„Seht, welch ein Mensch!“

Predigt über Johannes 19,5 zum Karfreitag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Am heutigen Karfreitag wollen wir unser Altarbild genau betrachten. Was darunter steht, ist unser Predigt­text: „Sehet, welch ein Mensch!“ Es ist eigentlich ein Spottwort des römischen Statt­halters Pontius Pilatus: „Seht her, was für ein armseliger Mensch, was für eine Jammer­gestalt! Und der soll euer König sein, ihr Juden? Und der soll gefährlich sein? Hilflos ist er, am Boden zerstört, am Ende seiner Kraft! Seht, welch ein Mensch!“

Aber lasst es uns tun, was Pilatus sagte, lasst uns genau hinsehen zu diesem Menschen, zu diesem Jesus von Nazareth! Das Bild zeigt ihn am Morgen des Freitags, an dem er sterben sollte. Er hatte eine qualvolle Nacht hinter sich. Zum Schlafen war er nicht gekommen. Man hatte ihn verhört, man hatte ihn schuldig gesprochen, man hatte ihn beschimpft, man hatte ihn miss­handelt, man hatte seinen Spott mit ihm getrieben. Die Soldaten des Pontius Pilatus hatten gehört, dass einige Juden ihn gern als König sehen würden, und da hatten sie sich einen Spaß gemacht und ihn wie einen König verkleidet: Sie hatten aus Dornen­zweigen eine Krone geflochten und sie ihm auf den Kopf gedrückt. Sie hatten ihm ein Stück rot gefärbten Stoffes umgehängt; das sollte seinen Königs­mantel darstellen. Sie hatten ihm einen Prügelstock in die Hand gedrückt, das sollte sein Zepter sein, der Herrscher­stab, wie ihn damals alle König zum Zeichen ihrer Macht trugen. Sie hatten es lustig gefunden, sich tief vor ihm zu verbeugen und ihn ehrfürchtig zu begrüßen wie einen König. Danach spuckten sie ihn an, gaben ihm Ohrfeigen und ver­prügelten ihn mit seinem „Herrscher­stab“. So geschunden, so gedemütigt an Leib und Seele, führte Pilatus ihm dem Volk vor und rief aus: „Seht, welch ein Mensch!“ Ein un­vorteil­hafteres Bild von einem Menschen kann es kaum geben: Jesus war in dieser Situation ein Spottbild, eine lebende Karikatur. Und unser Altarbild ist ein Gemälde dieser Karikatur.

Ja, seht, welch ein Mensch: Der „Königs­mantel“ ist nur lose über­gehängt, Jesus ist halbnackt – damals ein Zeichen von Armut und Schande. Geschwächt von den Folterungen der letzten Nacht, muss er sich an einem Postament abstützen. Seine Rechte hält kraftlos den Prügelstab; es sieht so aus, als würde sie ihn jeden Augenblick fallen lassen. Warum die rechte Hand so viel schmaler und schwächer ist als die Linke, darauf werde ich noch zurück­kommen. Die Kopfhaut ist von Dornen durch­stochen; ein Bluts­tropfen rinnt Jesus über das Gesicht. Jesu Mund ist halb geöffnet; er ringt nach Luft nach den empfangenen Schlägen. Jesu Blick ist nach oben gewandt, aber es ist kein zuversicht­licher Blick, sondern ein ängstlich fragender: Vater, was wirst du mir noch alles zumuten? Das Schlimmste kommt ja erst noch!

Ja, das Schlimmste kommt erst noch: die Nägel, das Kreuz. Und der Spott derer, die beim Kreuz sind, angefangen vom vornehmen Pharisäer bis hin zu dem Verbrecher, der neben Jesus am Kreuz hängt: „Bist du wirklich Gottes Sohn, dann tu doch ein Wunder und steig vom Kreuz herunter!“ Dazu die ent­setzlichen Schmerzen, dann das Durchleben der Gott­verlassen­heit, schließlich der Tod. Seht, welch ein Mensch! Was für eine Jammer­gestalt! Was für ein tragisches Ende!

Warum tun wir uns das an, liebe Brüder und Schwestern? Warum hat Fräulein von Prittwitz aus Breslau Jesus ausgerechnet als Jammer­gestalt gemalt und dieses Bild unserer Gemeinde zur Einweihung der Kirche geschenkt? Warum befindet sich dieses Bild seitdem jahraus, jahrein am auf­fälligsten Platz in unserer Kirche, am Altar? Warum hat man das ver­ächtliche Spottwort des Pontius Pilatus darunter ge­schrieben: „Seht, welch ein Mensch!“? Warum stellen wir obendrein noch das Kruzifix davor auf, das Jesus in seiner ohn­mächtigsten Stunde zeigt, gefoltert und hin­gerichtet? Warum ist überhaupt dieses Kreuz, dieser Galgen der Antike, das wichtigste Symbol der Christen­heit? Kein Moslem würde auf die Idee kommen, sich ein Bildnis von Mohammed als derartige Karikatur und Jammer­gestalt hin­zustellen, im Gegenteil: Manche Muslime wären darüber sicher so erbost, dass sie dem Maler nach dem Leben trachteten. Und wir stellen uns so etwas freiwillig in unsere Kirche! Warum nur?

