt. Die Sache, die dahintersteckt, ist uralt: Es ist nichts anderes als der heilige Kuss! Manche Bibelausleger nehmen an, dass die Aufforderung zum heiligen Kuss schon damals in Korinth dazu geführt hat, dass sich die Gemeindeglieder in der gottesdienstlichen Versammlung liturgisch geküsst haben, zumindest die Männer. In den orthodoxen Kirchen hat sich daraus der Bruderkuss entwickelt, der in Russland auch auerßhalb der Kirche als herzliche Begrüßung oder Verabschiedung üblich geworden ist. In der römisch-katholischen Kirche gibt es heute noch die Sitte, dass Christen dem Papst die Hand küssen beziehungsweise den daran befindlichen Ring.
Und wie steht es mit uns? Es kommt Gott nicht auf ein bestimmtes Ritual an. Ob wir uns als von ihm Geheiligte nun gegenseitig küssen oder um den Hals fallen oder die Hand reichen oder uns irgendwelche anderen Zeichen der Verbundenheit geben, ist letztlich egal. Wichtig ist, dass wir uns mit dem dreieinigen Gott sowie auch untereinander verbunden wissen und dass wir uns das auch auf angemessene Weise zeigen – und sei es nur dadurch, dass wir normalerweise anwesend sind, wenn die Gemeinde zum Gottesdienst zusammenkommt, und dass wir dabei einander wahrnehmen. Denn küssen kann man nicht alleine, und Christ sein auch nicht. Amen.
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