Der christliche Organismus

Predigt über 1. Korinther 12 zu einer Tagung schulischer Mitarbeiter

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ein wunderbares Bild – Christen als Glieder an einem Leib, als Organe in einem lebendigen Organismus! Wunderbar ist dieses Bild auch deshalb, weil es in jedem Maßstab für die christliche Gemein­schaft passt: Nicht nur die ganze Christen­heit auf Erden ist so ein Organismus, nicht nur die einzelne Kirchen­gemeinde vor Ort, sondern beispiels­weise auch die Mitarbeiter­schaft von christ­lichen Schulen und Horten.

Blicken wir zuerst dankbar auf den Schöpfer dieses Leibes! Der dreieinige Gott hat diesen Organismus zusammengefügt und seinen einzelnen Organen eine Vielfalt von Gaben verliehen. Paulus schrieb: „Es sind ver­schiedene Gaben; aber es ist ein Geist. Und es sind ver­schiedene Ämter; aber es ist ein Herr (nämlich der Herr Jesus Christus). Und es sind ver­schiedene Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allen.“ Und wir lesen da auch: „Wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft.“ Mit der heiligen Taufe hat Gott jeden von uns als Glied in den Leib seiner Gemeinde eingefügt. Das Schöne an diesem Bild ist, dass es nicht nur ungefähr stimmt, sondern dass es bis in Einzel­heiten hinein unser geistliches Leben anschaulich macht. Jedes Glied und jedes Organ eines mensch­lichen Körpers bleibt nur deshalb lebendig, weil es mit dem ganzen Organismus verbunden ist. Auf diese Weise ist es an den Blut­kreislauf an­geschlossen und empfängt dadurch Sauerstoff sowie alle anderen lebens­wichtigen Stoffe. Das Blut entspricht in Christi Leib Gottes Wort. Gottes frohe Botschaft ist ja nicht bloß eine In­formation, sondern eine Leben spendende Quelle. Wenn wir geistlich lebendig und gesund sein wollen, dann ist es un­verzicht­bar, mit unserm Schöpfer im Gespräch zu bleiben und sein Wort in uns auf­zunehmen. Wir tun daher gut daran, die tägliche Andacht, die tägliche stille Zeit und auch das gemeinsame Hören und Betrachten von Gottes Wort zur lieben Gewohnheit werden zu lassen. Aus uns selbst heraus können wir nicht christlich leben; es ist alles Gottes Geschenk.

