Hat der Mensch einen freien Willen?

Predigt über Römer 9,15‑16 zum Sonntag Septuagesimä

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Neuerdings disktuieren Wissen­schaftler wieder leiden­schaftlich über eine der inter­essantesten Fragen, die es überhaupt gibt: Hat der Mensch einen freien Willen? Also: Können wir unabhängige Ent­scheidungen treffen und damit unser Leben be­einflussen, vielleicht auch ein Stück weit unsere Umwelt gestalten? Die Natur­wissenschaft­ler, nämlich die Biologen und die Hirn­forscher, sagen heute eher nein: Es sei alles vorher­bestimmt in unseren Genen und Ver­anlagungen; der Impuls zum Handeln sei eher da als die bewusste Ent­scheidung; kein Mensch könne sich frei ent­scheiden. Die Geistes­wissenschaft­ler aus der huma­nistischen Bildungs­tradition setzen ein Ja dagegen: Jeder Mensch habe einen freien Geist und einen freien Willen, sonst könnte er ja überhaupt keine Ver­antwortung tragen. Sie stehen in der Tradition des berühmten Gelehrten Erasmus von Rotterdam, der zu Martin Luthers Zeiten ein Buch geschrieben hat mit dem Titel: „Vom freien Willen.“

Auch wenn die Wissen­schaftler noch so viel über diese Frage diskutieren – beweisen können sie nichts. Nehmen wir mal an, ich gehe im Wald spazieren, und der Weg gabelt sich. Ich kann nun wählen: entweder nehme ich den linken Weg oder den rechten. Ich entscheide mich für den linken. Kein Mensch der Welt könnte jetzt beweisen, ob ich auch den rechten hätte wählen können oder nicht, denn ich habe ihn ja nicht gewählt, sondern den linken. Auch wenn ich nach einer Weile umkehrte, zur Gabelung zurückginge und dann den rechten Weg wählte, könnte ich damit nicht meinen freien Willen beweisen, denn es handelt sich ja um eine ganz neue Ent­scheidungs­situation zu einem späteren Zeitpunkt.

Wir merken: Die Sache mit dem freien Willen ist eigentlich gar keine wissen­schaftliche Frage, sondern eher eine Glaubens­frage. Suchen wir also die Antwort in der Bibel! In unserem Predigttext heißt es: „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“ Dieses Wort aus dem Römerbrief scheint auf den ersten Blick denjenigen Recht zu geben, die sagen: „Es gibt keinen freien Willen.“ Mit seiner eigenen Willens­anstrengung und mit seinem eigenen Tun kann der Mensch nicht ein erwünschtes Ziel erreichen; es hängt ganz davon ab, was Gott ihm zuteilt. Der Reformator Martin Luther scheint diesen Eindruck zu bestätigen, denn er hat gegen das Buch von Erasmus „Vom freien Willen“ eine Gegen­schrift verfasst mit dem Titel „Vom unfreien Willen“. Ist also das Schicksal jedes Menschen vorher­bestimmt; ist der Mensch nur eine Marionette in der Hand des großen Puppen­spielers?

Nein, so einfach können wir es uns nicht machen mit der Antwort. Und wir dürfen nicht ver­allgemei­nern, wo genaues Hinsehen erforder­lich ist. Sehen wir den ent­scheidenen Satz in unserem Predigttext noch einmal genau an: „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“ – „Es“ steht da, „so liegt es nun nicht an jemandes Wollen…“ Was ist „es“? Keineswegs alles, was wir im Leben anstreben und unter­nehmen. Mit „es“ ist hier vielmehr das Lebensglück gemeint, das dauerhafte Glücklich-Sein und Glücklich-Bleiben, die „Selig­keit“, wie es in der Bibel heißt. Wir müssen also sagen: Der Mensch kann zwar viele Dinge frei ent­scheiden, sein Lebensglück aber und seine Seligkeit hat er nicht in der Hand, da richtet alles Wollen und Bemühen nichts aus, das liegt allein bei Gott.

Ein paar Beispiele: Der Mensch kann unter bestimmten Voraus­setzungen eine Berufs­ausbildung frei wählen, die seinen Neigungen entspricht – ob er dann in diesem Beruf aber tatsächlich glücklich wird, das kann er nicht vorher­bestimmen. Der Mensch kann sich ent­scheiden, einen Heirats­antrag anzunehmen – ob er dann aber mit diesem Partner ein Leben lang glücklich sein kann, das kann er nicht erzwingen. Der Mensch kann sich frei für eine private Renten­versicherung entscheiden und darf auch damit rechnen, dass er auf diese Weise im Alter ein paar Euro mehr hat – er kann sich auf diese Weise aber nicht ein sorgen­freies Alter erkaufen, wie es die Werbung glauben machen will; ob ich im Alter Sorgen haben werde oder nicht, das liegt in Gottes Hand. Der Mensch kann zum Gottes­dienst gehen, beten, fromme Lieder singen und Geld spenden – Gottes Segen und die ewige Seligkeit kann er sich auf diese Weise aber nicht verdienen, die hängt allein von Gottes Barmherzig­keit ab. Das bekannte Sprichwort „Jeder ist seines Glückes Schmied“ ist eine große Lüge, denn dauerhaftes Glück und die Seligkeit lassen sich nicht durch Willens­kraft und Eifer zurecht­schmieden. „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.“

