Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
An der Schwelle eines neuen Jahres stellen viele Menschen sich die Frage: Was kann mir passieren? Und je nachdem, was es für Menschen sind und was sie im alten Jahre erlebt haben, stellen sie die Frage mit verschiedenen Betonungen.
Der Optimist fragt: Was kann mir passieren? Er meint damit: Mir wird schon nichts passieren, es wird schon alles gut laufen im neuen Jahr! Wünscht man dem Optimisten ein glückliches und gesundes neues Jahr, dann zweifelt er nicht daran, dass es so kommen wird. Beneidenswert, dieser Optimist. Aber auch unrealistisch. Denn wenn man das Leben ein bisschen kennt, dann weiß man, dass gut gemeinte Neujahrs- und sonstige Wünsche oft genug nicht in Erfüllung gehen.
Der Verantwortungsvolle fragt: Was kann mir passieren? Er möchte die Risiken abschätzen, die vor ihm liegen, und er möchte sich gegen diese Risiken absichern. Es könnte zum Beispiel sein, dass er im alten Jahr einen böswilligen Nachbarn bekommen hat, der ihn im neuen Jahr wegen irgend einer Lappalie verklagen könnte. Eine Rechtsschutzversicherung muss her, sagt sich der Verantwortungsvolle, damit ich im Ernstfall guten Rat und Beistand habe. Freilich muss er einsehen, dass man sich zwar gegen vieles, aber längst nicht gegen alles absichern kann.
Der Ängstliche fragt: Was kann mir passieren? Ständig geht ihm durch den Kopf, was alles geschehen könnte, gegen das man nicht gefeit ist. Begierig saugt er alle Schreckensnachrichten auf, die ihm ins Haus kommen, und er malt sich aus, wie es wäre, wenn ihn solches Unglück träfe. Wenn seine Firma zum Beispiel bankrott machte und er arbeitslos dastünde, ohne Aussicht auf eine neue Anstellung. Oder wenn eine Inflation seine Ersparnisse entwertete und auch die Altersvorsorge zunichte machte. Der Vater von Dietrich Bonhoeffer zum Beispiel, ein wohlhabender Mann, konnte sich in der Inflationszeit von seiner ausgezahlten Lebensversicherung gerade mal Schälchen Erbeeren kaufen!
Dem Verzweifelten ist schon ganz viel passiert – soviel, dass er ausruft: Was kann mir jetzt noch passieren! Schlimmer kann's nicht mehr kommen; tiefer kann ich nicht mehr sinken! Vielleicht hatte er einen Unfall mit schweren Verletzungen, die ihn fürs Leben zeichnen. Vielleicht hat er einen sehr lieben Menschen verloren, und die Lücke ist allzu schmerzlich. Vielleicht hat er die Diagnose „Krebs“ erhalten und ahnt, dass er nicht mehr lange zu leben hat. „Was kann mir jetzt noch passieren!“
Liebe Brüder und Schwestern in Christus, bei einem meiner ersten Krankenbesuche, zu denen ich als junger Vikar gerufen wurde, teilte mir die Patientin sogleich ihre Diagnose mit (sie hatte sie selbst erst vor wenigen Stunden erhalten): „Ich habe Krebs!“ Ihre Stimme verriet dabei, dass sie zu den Verzweifelten gehörte, die ausrufen: Was kann mir jetzt noch passieren! Ich wollte und sollte sie mit Gottes Wort trösten, aber mit welchem Gotteswort? Da wählte ich genau jenen Abschnitt aus dem Römerbrief, der auch der heutigen Predigt zugrunde liegt. Ich las: „Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?“ Ich las den ganzen Abschnitt mit seinen insgesamt fünf Fragen und seinen wunderbar tröstlichen Antworten. Und ich hoffe, dass Gott die Frau mit diesen Worten getröstet hat.