Blicken wir zweitens auf die Gaben! Gleich am Anfang des Kapitels nennt Paulus die eine grund­legende Gabe, die Gott allen Gliedern an seinem Leib gegeben hat; das ist der Glaube. Da steht: „Niemand kann Jesus den Herrn nennen außer durch den Heiligen Geist.“ Der Heilige Geist hat in uns allen das Vertrauen erweckt: Jesus ist mein Herr; er hat mich mit dem himmlischen Vater versöhnt; er leitet mein Leben; er hat alle Macht. Ja, das Bekenntnis dieses Glaubens ist Gottes grund­legende Gabe. Im Bild des Leibes entspricht der Glaube dem Stoff­wechsel in seinen Organen; chemisch betrachtet handelt es sich um eine Ver­brennung: Die Nährstoffe und der Sauerstoff aus dem Blut werden da so um­gewandelt, dass die einzelnen Zellen am Leben bleiben und in ihrer jeweiligen Eigenart aktiv werden. Theologisch aus­gedrückt: Gottes Wort erweckt und erhält in uns den Glauben. Dieser Glaube wirkt sich dann in unserm Leben aus – je nach den besonderen Gaben, also im Bild: je nach Eigenart der lebendigen Zelle, des Organs oder des Gliedes – sei es Hand oder Fuß, Mund oder Ohr. In einer Schule treten die ver­schiedenen Talente und Fähigkeiten der Mitarbeiter deutlich zu Tage: Da gibt es Lehrer für die ver­schiedenen Fächer; da gibt es einen klugen Kopf, der die Stunden­pläne aus­arbeitet; da gibt es aber auch jemanden, der die Toiletten putzt. Paulus nennt in unserm Kapitel eine Reihe von Geistes­gaben, auf die ich jetzt nicht alle eingehen kann; ich greife nur drei Beispiele heraus. Paulus schreibt von der Gabe der Zungenrede. Im kirchlichen Kontext verstehen wir darunter meistens einen Lobpreis mit Worten und Lauten, die dem natürlichen Menschen un­verständ­lich sind. Vom ur­sprüng­lichen Wortlaut und von der Pfingst­geschichte her können wir aber auch sagen: Das „Reden in Zungen“ ist der Gebrauch von Fremd­sprachen. Wer also Englisch-, Französisch- oder Russisch­lehrer ist, der kann „in Zungen reden“ und Schüler darin unter­weisen. So werden die Schüler dann unter anderem fähig, mit Christen aus fernen Ländern gemeinsam Gott zu loben, ihnen etwas von ihrem Glauben mitzuteilen oder auch das Glaubens­zeugnis fremder Menschen zu verstehen, das oft viel be­geisterter und eindrucks­voller ist als das Glaubens­zeugnis von uns nüchternen Deutschen. Paulus schreibt auch von der Gabe, die Geister zu unter­scheiden. Sogar an einer christ­lichen Schule kann man nicht als selbst­verständ­lich voraus­setzen, dass immer nur der Geist Gottes weht; oft genug wehen da andere Geister, und nicht immer gute. Wer die Gabe der Geister­unter­scheidung hat, merkt das und hat den Mut, es offen aus­zusprechen und etwas dagegen zu unter­nehmen. Schließlich rechnet Paulus auch offiziell übertragene Ämter zu den Geistes­gaben; für den kirchlichen Bereich seiner Zeit nennt er da Apostel, Propheten und Lehrer. Im schulischen Bereich gibt es zum Beispiel den Direktor, den Fach­bereichs­leiter, den einfachen Lehrer und den Haus­meister. Egal ob das Ganze eine stark aus­gebildete Hierarchie darstellt oder ob die kollegialen Strukturen vor­herrschen: Die Gaben­vielfalt in den Strukturen von Ämtern bedeutet keine absolute Gleichheit aller Mit­arbeiter, sondern vielmehr eine Rangordnung im Sinne kleinerer oder größerer Verant­wortungs­bereiche. Wer nun sein Amt als Gottesgabe erkennt, der wird darin nicht Macht­gelüste be­friedigen, sondern es so ausüben, dass er der Gesamtheit und dem gemeinsamen Auftrag dient. Die Einheit des Leibes ist also keine Einheit durch Gleichheit, sondern eine Einheit in der Vielfalt seiner Glieder.

Damit sind wir drittens beim Nutzen der Gaben. Der Apostel Paulus schrieb: „In einem jeden offenbart sich der Geist zum Nutzen aller.“ Wirklich aller. Das schließt ein, dass der Inhaber einer Gabe sie auch für den eigenen Nutzen gebraucht. Ich zum Beispiel halte jede Predigt auch für mich selbst, und es macht mir Freude. Dasselbe ist für die Ämter und Gaben im päda­gogischen Bereich zu wünschen: Wohl den Lehrern, die sich persönlich für ihr Fach interes­sieren und Freude daran haben! Wohl den Erziehern, denen es Spaß macht, mit Kinder zusammen zu sein! Der Segen für die anderen wird dann auch nicht ausbleiben. Sowohl in der Kirchen­gemeinde als auch in der christ­lichen Schule ist es ein Segen, der sowohl den Mitchristen zugute kommt als auch denen, die noch keine Christen sind. Übrigens hat der römische Geschichts­schreiber Titus Livius eine lateinische Fabel über den Leib und seine Glieder verfasst; möglicher­weise hat Paulus an sie gedacht, als er den 1. Ko­rinther­brief schrieb. In dieser Fabel machen die Glieder des Leibes einen Aufstand gegen den Magen, weil der scheinbar faul die Nahrung genießt, für die die anderen hart arbeiten müssen. Der Magen aber weiß sich zu recht­fertigen. Moral: Man sollte dem Magen sein Vergnügen gönnen, denn er trägt ja durch die Aufbereitung der Nahrung ent­scheidend dazu bei, dass alle Organe mit Nährstoffen versorgt werden. Ebenso kann es dem Fuß ein Vergnügen sein, zum Apfelbaum zu gehen; dem Auge, einen Apfel zu sehen; der Hand, den Apfel zu pflücken; dem Mund, den Apfel zu kauen. Jedes Glied trägt mit seiner besonderen Gabe zum Nutzen aller Glieder bei und hat davon auch selbst einen Nutzen. Insgesamt aber ist der gesunde Organismus in der Lage, auch nach außen hin zu wirken und anderen zu dienen.

