Sehen lernen

Predigt über Johannes 9,1‑7 zum 8. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Gott kann Blinde auf ver­schiedene Weisen sehen lassen, nicht nur durch Wunder. Manche Blinde können durch ärztliche Kunst und medi­zinische Wissen­schaft wieder sehen. Die meisten Blinden können mit ihren Ohren sehen und mit ihren Händen; ihr Gehör und ihr Tastsinn sind wesentlich sensibler als bei Nicht­blinden. Und schließlich haben viele Blinde einen sehenden Partner, der ihnen das Augenlicht zum Teil ersetzt. Da gibt es den blinden Mann, der mit einer sehenden Frau verheiratet ist. Sie unternehmen gern lange Spazier­gänge. Die Frau wird nicht müde ihrem Mann zu be­schreiben, was sie sieht. Der Mann freut sich, die Welt mit den Augen seiner Frau zu sehen, dazu die Umgebung zu hören, zu riechen und zu spüren. Manches erscheint ihm rätselhaft, und dann fragt er seine Frau. Er fragt zum Beispiel: „Was hat da eben rechts im Gras ge­raschelt?“, und die Frau antwortet: „Ein Eich­hörnchen, übrigens ein schwarzes; die sieht man viel seltener als die rot­braunen.“ Und dann wechselt die Frau das Thema: „Pass auf, es kommt jetzt eine Treppe abwärts mit sechs Stufen!“

Die biblische Geschichte, die wir eben gehört haben, handelt eigentlich nicht nur von einem Blinden, sondern von dreizehn Blinden: Außer dem Blind­geborenen begegnen uns darin noch zwölf blinde Jünger – im über­tragenen Sinn. Sie sind so blind, wie wir Menschen von Natur aus eben blind sind. Denn auch wenn unsere Augen scharf sehen können, gibt es viele Dinge, die wir nicht wahrnehmen. Und manches, was wir wahrnehmen, bleibt uns rätselhaft, weil wir nicht alles sehen – so wie für den blinden Ehemann das Rascheln im Gras rätselhaft war. Und manches, was vor uns liegt in der Zukunft, das können wir auch nicht sehen, wir können es bestenfalls erahnen, wenn es uns nicht gar vollkommen überrascht. Unsere Zukunft liegt oft so vor uns wie die Treppe mit den sechs Stufen vor dem blinden Ehemann. Dreizehn Blinde kommen in der Geschichte also vor, und die natürliche Blindheit der zwölf Jünger können wir sehr gut nach­vollziehen, weil die allgemein unserer mensch­lichen Situation entspricht. Die biblische Geschichte besteht aus drei Teilen: erstens die Frage der Jünger, zweitens die Antwort Jesu, drittens die Heilung des Blind­geborenen. Ich möchte mich jetzt besonders auf die ersten beiden Teile konzen­trieren, die von der Blindheit der Jünger handeln und davon, wie Jesus ihnen die Augen öffnet, denn da geht es ja auch um unsere Blindheit. Vom dritten Teil, vom Heilungs­wunder, nehmen wir jetzt nur folgende Erkenntnis mit: Jesus heilt Blindheit, aber die Heilung ist eine längere Prozedur.