Unter der Inschrift „Sehet, welch ein Mensch!“ an unserem Altarbild steht noch ein Satz aus der Bibel. Das Wort lautet: „Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zer­schlagen; die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. „ (Jesaja 53,5) Da finden wir die Antwort auf unsere Fragen. Die Antwort lautet: Jesu Leiden und Tod bringen uns Frieden und Heil! Es hat Gott gefallen, uns gerade auf diese Weise zu erlösen, durch seinen Sohn als Jammer­gestalt, als lebende Karikatur, als hilflose Ge­folterter. Und demjenigen verheißt Gott Rettung und ewiges Leben, der an diesen Jesus glaubt – nicht an einen klugen Lehrer oder an einen erfolg­reichen Befreiungs­kämpfer, sondern an den ge­schundenen Jesus, den sterbenden Jesus am Kreuz. Da trägt er die Strafe für unsere Sünden, da nimmt er die Erz­krankheit der ganzen Welt auf sich. Aus diesem Grund stellen wir uns Jesus als Leidenden vor Augen und beten den Ge­kreuzigten an. Wir erkennen darin Gottes Art und Weise zu helfen und zu heilen. Menschen wollen nämlich ganz anders helfen und stellen sich Hilfe auch immer ganz anders vor, aber Gottes Hilfe geschieht in scheinbarer Hilf­losigkeit, in Schwach­heit, im Kreuz. Jesus hilft uns nicht mit der Macht der Stärke, sondern mit der Macht der Schwach­heit. Jesus rettet uns nicht mit der Macht des Erfolgs, sondern mit der Macht des scheinbaren Scheiterns. Jesus erlöst uns nicht mit der Macht des Geldes, sondern mit der Macht seines Blutes. Jesus bringt Seligkeit nicht durch ein angenehmes Äußeres, sondern als Jammer­gestalt. Jesus besiegt den Teufel nicht unter dem Beifall der Menschen, sondern unter Verspottung und Be­schimpfung. Ja, dieses Heilswerk trägt Gottes Hand­schrift; kein Mensch hätte sich das so ausgedacht! Und unser Glaube erkennt: Gerade so hat Gott gesiegt, in der scheinbaren Niederlage. „Er schafft Heil mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm“, heißt es im Psalm (Ps. 98,1). Seht euch noch einmal diesen Menschen an auf unserem Altarbild, seht euch besonders seine Rechte an: dünn, kraftlos – das ist Gottes heiliger Arm; das ist ist seine Rechte, die Heil schafft! Dies ist das Geheimnis des Kreuzes, das nur der versteht, der im Glauben mit Jesus verbunden ist.

Darum, auch wenn unser Altarbild den ver­spotteten Gottessohn zeigt, halten wir es dennoch in Ehren, auch die Schrift­worte darunter und das Kruzifix davor. Wir sollten uns dabei freilich davor hüten, dass wir selbst Jesus verspotten. Wie denn verspotten? Nun, wer von Jesus die Sünden vergeben haben will, um dann mit dem Sündigen weiter­zumachen, der verspottet ihn. Wer sich Jesu Barm­herzigkeit gefallen lässt und dann mit seinen Mitmenschen un­barmherzig ist, der verspottet ihn. Wer Jesus seinen Herrn nennt, aber alle Ent­scheidungen in seinem Leben selbst trifft, ohne ihn im Gebet nach seinem Willen zu fragen, der verspottet ihn. Wer Jesus die Wahrheit nennt, aber sein Wort in der Bibel für un­zuverlässig oder veraltet hält, der verspottet ihn. Wer Jesus den Weg zum Vater nennt, und zugleich behauptet, jeder könne nach seiner Fasson selig werden, der verspottet ihn. Wer Jesus seinen Meister nennt, aber keine Lust hat, von ihm noch etwas zu lernen, der verspottet ihn. Wer Jesus den Auf­erstandenen nennt, aber nicht wirklich damit rechnet, dass er heute lebt und bei ihm ist, der verspottet ihn.

Liebe Brüder und Schwestern, wir müssen er­schrecken, denn wir merken, wie schnell auch wir Jesus mit unserem Verhalten verspotten. Und dieser Spott tut nicht nur ihm weh, sondern wir tun uns damit letztlich selbst weh, denn wir sperren uns damit selbst vom Himmelreich aus, das Jesus uns doch mit so viel Mühe und Schmerzen aufgetan hat. Darum lasst uns umkehren! Diese Predigt will dich verändern, so wie Gott dich mit jeder Predigt verändern will und mit jedem seiner Worte. Du sollst nicht der alte Sünder bleiben, der mit seinem Verhalten Jesus verspottet, sondern du sollst leben lernen wie einer, der den Mann am Kreuz ehrt. Die Kraft dazu, die kann freilich nur von dem Mann am Kreuz selbst kommen, die musst du dir von ihm erbitten. „Seht, welch ein Mensch!“ – „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2007.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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