Der beste Hirte

Predigt über Johannes 10,11‑16 zum Sonntag Miserikordias Domini

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Der berühmteste Hirte in Deutschland ist eine Hirtin. Sie heißt Angela Merkel. Jedenfalls kann man sie im Geiste der Antike und im Geiste der Bibel als Hirtin bezeichnen. Denn in alten Zeiten verglich man Staatenlenker mit Hirten, überhaupt Leute in höheren Positionen, die andere zu führen hatten. Unsere Top-Manager könnte man also ebenfalls „Hirten“ nennen, denn sie tragen Verantwortung für viele tausend Angestellte. Und wir Pfarrer sind natürlich auch Hirten, denn wir haben Kirchen­gemeinden zu führen. Das lateinische Wort „Pastor“ heißt übersetzt nichts anderes als „Hirte“.

In biblischen Zeiten hat man führende Persönlichkeiten darum als „Hirten“ bezeichnet, weil jedes Kind wusste, was ein richtiger Hirte war und tat; entsprechend konnte man das dann auf einen Menschen­hirten übertragen. Ein richtiger Hirte hatte eine Herde von Kleinvieh zu führen, Schafe und Ziegen. Das war kein ruhiger Job, das war eine verantwortungs­volle Aufgabe. Die Hirten mussten mit ihren Herden weite Reisen unternehmen. Die Schafe und Ziegen mussten dahin gebracht werden, wo es gute Weide und vor allem Wasser gab. Sie mussten gegen wilde Tiere verteidigt werden. Verlorene Tiere mussten gesucht, verletzte Tiere medizinisch versorgt werden. Ein Hirte war nicht nur Aufpasser, sondern auch Reiseleiter, Kindermädchen, Arzt und Löwen­bändiger. Eben wie ein guter Politiker auch sein sollte, oder ein Manager, oder ein Pastor.

In der Bibel finden wir viele Beispiele von Hirten, gute und schlechte. Manche von ihnen waren zunächst richtige Hirten, später dann Menschen­hirten: Mose zum Beispiel, oder König Saul, oder König David. Nun taucht aber im Alten Testament auch immer wieder die prophetische Ankündigung auf, dass Gott einen ganz besonderen Hirten schicken wird für sein Volk Israel. Mit diesem guten Hirten wollte Gott seine Herde nicht mehr unzuverlässigen Menschen überlassen, sondern sich selbst ihrer annehmen. Dieses Versprechen hat Gott mit Jesus erfüllt. Jesus selbst hat ausdrücklich gesagt: „Ich bin der gute Hirte.“ Der gute Hirte, den die Propheten vorausgesagt haben. Der gute Hirte, durch den Gott selbst sich seiner Herde annimmt, denn Jesus ist Gottes Sohn. Alle Menschen sind Gottes Eigentum, und das Volk Israel ist sein besonderes Eigentums­volk, seine besondere Herde. Darum ist Gottes Sohn als Mit-Eigentümer der gute Hirte. Er is also kein angeheuerter Mietling, der den Hirtendienst nur als Job zum Geld­verdienen ansieht.

Jesus ist das beste Beispiel eines Hirten, das sich in der Bibel und überhaupt in der Welt finden lässt. Und wir sind sein Volk, Schafe in seiner Herde. Es geht jetzt nicht darum, dass wir uns Jesus zum Vorbild nehmen, denn die meisten von uns sind ja selbst keine Hirten. Es geht jetzt vielmehr darum, dass wir uns aus der Schaf-Perspektive einmal klar machen, was für einen großartigen Hirten wir haben. Wenn ihr wollt, könnt ihr jetzt die Augen zumachen und euch das vor eurem inneren Auge vorstellen, was das heutige Evangelium uns von unserem guten Hirten Jesus vor Augen malt.

Der gute Hirte kennt seine Schafe, und sie kennen ihn. Er kennt sie mit Namen. Er sagt: „Na, Max, drängele nicht so am Wasser­trog, die anderen wollen auch trinken!“ Und er sagt: „Nicht so schüchtern Betty, ‚ran an den Wasser­trog, sonst verdurstest du ja!“ Er sieht, dass Lily sich in einem Dorn­gestrüpp verheddert hat und hilft ihr da wieder heraus. Auf die blutigen Kratzer am Kopf tupft er behutsam Öl. Lily blökt jämmer­lich, und da redet ihr der Hirte gut zu: „Ich weiß, Lily, das tut jetzt ein bisschen weh, wird aber bald besser sein!“ Aber wo ist Fritz? Der Hirte hat stets die ganze Herde im Blick und weiß genau, wenn ein Schaf fehlt. „Fritz!“ ruft der Hirte, und noch einmal: „Fritz!“ Aber Fritz kommt nicht. Da nimmt der Hirte seinen Krummstab und macht sich auf den Weg, um Fritz zu suchen. Er braucht nicht lange zu gehen, da hört er auch schon ein paar klägliche Laute aus einer Felsspalte. Fritz ist auf einer übermütigen Entdeckungs­tour da hineingeraten und kommt nicht wieder heraus. Der Hirte legt die Rundung von seinem Stab um Fritzens Körper und zieht ihn heraus. Beschämt trottet der Ausreißer hinter dem Hirten her, zurück zur Herde.