Als die Jünger den Blind­geborenen sahen, fragten sie Jesus: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ Diese Frage zeugt von der natürlichen Blindheit der Menschen. Das meine ich jetzt keineswegs abwertend, denn einem Blinden wird man ja seine Blindheit nicht zum Vorwurf machen. Außerdem steckt in dieser Frage auch viel Positives und Vorbild­liches. Es ist ja schon einmal positiv zu bewerten, dass die Jünger den Blinden überhaupt wahrnahmen und sich über seine Behinderung Gedanken machten. Wieviele Menschen sind Behinderten gegenüber gleich­gültig, oder sie weichen ihnen aus, weil sie sich über deren Situation keine Gedanken machen wollen. Ebenfalls positiv zu bewerten ist es, dass die Jünger ihre Fragen nicht für sich behielten, sondern sie stellten. Wer fragt, ist nicht dumm; wer fragt ist klug, weil er etwas dazulernen will. Dumm ist, wer sich seiner Fragen schämt oder wer meint, dass er schon genug weiß. Ebenfalls positiv zu bewerten ist es, dass die Jünger ihre Frage an die richtige Adresse richteten: Sie fragten Jesus und nannten ihn dabei „Meister“. Vom Meister kann der Lehrling mehr lernen als vom Gesellen oder vom Mit-Lehrling, und „Jünger“ bedeutet nichts anders als „Lehrling“. Wir alle sind seit unserer Taufe Jünger Jesu, und darum sollten wir uns nicht scheuen, mit unseren Fragen zum „Meister“ zu gehen, zu unserem Herrn Jesus Christus. Stellen wir ihm unsere Fragen doch im Gebet, und suchen wir seine Antworten durch fleißiges Studieren der Bibel! Da können wir gewiss sein, dass wir an der richtigen Adresse sind, denn die Bibel ist Gottes Wort; sie enthält zu­verlässigere Antworten auf unsere Lebens­fragen als das Fernsehen, die Illustrier­te oder sogar die Wissen­schaft. Schließlich ist es auch positiv zu bewerten, dass die Jünger etwas vom Zusammen­hang von Leid und Schuld begriffen hatten. Sie erkannten vom Wort Gottes her schon etwas, das dem Menschen in seiner natürlichen Blindheit oft verborgen ist: nämlich dass das Leid seine Ursache in der Sünde hat und nicht in einem un­begreiflich launischen Schicksal. Viele Menschen würden heute anders fragen als die Jünger, würden vielleicht sagen: „Warum lässt Gott das zu, dass dieser arme Mensch nicht sehen kann?“ Damit zeigen sie, dass sie noch blinder sind als die Jünger damals, weil sie nicht einmal den Zusammen­hang von Sünde und Leid kennen.

Trotzdem lagen die Jünger mit ihrer Vermutung schief, die Behinderung des Blind­geborenen sei auf eine besondere Schuld des Mannes oder seiner Eltern zurück­zuführen, und da zeigt sich ihre natürliche Blindheit. Das ist das Erste, was Jesus in seiner Antwort korri­gierte. Er sagte: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern.“ Jesus meinte damit nicht, dass diese Leute makellose Heilige wären, die in perfektem Gehorsam Gottes Gesetze befolgten. Sie waren natürlich auch Sünder wie du und ich, aber eben nicht solche Sünder, die durch besonders schwere Schuld ein besonders schweres Leid als Strafe auf sich gezogen hätten. Jesus machte hier wie auch bei anderen Gelegen­heiten deutlich: Schluss jetzt mit dem Aufrechnen von Sünde! So richtig es ist, dass das Leid eine Folge der Sünde ist, so falsch ist es, bestimmte Leiden auf bestimmte Sünden zurück­führen zu wollen. Das ist ein wichtiger Teil der frohen Botschaft vom Reich Gottes, wie es mit Jesus angebrochen ist: Jesus ist nicht gekommen, um Sünden­schuld buch­halterisch zu registrie­ren und durch ent­sprechende Strafen zu vergelten, sondern Jesus ist gekommen, allen Sündern und allen Leidenden der Welt Gottes Barm­herzigkeit zu bringen, ganz unabhängig von den vielfältig vertrackten Beziehungen von Schuld und Leid. Darauf wies Jesus auch mit den folgenden Sätzen seiner Antwort hin. Er sagte nämlich weiter: „Es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“ Da merken wir, wie der Meister mit seiner Antwort über die Frage der Jünger hinausging. Die Jünger hatten nach der Ursache der Behinderung gefragt, nach dem Warum. Jesus ließ diese Frage offen und be­antwortete eine etwas andere Frage, nämlich die Frage nach dem Wozu. Er lehrte seine Jünger auf diese Weise: Es kommt für euch nicht darauf an, alle Ursachen und Zussammen­hänge zu verstehen, das könnt ihr auch gar nicht. Es ist aber gut, voraus­zuschauen und nach dem Zweck zu fragen. Wer „wozu?“ fragt statt „warum?“, der blickt nicht zurück, sondern nach vorn, und darauf kommt es an – so wie es Jesus bei einer anderen Gelegenheit mit einem Bildwort ausgedrückt hat: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes“ (Lukas 9,62). Oder, um es im Bild vom blinden Ehemann und seiner sehenden Frau aus­zudrücken: Es mag ja ganz interessant sein zu wissen, dass das Rascheln rechts im Gras von einem schwarzen Eich­hörnchen verursacht wurde; wichtiger für den weiteren Weg ist allerdings die Infor­mation, dass da eine Treppe mit sechs Stufen vor ihm liegt. Das bedeutet für die Sache mit dem Blind­geborenen: Die Frage der Ursache sollte die Jünger gar nicht so sehr be­schäftigen – man muss nicht alles verstehen wollen. Aber sie sollten sich darauf einstellen, dass sie im bevor­stehenden Heilungs­wunder gleich Gottes Handeln erleben werden – ein Handeln voller Liebe und Barmherzig­keit. Jesus heilt Blindheit, Jesus heilt Leiden – das ist die Botschaft, auf die die Jünger achten sollen, und das zeigt sich am Wunder mit dem Blind­geborenen. Wenn die Jünger diese Lehre annehmen von ihrem Meister, dann lernen sie mit Gottes Augen sehen; dann sehen sie plötzlich Dinge, die dem natürlichen Menschen in seiner Blindheit verborgen bleiben.

Das Wunder vollzog sich nicht in einem Augenblick, sondern wie gesagt allmählich, und zwar in einem merk­würdigen Prozess. Was Jesus damit zeigen wollte, das wird im letzten Abschnitt seiner Antwort an die Jünger deutlich. Zugegeben, ein schwieriger Abschnitt. Jesus sagte: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“ Jesus kam als Gottes Licht in unsere Welt, nahm Menschen­gestalt an und lebte in dieser Gestalt eine Zeit lang auf der Erde. In dieser Zeit predigte er und tat viele Wunder, darunter auch dieses Heilungs­wunder, von dem unsere biblische Geschichte handelt. Diese Jahre seiner Wirksamkeit bezeichnete er als „Tag“; die „Nacht“ seines Leidens und Sterbens war aber bereits nahe. Auch mit diesem Wort öffnete er seinen Jüngern die Augen. Er zeigte ihnen: Es gibt Zeiten, in denen Gottes Heil ganz nahe ist; diese Zeiten sollen wir nutzen und uns helfen lassen. Nun ist es freilich nicht so, dass nach dem Tod Jesu sein Licht auf Erden für immer erloschen wäre. Er ist ja auf­erstanden, und er ist ja bei uns alle Tage bis ans Ende. Und doch gilt auch bei uns: Es gibt Zeiten, in denen die Gnadensonne Jesu hell für uns strahlt, und es gibt Zeiten, wo sie sich hinter dunklen Wolken verbirgt. Lassen wir uns dafür von Jesus die Augen öffnen, nehmen wir diese Lehre unseres Meisters an, und nutzen wir unsere Gnadenzeit. Wir müssen Gottes Werke wirken, solange es Tag ist – das heißt: Wir müssen Jesus, das Licht der Welt, im Glauben ergreifen, wo immer er uns mit seiner Liebe und Barmherzig­keit nahe kommt.

Vor einer Woche war ich mit dem Kranken­abendmahl bei einer Frau in Berlin, die nach einer Operation kaum noch laufen kann. Sie ist sehr traurig, dass sie nicht mehr jeden Sonntag in den Gottes­dienst gehen kann. Liebe Brüder und Schwestern in Christus, nutzt eure Chance, zum Gottes­dienst zu kommen, solange ihr dazu in der Lage seid! Denn hier begegnet euch das Licht der Welt, der Herr Jesus Christus mit all seiner göttlichem Liebe und Barmherzig­keit, und hier schenkt er euch sein Heil! Suchen wir ihn, solange es Tag ist – das wollte ich am liebsten auch unserem ganzen Volk zurufen. In Deutschland werden gegenwärtig große Moscheen gebaut, während gleich­zeitig Kirchen schließen. Das ist nicht die Schuld der Muslime, sondern die Schuld der vielen Christen, die meinen, es nicht mehr nötig zu haben, regelmäßig zu ihrem Meister Jesus Christus zu gehen, geschweige denn, den mus­limischen Mitbürgern Gottes Liebe in Christus zu bezeugen und vorzuleben. Wir gehen wahr­scheinlich Zeiten entgegen, in denen es geistlich dunkel wird in Deutschland und wo es nicht mehr selbst­verständlich sein wird, überall in der Nähe Gottes­dienste feiern zu können. Warum Gott das seiner Kirche zumutet, das verstehen wir nicht und brauchen es jetzt auch nicht zu verstehen. Wozu er uns das aber zumutet und was er uns damit zeigen will, das wird er uns schon zur rechten Zeit erkennen lassen. Er geht ja mit uns, er führt uns wie Blinde, er lehrt uns mit seinen Augen sehen, bis wir dann am Ende, am Ziel, selbst alles klar erkennen können – so wie der Blind­geborene, nachdem er sich im Teich Siloah gewaschen hatte, und so wie die Jünger nach Christi Auf­erstehung. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2007.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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