Lassen wir uns von der Bibel belehren, wie es um den freien Willen steht! Wir müssen dann vorletzte Dinge von letzten Dingen unter­scheiden lernen, um es mit Begriffen von Dietrich Bonhoeffer zu bezeichnen. Die vorletzten Dinge sind unsere äußeren Lebens­umstände: Da geht es um Schule und Beruf, um Partner­schaft und Politik, um Geld und Besitz. Hier haben wir einen freien Willen, hier können, dürfen und sollen wir unseren Verstand einsetzen, den Gott uns als gute Gabe mit auf den Weg gegeben hat, und ebenso auch unser Bauch­gefühl. Hier geht es um Dinge, die wir überschauen und be­einflussen können – wie gesagt, die vorletzten Dinge. Die letzten Dinge dagegen sind das, was unser eigent­liches und dauerhaftes Lebensglück betrifft: Zufrieden­heit, Liebe, zuversicht­liches Hoffen, Geborgen­heit in Gott, Trost im Leid, Glaube und schließlich die ewige Seligkeit – eben das „Es“ in unserem Predigt­text. Hier ist alles Wollen und Laufen vergeblich, hier können wir uns nur Gottes Barmherzig­keit an­vertrauen. Das ist wirklich so – auch wenn besonders in der heutigen Zeit tausend Stimmen etwas anderes sagen und uns vorgaukeln wollen, wir hätten unser Lebensglück selbst in der Hand. Es gibt sogar fromme Varianten dieser Stimmen: Da wird vom Glauben geredet – aber so, als sei der Glaube eine fromme Leistung, die wir mit unserer Ent­scheidung und Willens­kraft vollbringen müssen, um selig zu werden. Nein, der Glaube, von dem die Bibel redet, ist etwas ganz anderes: Es ist die Haltung, dass wir uns in punkto Lebensglück und Seligkeit ganz auf Gott verlassen, dass wir uns ganz in seine Arme fallen lassen, dass wir ganz ihn machen lassen, denn er allein hat's in der Hand.

Die gute Nachricht des Evangeliums lautet nun: Gott, der es in der Hand hat, verteilt die Seligkeit nicht wie ein launisches Schicksal mal hier und mal da, sondern er verspricht sie uns feierlich durch seinen Sohn Jesus Christus! Er sagt uns sein Erbarmen fest zu! Jeder, der zu Jesus gehört, findet das dauerhafte Lebens­glück; jeder, der zu ihm gehört, wird ewig selig. „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ – aber dieses Erbarmen bestätigt uns Gott immer wieder aufs Neue durch sein Wort.

Bleibt nun am Schluss noch die Frage: Warum müssen wir das eigentlich wissen? Kann man die Frage nach dem freien Willen nicht einfach offen lassen? Auch diese Frage beantwortet die Bibel. Sie zeigt uns, dass es durchaus wichtig ist, über den den freien Willen und seine Grenzen Bescheid zu wissen. Und warum? Ich will es mal mit den beiden fiktiven Gestalten Hans im Glück und Hans im Pech deutlich machen. Da ist ein Hans im Glück, dem alles gelingt, was er sich vornimmt, und der immer Erfolg hat. Wüsste er nicht, dass sein Lebensglück allein von Gott abhinge, dann würde er hochmütig werden und sich einbilden, er hätte sich sein Lebensglück selber verdient. Er würde damit angeben und diejenigen als Schlapp­schwänze verachten, die nicht so erfolgreich sind. Das wäre fatal; mit solchen Angebern will Gott nichts zu tun haben. Und da ist anderer­seits ein Hans im Pech, dem alles schief geht, was er sich vornimmt. Er gibt sich die größte Mühe, aber er kommt auf keinen grünen Zweig. Wüsste er nicht, dass sein Lebenglück allein von Gott abhinge, dann würde er an seinem Versagen ver­zweifeln, er wäre am Ende ein völlig gebrochener Mensch. Auch das wäre fatal, denn dann hätte er ja keine Hoffnung mehr. Wenn wir aber wissen, dass unser Lebensglück und die ewige Seligkeit allein von Gott abhängen und dass er es uns durch Jesus Christus schenkt, dann können wir dankbar und zu­versichtlich leben, egal, ob unser Lebensweg mehr dem Hans im Glück oder dem Hans im Pech ähnelt oder ob er irgendwo dazwischen liegt. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2008.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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