Auf einmal ist vom Waldrand her ein gefährliches Knurren zu hören. Die Schafe zucken zusammen, der Hirte fährt herum – da sieht er sich einem großen, bösen, gefährlichen Wolf gegenüber. Jawohl, böse und und gefährlich. Wir denken ja heute leicht in unserer Natur­romantik, Tiere sind gar nicht gefährlich, nur gefährdet. Das erweist sich immer wieder als verhängnisvoller Irrtum, und dann kann man in der Zeitung von Afrika-Touristen lesen, die von Eelfanten tot­getrampelt wurden, oder von einer verwirrten Frau, die im Eisbärengehege des Berliner Zoos schwimmen wollte und von den Bären schwer verletzt wurde. Zu biblischen Zeiten wussten noch alle, wie gefährlich Wölfe sind – vor allem, wenn sie Hunger haben! Solch ein Wolf steht jetzt also der Herde gegenüber, bereit, sich jeden Moment auf sie zu stürzen und die Schafe zu zerfleischen. Der Hirte wird blass, ihm wird ganz mulmig in der Magengegend. Wäre er nur zum Geld­verdienen Hirte, dann würde er sich jetzt verdrücken und die Herde dem Untier überlassen. Aber die Schafe sind sein Eigentum, sie liegen ihm Herzen, er kennt sie alle mit Namen. So nimmt er all seinen Mut zusammen, ergreift seinen Stab und tritt dem Wolf entgegen, um ihn abzuwehren. Wie wird der Kampf enden – Mensch gegen Bestie, Hirte gegen Wolf?

Wäre der Hirte David, dann gäbe es jetzt eine kinoreife Helden­geschichte. Der junge, furchtlose David würde mit seiner Stein­schleuder kämpfen; treffsicher würde er den Wolf am Kopf verwunden und ihn dann mit seinem Hirtenstab so windelweich prügeln, dass er sich so bald nicht wieder an die Herde herantraut. Aber der Hirte ist nicht David, sondern er ist der Davidssohn, Jesus. Der Wolf stürzt sich auf den guten Hirten und reißt ihn nieder, und dann beißt er ihm die Kehle durch. Der Wolf tötet den Hirten – aber damit ist seine Mordlust befriedigt, und er trottet zurück in den Wald. Die Schafe kommen ungeschoren davon.

„Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“, sagte Jesus. Kann ein Hirte sich mehr für seine Herde einsetzen? Wohl kaum, das ist der beste Hirte. Unser Hirte Jesus Christus, der für uns sein Leben gelassen hat am Kreuz.

Menschlich gesehen ist das natürlich völlig unrealistisch. Welcher echte Hirte würde schon freiwillig in den Tod gehen für seine Schafe? Die Schafe sind doch dazu da, dass sie einmal für den Besitzer sterben sollen, nicht der Besitzer für sie! Aber wir haben es hier mit Gottes Weisheit zu tun, die ganz anders ist als mensch­liche Weisheit. Das Wort vom Kreuz Jesu ist, menschlich gesehen, eine Torheit. Darum begegnen uns auch immer wieder Leute, die überhaupt keinen Zugang haben für den Opfertod Jesu am Kreuz. Das kommt daher, weil sie eher an ihre eigene Vernunft glauben als an Gottes Wort. Gottes Wort aber sagt schlicht und klar: „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“

Und wie geht es weiter für die Schafe, nach dem Tod des Hirten? Nun, es ist Ostern geworden! Der Hirte ist auferstanden von den Toten! Er lebt noch heute und ist noch heute der beste Hirte der Welt. Noch heute ruft er seine Schafe mit Namen, noch heute kümmert er sich liebevoll um sie.

Und da sieht er auf einmal fremde Schafe am Rand der Wiese auftauchen. Ganz erbärmlich sehen sie aus. Verdreckt, verletzt und abgemagert. Eine trostlose Herde! Der Hirte merkt: Das sind Schafe ohne Hirten. Sie haben keinen, der sie auf grüne Weide und zum frischen Wasser führt. Sie haben keinen, der sie aus Dorngestrüpp und Felsspalten herauszieht. Sie haben keinen, der ihre Wunden mit Öl behandelt. Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden diese Schafe zugrunde gehen, eines nach dem anderen.

Der gute Hirte hat Mitleid mit diesen Schafen. Er erbarmt sich ihrer. Er ruft sie, lockt sie zu sich und gibt ihnen Namen. Er lädt sie ein, zusammen mit seiner Herde zu weiden. Er päppelt sie auf; er kümmert sich ebenso liebevoll um sie wie um seine eigenen. Nach kurzer Zeit kann man keinen Unterschied mehr erkennen zwischen den eigenen Schafen und den neu hinzu­gekommenen. Diese anderen Schafe, das sind die Heiden. Jesus lädt sie alle zu sich ein. Er sagt: „Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.“

Ja, das ist unser guter Hirte Jesus Christus, der beste Hirte, den es gibt. Und wir können uns über ihn freuen und sehr dankbar sein. „Weil ich Jesu Schäflein bin, / freu ich mich ja immerhin / über meinen guten Hirten, / der mich wohl weiß, zu bewirten, / der mich liebet, der mich kennt / und bei meinem Namen nennt.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2009.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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