Gott will Juden und Heiden erlösen

Predigt über Römer 11,25‑32 zum 10. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wie stellt man es an, dass eine Information im Bekannten­kreis möglichst weit verbreitet wird? Böse Zungen behaupten, manch braucht sie nur einem Freund als Geheimnis an­zuvertrauen; der wird dann – selbst­verständlich vertraulich! – die Sache anderen weiter­erzählen, und so wird sich die Information dann in Windeseile verbreiten. Diese Meinung ist natürlich nicht ganz ernst zu nehmen, denn wir alle wissen: Eigentlich sollte man ein Geheimnis nicht weiter­erzählen, sondern es für sich behalten – jedenfalls das, was man heutzutage gemeinhin ein Geheimnis nennt. Wenn allerdings in der Bibel von Geheim­nissen die Rede ist, dann ist das anders. Die Geheim­nisse, die in der Bibel stehen, brauchen nicht geheim gehalten zu werden, sondern sie dürfen (und sollen sogar) allen Menschen bekannt werden. Wenn Paulus am Anfang der heutigen Epistel schreibt: „Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen“, dann redet er eigentlich von etwas, was alle erfahren können. Da erhebt sich die Frage: Warum spricht er denn überhaupt von einem Geheimnis? Die Antwort: Ein „Geheimnis“ im biblischen Sinn ist eine Infor­mation, die der natürliche Menschen­verstand nicht von sich aus erlangen kann. Paulus fügte deshalb zum Wort „Geheimnis“ hinzu: „… damit ihr euch nicht selbst für klug haltet.“ Also: Nur Gott selbst kann solches „Geheimnis“ offenbar machen; kein Mensch kann es nachprüfen oder beweisen; man kann es einfach nur glauben. Vielleicht wäre es besser, man würde hier in Anlehnung an den griechi­schen Urtext von einem „Mysterium“ reden und nicht von einem Geheimnis.

Betrachten wir nun also Gottes Mysterium, das der Apostel Paulus uns hier durch Eingebung des Heiligen Geistes offenbart. Es geht da um Glaube und Unglaube, um Verstockung und Erwählung, um Juden und Heiden. Was Paulus hier geschrieben hat, ist nicht leicht zu verstehen, dagegen leicht miss­zuverstehen. Dieser Bibel­abschnitt gehört zu den anspruchs­vollsten Texten der gesamten Bibel! Am besten können wir uns das, was Paulus sagen will, klar machen, wenn wir uns Gottes Heils­geschichte mit Israel und mit der ganzen Welt vor Augen führen.

Da lebte vor etwa 4000 Jahren ein Mann, den hatte Gott sehr lieb. Er hieß Abraham. Gott versprach Abraham, ihn besonders zu segnen: Aus seiner Nachkommen­schaft würde ein großes Volk werden, und aus diesem Volk würde dann Segen für alle Völker kommen. Abrahams Enkelsohn Jakob erhielt den Beinamen „Israel“, und seine zwölf Söhne wurden die Stammväter des gleich­namigen Volkes, das Gott sich besonders erwählte. Gott gab ihnen seine Gebote und schloss mit ihnen einen Bund: Er wollte es ihnen gut gehen lassen im Land Israel – unter der Bedingung, dass sie ihm die Treue hielten. Paulus sagte von den Juden: „Im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen (also um Abrahams und Jakobs willen), denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“ Ja, Gott hat die Juden bis zum heutigen Tag lieb, so wie er Abraham geliebt hat.

Und dennoch ist die Geschichte des Volkes Israel eine Geschichte von Abfall und Ungehorsam, von Verstockung und göttlichen Straf­gerichten. Schon ganz kurze Zeit nach Gottes Bundes­schluss mit Israel fiel das Volk von ihm ab und verehrte stattdessen ein selbst­gemachtes Götzenbild, das goldene Kalb. (Schon damals hatte das Gold eine unheimliche verführende Macht, ebenso wie auch heute noch, wenn auch in anderer Hinsicht.) Hundert Jahre später herrschten dann er­schreckend gottlose Zustände in Israel; das Buch der Richter nennt uns viele Beispiele dafür. Da gab es einmal einen Ehekrach; die Frau riss aus und ging zu ihrem Vater zurück; der Ehemann reiste ihr nach; sie versöhnten sich wieder; auf der Heimreise über­nachteten sie in einer Stadt des Stammes Benjamin; die Einwohner ver­gewaltigten die Ehefrau zu Tode; die Benjami­niter wollten die Schuldigen nicht bestrafen; der Ehemann mobili­sierte ganz Israel zu einem Vergeltungs­schlag gegen die Benjami­niter; es kam schließlich zu einem grausamen Krieg, dem fast alle Benjami­niter zum Opfer fielen. Man stelle sich das vor: Aus einem Ehekrach wird ein Bruder­krieg, ein Völkermord! (Auch diese Dinge sind uns in der Gegenwart nicht fremd, weder der Ehekrach noch der Völkermord noch die Tatsache, dass aus kleinen Sünden große Sünden werden.) Das Alte Testament steckt voller solcher grausamen Ge­schichten, die alle zeigen, dass Israel sich seiner Stellung als Gottes Eigentums­volk nicht würdig erwies. (Ebenso erweist sich unser Volk heute nicht seiner Stellung im christ­lichen Abendland und der Reformation würdig.) Gott gab immer wieder Denkzettel, Gott mahnte und warnte immer wieder durch seine Propheten – genützt hat es so gut wie nichts. Große Teile des erwählten Bundes­volkes blieben verstockt, bis hin zur Zeit von Johannes dem Täufer und von Jesus. Der absolute Höhepunkt der Auflehnung gegen Gott aber war, dass die führenden Juden alle Hebel in Bewegung setzten, um den Mensch gewordenen Gottessohn ans Kreuz zu bringen. Paulus sagte: „Ver­stockung ist einem Teil Israels wider­fahren“, und: „Im Blick auf das Evangelium sind sie Feinde.“

Aber genau an der Stelle geschah das Un­erwartete, das Un­verständ­liche, das Geheimnis­volle, das Mysterium: Gott machte aus dem Ungehorsam und der Verstockung seines Volkes etwas Gutes, und zwar etwas Gutes nicht nur für die Juden selbst, sondern auch für alle anderen Völker, die sogenannten „Heiden“: Gott stiftete auf der Grundlage des Mordes an Jesus einen neuen Bund, einen Gnadenbund, einen Bund der Sünden­vergebung. An diesem Bund sollten Heiden und Juden gleicher­maßen Anteil haben. Jesu Tod am Kreuz, von den führenden Juden ver­schuldet, wirkt Vergebung der Sünden für alle Menschen! Paulus sagte: „Wie ihr (die Heiden) zuvor Gott ungehorsam gewesen seid (weil ihr nämlich Götzen gedient habt), nun aber Barmherzig­keit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams (also durch den Tod Jesu, der durch den Unglauben der führenden Juden herbei­geführt worden war), so sind auch jene (die Juden) jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzig­keit, die euch (den Heiden) widerfahren ist, damit auch sie (die Juden) jetzt Barmherzig­keit erlangen.“ Also: Alles zielt letztlich darauf ab, dass Gott alle Menschen jetzt, zur Zeit des neuen Bundes, erlösen will! Sogar die Verstockung des Teils der Juden, die Jesus nicht als Messias an­erkannten, musste letztlich zu Gottes großartigem Erlösungs­werk mit Jesu Tod am Kreuz beitragen. „Denn“, so sagte Paulus, „Gott hat alle ein­geschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“

Was für ein Mysterium, was für eine wunderbare Sache! Gott schreibt auf krummen Linien grade! Gott lässt aus Ungehorsam Heil werden! Noch erstaun­licher wird dieses Mysterium aber dadurch, dass Gott damit keineswegs improvi­siert hat, sondern dass dies alles schon längst so geplant und eingefädelt war. Kehren wir in Gedanken noch einmal an den Anfang zurück, zu Abraham: Gott hatte ihm vesprochen, dass durch ihn einmal alle Völker gesegnet werden würden. Gott hat dieses Versprechen erfüllt, indem er seinen Sohn als einen Juden, einen Nachkommen Abrahams, zur Welt kommen ließ und durch seine Erlösungs­tat allen Völkern das Tor zum ewigen Leben öffnete. In der Zwischen­zeit hat Gott immer wieder an dieses Versprechen erinnert und es häufig bestätig lassen durch seine Boten, die Propheten. Zwei von ihnen, nämlich Jesaja und Jeremia, lässt Paulus hier in diesem Abschnitt des Römerbriefs zu Wort kommen. Es heißt da: „… wie geschrieben steht: Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosig­keit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.“ Die Sünden­vergebung, die „Abwendung aller Gottlosig­keit“, ist das Marken­zeichen von Gottes neuen Bund; sein Sohn, sein Erlöser Jesus Christus, hat ihn gestiftet. Wer an Jesus glaubt, der geht nicht an seiner Sünden­krankheit zugrunde, sondern der findet herrliche und ewige Gemein­schaft mit dem Vater im Himmel.

Paulus belegte mit diesen Propheten­worten eine Kernaussage in unserem Bibel­abschnitt: „So wird ganz Israel gerettet werden“, schrieb er. „So“, schrieb Paulus, „auf diese Weise“, nämlich durch den Glauben an Jesus. Es ist dieselbe Weise, durch die auch „die Fülle der Heiden“ zum Ziel gelangt. Paulus sagte damit keineswegs, dass sämtliche Juden und sämtliche Heiden selig werden, unabhängig von ihrem Glauben. Nein, der ganze Zusammen­hang dieses Abschnitts und der ganze Römerbrief bezeugen, dass nur der Glaube an Jesus gerecht macht; ohne Glauben an Jesus ist keine Erlösung zu erwarten. Mit der „Fülle der Heiden“ meinte Paulus demnach die Vollzahl der Gerechten – soviele aus allen Völkern durch den Glauben an Jesus selig werden. Und mit „ganz Israel“ meinte Paulus dasselbe: Er meinte das geistliche Israel – diejenigen nämlich, die so wie Abraham Gott vertrauen und darum im geistlichen Sinn Abrahams Kinder sind. Denn jetzt, zur Zeit des neuen Bundes, ist da kein Unterschied mehr zwischen Christus-gläubigen Juden und Christus-gläubigen Heiden, sie sind alle die eine Herde des guten Hirten, sie gehören alle zu dem einen Leib Christi, sie sind alle das eine auserwählte Gottesvolk des neuen Bundes. „So (auf diese Weise) wird ganz Israel gerettet werden“ – das Israel des neuen Bundes nämlich, die Gemeinde der Heiligen!

Fürwahr, schwere Worte, geheimnis­volle Worte, Mysteriums-Worte! Wir können sie nur staunend glauben, nicht aber mit unserem Verstand nach­vollziehen. Wenn wir sie aber staunend glauben, dann ist die Sache, die sie sagen, kinder­leicht zu verstehen. Das Mysterium, das wir durch den Heiligen Geist und durch Paulus hier erfahren, ist nichts anderes als das liebe Evangelium, Gottes Haupt­botschaft in der Bibel. Sie sagt uns: Gott hat alle Menschen lieb, wie er Abraham liebte. Er möchte sie alle selig machen und hat darum für alle seinen Sohn in die Welt geschickt. Den Unglauben, den er teilweise in seinem alten Bundesvolk Israel vorfand, hat er als Werkzeug für seine Erlösung benutzt, für den Opfertod Jesu am Kreuz. Diese frohe Botschaft gilt nun Juden und Heiden gleicher­maßen. Wer diesem Evangelium glaubt, dem vergibt Gott allen früheren Ungehorsam und alle Sünde. Wer dem Evangelium glaubt, der kann auch in herz­zerreißend gottlosen Zeiten heraus­gerettet werden aus allgemein um sich greifender Ver­stockung. Wer dem Evangelium glaubt, gehört zu Gottes neuem Bundesvolk in Zeit und Ewigkeit. Das alte Bundesvolk Israel hat dabei keine Vorzugs­stellung mehr; wir ehren es jedoch dafür, dass Gott durch dieses Volk und dessen Väter die Erlösung der ganzen Welt vorbereitet hat. In allem aber erkennen wir die große Liebe Gottes, die sich in den letzten Wort unseres Bibel­abschnitts zeigt: „… damit er sich aller erbarme.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2010.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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