An der Livius-Fabel sehen wir, dass die Ver­schieden­heit der Glieder zu Konflikten führen kann. Darum komme ich jetzt viertens und letztens auf die Gefahren der Gaben zu sprechen. Wer das 12. Ka­pitel des 1. Ko­rinther­briefs aufmerksam liest, der merkt, dass es solche Gefahren bei den Korinthern gegeben haben muss. Paulus schrieb: „Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder auch das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns die schwächsten zu sein scheinen, die nötigsten.“ Offen­sichtlich gab es Wichtigtuer in Korinth, die ihre eigenen Gaben und Ämter für un­entbehr­lich hielten, auf die anderen jedoch gering­schätzig herab­schauten. Gefährlich wird es also, wenn man sich mit anderen vergleicht, wenn man sich für wichtiger hält als andere, wenn man anderen nichts zutraut, wenn man im Stillen den Kollegen Zensuren gibt oder wenn man die Aus­arbeitung eines Jahres­stunden­plans für bedeutender hält als die Reinigung der Toiletten. Ich habe mich manchmal gefragt, was Paulus denn eigentlich mit den Gliedern meint, „die uns am wenigsten ehrbar zu sein scheinen“. Ich glaube, er meinte das Gesäß. Es ist peinlich und un­anständig, einem anderen Menschen sein Gesäß zu zeigen, darum legt man normaler­weise Wert darauf, dass die Gesäßpartie von passenden Kleidungs­stücken umhüllt ist. Paulus schrieb: „Die Glieder, die uns am wenigsten ehrbar zu sein scheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre.“ Natürlich stehen wir zu unserem Gesäß; es ist ein wichtiges Körperteil und übernimmt wichtige Aufgaben. So können wir lernen, wirklich alle Glieder des Leibes wert zu schätzen, auch wenn ihre Ämter und Aufgaben in verschieden hohem Ansehen stehen. Eigentlich kann es gar nicht anders sein, denn wir hängen auf Gedeih und Verderb zusammen. Paulus fügte hinzu: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit.“

Am Ende des 12. Ka­pitels schrieb Paulus: „Ich will euch einen noch besseren Weg zeigen.“ Dann folgt das 13. Ka­pitel, das berühmte Hohelied der Liebe mit so wunderbaren Sätzen wie: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mut­willen…“ Da beschrieb Paulus die Königin aller Geistes­gaben: die Liebe. Auch sie ist ein Geschenk, das Gott allen Gliedern am Leib Christi macht. Und sie ist eine Gabe, deren Gebrauch er uns vorrangig ans Herz gelegt hat. Wer seine anderen Geistes­gaben einsetzt, dabei aber die Liebe vergisst, der müht sich vergeblich. So ist es letztlich auch nur die Liebe, die uns vor der Gefahr schützt, bestimmte Gaben und Ämter zu verachten – oder die, die sie ausüben. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2012.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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