Auch jetzt wieder stelle ich dem verzweifelten Ausruf: „Was kann mir jetzt noch passieren!“ die Fragen aus unserem Gotteswort gegenüber. Darüber hinaus stelle ich sie unserer Ausgangsfrage: „Was kann mir passieren?“ mit all ihren Schattierungen gegenüber. Denn dieses Gotteswort gilt nicht nur den Verzweifelten, sondern auch den Ängstlichen, den Verantwortungsvollen und sogar den Optimisten. Unserem menschlichen Gefrage stelle ich also folgende Fragen aus Gottes Wort gegenüber: „Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?“ Antwort: Natürlich niemand! – „Wie sollte uns Gott mit seinem eigenen Sohn nicht alles schenken?“ – Antwort: Etwas Wertvolleres hätte er uns gar nicht schenken können! – „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen?“ Antwort: Niemand! – „Wer will verdammen?“ Antwort: Niemand! – „Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?“ Antwort: Nichts und niemand!
Diese Antworten entspringen nun keineswegs einem unrealistischen Optimismus. Der Apostel Paulus schreibt ja auch gar nicht, dass uns Christen nichts Schlimmes passieren kann. Im Gegenteil, er zählt eine ganze Reihe von Leiden in der Nachfolge Christi auf; er selbst hat das meiste davon am eigenen Leibe erfahren: Trübsal, Angst, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr, oder gar das Schwert des Scharfrichters. Auch einem Christen kann eine ganze Menge passieren, und es passiert auch wirklich. Aber – und das ist das Entscheidende – das alles kann uns nicht von Gott trennen! Wenn es uns aber nicht von Gott trennen kann, dann kann es uns auch nicht kaputt machen, dann kann es uns nicht vom Leben trennen, denn bei Gott ist die Quelle des Lebens. Vieles kann uns passieren, aber nichts kann uns von Gott trennen und vom ewigen Leben.
Worauf gründet diese Zuversicht? Auch das beantwortet unser Gotteswort klar und deutlich: Gottes Sohn Jesus Christus steht dafür ein, dass uns nichts von Gott trennen kann. Wie Jesus das macht, davon habe ich in fast allen Predigten dieses Jahres gesprochen, und das wird auch das Hauptthema meiner Predigten im neuen Jahr bleiben. Wie Jesus das macht, davon hat der Apostel Paulus mit größter Ausführlichkeit in den vorangehenden sieben Kapiteln des Römerbriefs geschrieben. Hier, im achten Kapitel, greift er darauf zurück und zeigt, dass wir mit Jesus eine Trennung von Gott wirklich nie zu befürchten haben. Auch wenn der Optimismus des Optimisten nachhaltig erschüttert werden sollte und sein neues Jahr weder gesund noch glücklich sein wird, bleibt er doch mit Gott verbunden. Paulus hat einige Verse vor unserem Predigttext geschrieben: „Wenn wir mit Christus leiden, werden wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben“ (Römer 8,17). Wenn uns Leidvolles passiert, ist das also geradezu eine Bestätigung dafür, dass wir zu Jesus gehören und durch ihn mit Gott verbunden sind! Das Kreuz der Nachfolge rückt uns das Kreuz des Erlösers ins Bewusstsein. Falls uns böse Nachbarn oder andere Menschen verlachen oder verklagen, dann haben wir einen weitaus besseren Trost als eine Rechtsschutzversicherung, denn wir wissen: Christus ist zur Rechten Gottes und vertritt uns; Christus steht für uns ein, selbst wenn der Teufel persönlich uns mit unserer Sünde bei Gott anschwärzen will. Falls uns wirtschaftliche Not treffen sollte, dann haben wir doch immer noch den größten Schatz, den es gibt; Gott selbst hat ihn uns geschenkt: „Er hat auch seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ Ja, sogar wenn die Todesangst kommt, die Verzweiflung, die nicht mehr größer werden kann, dann gilt: „Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist.“
Was kann uns also passieren im neuen Jahr? Nichts, was uns von Gott trennen könnte. Denn: „Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?“ – „Wie sollte uns Gott mit seinem eigenen Sohn nicht alles schenken?“ – „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen?“ – „Wer will verdammen?“ – „Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?“ Aber jetzt Schluss mit der Fragerei; am Ende steht das wunderbare und tröstliche Bekenntnis der Gewissheit ohne Fragezeichen da: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |