Die Durststrecke

Predigt über Johannes 16,16‑20 zum Sonntag Jubilate

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Vor langer Zeit, als es noch keine Autos und Eisenbahnen gab, da reisten die meisten Menschen zu Fuß. Sie reisten „auf Schusters Rappen“, wie man sagte. Wenn sie eine Weile marschiert waren, bekamen sie Durst. Und weil sie zusätzlich zu ihrem Reisegepäck nicht auch noch literweise Wasser mit sich herum­schleppen wollten, stillten sie ihren Durst normaler­weise an einer Quelle oder an einem Bach. Da fanden sie frisches kühles Wasser gegen den Durst, und im Gegensatz zum Wirtshaus kostete es da nichts. Wer weite Reisen zu Fuß unternahm, der kannte aber auch die Situation, dass lange Zeit keine Quelle und kein Bach auftauchte. Der Mund wurde trocken, die Zunge klebte am Gaumen, man sehnte sich die nächste Wasser­stelle herbei. „Durst­strecken“ nannte man solche Abschnitte einer Fußreise. Noch heute kennen wir das Wort „Durst­strecke“ als Redensart: Wer eine Zeitlang Ent­behrungen irgend­welcher Art durchleiden muss, der erlebt eine Durst­strecke.

Als Jesus am Abend vor der Kreuzigung mit seinen Jüngern sprach, der redete er ebenfalss von einer Durst­strecke. Diesen Begriff gab es damals freilich noch nicht, aber der Sache nach ist die „kleine Weile“, von der Jesus da sprach, nichts anderes als eine Durst­strecke. Er sagte zu den Jüngern: „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.“ Als die Jünger nach­fragten, da erläuterte er: „Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden.“

Uns drängt sich bei diesen Worten dieselbe Frage auf, die sich den Jüngern damals aufdrängte. Sie fragten sich: „Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater? Was bedeutet das, was er sagt: Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht, was er redet.“ Auch wir sind uns nicht im Klaren: Was für eine Durst­strecke hat Jesus da gemeint? Und ist sie jetzt, nach Ostern, überwunden? Oder liegt sie noch vor uns? Oder stecken wir mitten drin? Was ist das für eine Durst­strecke, von der Jesus geredet hat?

Fragen wir doch mal so: Was für eine Zeitspanne käme dafür überhaupt in Frage?

Erste Möglich­keit: Es könnte die Zeit zwischen Jesu Tod und Jesu Auf­erstehung gemeint sein. Jesus hatte schon mehrmals zuvor an­gekündigt, dass er leiden, sterben und dann wieder von den Toten auferstehen wird. In dieser Zeit haben die Jüngern ihn wirklich nicht gesehen, jedenfalls nicht lebendig. Das, was der Evangelist Johannes die „Welt“ nannte, freute sich da: Gemeint ist die gottlose Welt, gemeint sind die Feinde Jesu. Die freuten sich, weil sie glaubten, nun hätten sie Jesus endgültig zur Strecke gebracht. Und diese Zeit war wirklich eine Durststreck für die Jünger: Sie weinten und klagten tat­sächlich, sie waren un­beschreib­lich traurig. Ja, das könnte die „kleine Weile“ gewesen sein: die Zeit von Karfreitag nachmittag bis zum Oster­sonntag. Wenn das stimmt, dann betraf diese Durst­strecke nur die Jünger damals; für uns liegt sie weit zurück in der Vergangen­heit.

Zweite Möglich­keit: Es könnte die Zeit zwischen Himmelfahrt und Jesu Wiederkehr am Jüngsten Tag sein. Am Himmel­fahrts­tag ist Jesus in das himmlische Reich seines Vaters zurück­gekehrt. Die Bibel sagt: Er hat sich „gesetzt zur Rechten des Vaters“; so formulieren wir es ja auch im Glaubens­bekenntnis. Von dieser Zeit glauben wir zwar, dass Jesus durch den Heiligen Geist bei uns ist, sehen tun wir ihn aber nicht. Das macht der gottlosen Welt insofern Freude, als dass sie uns unter die Nase reibt: Wo ist denn euer Jesus? Zeigt ihn uns doch! Oder ist er etwa gar nicht auf­erstanden? Nicht nur solcher Spott von Ungläubigen hat die Christen aller Zeiten betrübt gemacht, sondern auch regelrechte Christen­verfolgun­gen, An­fechtungen, Krisen, die äußere Zerissen­heit der Kirche und all das andere, was man das Kreuz der Nachfolge zu nennen pflegt. Jesus selbst hat es voraus­gesagt für die Zeit, wenn er nicht mehr sichtbar da sein wird. Und er hat davon gesprochen, dass um seinet­willen Unfrieden in die Welt kommen wird. Das wäre dann die Durst­strecke der sogenannten „letzten Tage“, des letzten Abschnitts der Welt­geschichte zwischen der Himmelfahrt des Herrn und dem Jüngsten Tag. Wenn das stimmt, dann betrifft diese Durst­strecke auch uns heute, dann sind wir mitten drin.

Wisst ihr was? Ich glaube, Jesus hat beides gemeint. Das gibt es öfters in der Bibel: dass Gottes Wort nicht nur einen vorder­gründigen Sinn hat, sondern dazu auch einen hinter­gründigen. Der vorder­gründige Sinn ist dabei ein Bild und Gleichnis für den hinter­gründigen. Ich meine es so: Jesus sprach vorder­gründig von seiner Zeit im Grab, von den drei Tagen seines Totseins. Dann stand er auf von den Toten, und die Trauer seiner Jünger wurde in Freude verkehrt. Mit seiner Auf­erstehung aber ist er der „Erstling“ geworden der Auf­erstehung von den Toten, so steht es in der Bibel. Das heißt, mit seiner Auf­erstehung ist für seine Person die Auf­erstehung von den Toten vorweg­genommen worden, die für die Gläubigen erst am Jüngsten Tag geschehen wird: die Auf­erstehung mit einem neuen, herrlichen Leib; die Auf­erstehung zur ewigen Seligkeit. Damit werden Jesu drei Tage im Grab zum Sinnbild für die Wartezeit aller Christen bis zum Jüngsten Tag. Und damit ist die von Jesus genannte Durst­strecke hinter­gründig die Zeit der Kirche auf Erden.

Aber ist das nicht eine ziemlich traurige Nachricht für uns? Was hat das mit Jubilate zu tun; wo bleibt der Osterjubel? Müssen Christen auf Erden nur weinen, können sie erst im Himmel wieder lachen?

Wenn Jesus beides gemeint hat, dann ist unsere Zeit doppelt bestimmt. Einerseits liegt die Durst­strecke schon lange hinter uns: Jesus ist ja auf­erstanden und lebt. Wir jubeln unserm lebendigen Herrn fröhlich zu; in jedem Gottes­dienst tun wir das. Wir können fröhlich und getrost sein, weil er bei uns ist auf unserer Lebens­reise, genauso wie er bei den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus war. Wir sind erlöst, unsere Schuld ist vergeben, wir haben Frieden mit Gott. Unsere Sünden sind vergeben, das ewige Leben ist uns verheißen – Jesus hat unsere Traurigkeit wirklich in Freude verwandelt. Anderer­seits befinden wir uns mitten in einer Durst­strecke. Unsere Tränen sind noch nicht alle getrocknet, wir müssen immer wieder leiden an Leib und Seele. Die Gottlosig­keit scheint in unserer Zeit zu trium­phieren, während die Christen­heit armselig und schwach und zerrissen dasteht. Unser Glaube ist klein und an­gefochten, der Teufel sät uns tausend Zweifel ins Herz. Einerseits nicht mehr auf der Durst­strecke, anderseits immer noch auf der Durst­strecke – das ist unsere Situation als Christen in dieser Welt. Einerseits schon ganz erlöst durch das Blut Jesu und ganz in Gottes Reich aufgenommen durch die Taufe, anderer­seits noch nicht im Himmel. Erst wenn wir Jesu Worte von der „kleinen Weile“ in dieser Weise doppelt deuten, dann verstehen wir unseren Weg als Gottes Volk in dieser Welt: nicht mehr – aber immer noch; schon – aber noch nicht; einerseits – anderer­seits. Das ist kein Grund zu verzagen. Nimm vor allen Dingen das „Anderer­seits“ in den Blick: dass Christus schon auf­erstanden ist, dass er alle Tage bei uns ist, dass du Grund zum Jubeln hast. Ja, lass dir das immer wieder zurufen durch die gute Nachricht des Evan­geliums. Lass dich darin immer wieder bestärken durch Christi Leib und Blut im Abendmahl. Wenn du davon reichlich Gebrauch machst und vor allem darauf achtest, dann merkst nämlich, dass du eigentlich nicht mehr auf einer Durst­strecke bist. Dann findest du schon jetzt immer wieder eine Quelle und ein Bächlein auf deiner Lebens­wanderung; dann kannst du auch in schweren Zeiten deinen Durst stillen mit dem lebendigen Wasser der göttlichen Gnade. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2011.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum