Gesetz und Liebe – passen sie zusammen?

Predigt über Römer 13,10 zum 18. Sonntag nach Triniatis

Liebe Gemeinde!

Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der berühmte Soldaten­könig, war sehr streng mit seinen Untertanen. Öfters kam es vor, dass er auf seinen Spazier­gängen jemanden mit seinem Handstock verprügelte – vor allem, wenn der Untertan ihm nicht den nötigen Respekt erwies. Dabei schrie er dann mit wut­verzerrtem Gesicht: „Lieben sollt ihr mich!“ Es war dem frommen König wichtig, von seinem Volk geliebt zu werden. Wahr­scheinlich hätte er am liebsten ein Gesetz gemacht, das verordnet: „Jeder Bürger muss seinen König lieben.“ Aber zu diesem Gesetz ist es nicht gekommen, denn Liebe lässt sich nicht gesetzlich befehlen. Das spürt jeder: Liebe und Gesetz, das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Liebe hängt ja mit Freiheit zusammen, das Gesetz aber lebt vom Zwang. Trotzdem gibt es Ver­bindendes von Gesetz und Liebe, sonst würde ich nicht beides zum Thema einer einzigen Predigt machen. Befassen wir uns also mit der Frage: Passen Gesetz und Liebe zusammen? Und wenn ja, dann wie? In welcher Beziehung stehen sie zueinander? Und was ist das eigentlich genau – die Liebe, das Gesetz?

Wenn heutzutage von Liebe die Rede ist, denken viele Menschen zuerst an Sex. Das ist schade, denn Liebe ist viel mehr. Wenn ich meiner Frau sage: „Ich habe dich lieb“, dann meine ich damit nicht nur ihre äußerliche Attrak­tivität, sondern ich meine die ganze Person mit Leib und Seele und ihrem ganzen Leben. Aber das Wort Liebe lässt sich auch nicht auf die Beziehung von Mann und Frau be­schränken. Eltern lieben ihre Kinder, Kinder lieben meistens auch ihre Eltern, es gibt Bruder­liebe, Nächsten­liebe, Freundes­liebe, Feindes­liebe, und ich kann sogar sagen: „Ich liebe Schoko­lade.“ Mutter Theresa liebte die Straßen­kinder von Kalkutta und opferte sich für sie auf. Wie vielfältig kann doch Liebe sein, und auch wie ver­schieden! Wenn ich sage: „Ich liebe Schoko­lade“, dann bedeutet das doch: Ich begehre sie, ich will sie haben. Wenn ich sage: „Mutter Theresa liebte die indischen Straßen­kinder“, dann bedeutet das: Sie hatte das starke Bedürfnis, ihnen zu helfen; sie wollte ihnen etwas geben. Und da sind wir auch schon beim Haupt­unterschied zwischen der Liebe, wie sie allgemein verstanden wird, und der Liebe, wie sie die Bibel versteht. Die Liebe im land­läufigen Sinne will haben, die Liebe im biblischen Sinne will geben. In einer christ­lichen Ehe spielt beides eine Rolle: Mann und Frau wollen einander haben, aber sie wollen zugleich auch füreinander da sein; Beides ist wichtig: das Glücklich-Werden und das Glücklich-Machen. Dabei ist das Zweite die größere und schönere Liebe. Wenn jeder Partner sich vornimmt: „Ich will alles tun, damit der andere glücklich wird“, dann steht es gut um die Ehe. Und wir erkennen daran zugleich: Liebe ist mehr als ein Gefühl; Liebe ist etwas sehr Aktives, was den ganzen Menschen betrifft.

Und was ist ein Gesetz? Ich will es mal mit einem Beispiel erklären. Wenn ein Vater seinem Kind sagt: „Lass deine Schuhe nicht im Flur herum­liegen, stell sie ins Schuh­regal“, dann ist das noch kein Gesetz, sondern eine Anweisung. Wenn er aber zwanzigmal über herum­liegende Schuhe gestolpert ist, dann könnte es sein, dass er ein ent­sprechendes Familien­gesetz erlässt: „Grund­sätzlich gilt für jeden in der Familie: Wer seine Schuhe auszieht, soll sie immer gleich ins Schuhregal stellen.“ Anders als eine Anweisung gilt das Gesetz nicht nur für eine einzelne Situation, sondern es ist allgemein gültig für längere Zeit und für mehrere Personen. Der deutsche Staat hat massenweise Gesetze, die auch kleinste Kleinig­keiten mit ver­allgemeiner­ten Anordnungen regeln wollen. Zum Beispiel gibt es Vor­schriften für den Krümmungs­radius von Bananen, die für den Handel erfüllt werden müssen. Auch Gott hat Gesetze gegeben, die stehen in der Bibel. Am be­kanntesten sind die Zehn Gebote. Aber darüber hinaus gibt hunderte weitere Gottes-Gesetze im Alten Testament. Zum Beispiel gibt es das Gesetz, dass ein Priester, der für jemanden ein Brandopfer darbringt, das Fell des Tieres für sich behalten darf (3. Mose 7,8). Und es gibt auch ein Gesetz, dass Dach­terassen mit einem Geländer gesichert werden müssen (5. Mose 22,8). Mit solchen Gesetzen hat Gott der Herr das Zusammen­leben und den Gottes­dienst im alten Staat Israel geregelt. Diese Gesetze galten damals für Israel; für uns heute gelten die meisten von ihnen nicht mehr. Die Zehn Gebote aber gelten für alle Menschen. Sie sind vom Neuen Testament aus­drücklich bestätigt worden; auch von den Sätzen, die unserem Predigtwort unmittelbar voraus­gehen. Die Zehn Gebote regeln keine Einzel­heiten, sondern sie geben die große Richtung an, wie Gott möchte, dass Menschen mit ihm und unter­einander umgehen sollen. Nicht töten, nicht ehebrechen, den Feiertag heiligen und keinen Götzen­dienst tun, das sind gesetzliche Grund­pfeiler von Gottes Willen für die Menschheit.

Die Zehn Gebote lassen sich aber ihrerseits auch noch kürzer ausdrücken. Der Apostel Paulus schrieb, dass die Gebote in dem einen Satz zusammen­gefasst sind: „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“ (Römer 13,10). Und, gefragt nach dem wichtigsten Gebot, hat Jesus mit dem Doppelgebot der Liebe ge­antwortet: Du sollst Gott von ganzem Herzen lieben, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu“, so spricht der Volksmund von Nächsten­liebe. Der Philosoph Immanuel Kant hat es kom­plizierter aus­gedrückt, mit seinem berühmten kategorisch Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetz­gebung gelten könne.“ Dabei dürfen wir aber nicht übersehen, dass das Gesetz der Nächsten­liebe untrennbar mit dem Gesetz der Gottesliebe verbunden ist: Gott sollen wir über alles lieben, sogar mehr als unser eigenes Leben. Gott muss die Nummer eins für uns sein. Wer so lebt, wer Gott und auch seine Mitmenschen liebt, der erfüllt den ganzen göttlichen Willen, das ganze göttliche Gesetz. „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“, alle göttlichen Gebote lassen sich mit dem einen Wörtchen Liebe zusammen­fassen. Und da sind wir nun er­staunlicher­weise vom Gesetz wieder bei der Liebe gelandet, obwohl beides doch scheinbar so wenig miteinander zu tun hat. Und wir merken: Bei Gott liegt beides eng bei­einander, bei Gott passt es zusammen.

Wenn aber nun die Liebe das Gesetz erfüllt, könnte man das Gesetz dann nicht gleich abschaffen? Könnte man dann nicht einfach sagen, die Liebe ersetzt das Gesetz? Könnten nicht alle Menschen ihr Verhalten einfach nur nach ihrem Herzen, nach ihrem Gefühl richten? Nein, das geht nicht; wir brauchen beides, die Liebe und das Gesetz; und zwar aus drei Gründen.

Erstens: Das Gesetz springt ein, wo die Liebe fehlt. Dass sie bei vielen fehlt, ist offen­sichtlich. Sie fehlt zum Beispiel dem Dieb, der der alten Dame die Handtasche wegreißt. Würde es genügen, ihm zu sagen: „Nun sei mal lieb zu der alten Frau und gibt ihr die Tasche wieder“? Nein, sondern ein Gesetz muss her, das solchen Diebstahl verfolgt und bestraft, sonst würde bald das totale Chaos herrschen. Gottes Gebote bilden die Grundlage für solche guten Gesetze, die ein einiger­maßen geordnetes Zusammen­leben er­möglichen. In unserem Beispiel ist es das 7. Gebot: „Du sollst nicht stehlen.“

Zweitens: Das Gesetz zeigt mir persönlich, wo es mir an Liebe fehlt. Wir können uns nämlich ziemlich leicht selbst etwas vormachen. Wir finden immer über­zeugende Gründe, warum wir uns gerade so und nicht anders verhalten und warum wir dabei natürlich auch nur das Wohl des Nächsten im Auge haben. So geht es zum Beispiel dem Ehemann, der sich in eine andere Frau verliebt hat. Nun bildet er sich ein, er mag seine eigene Frau nicht mehr. Er sagt sich: „Das kann ich meiner Frau doch nicht antun, dass sie mit einem Mann zusammen­lebt, der sie nicht mehr liebt. Und das kann ich meiner Freundin doch ebenfalls nicht antun, dass sie auf den Mann verzichten muss, den sie heiß und innig liebt. Es ist doch bestimmt für alle das Beste, wenn ich mich scheiden lasse.“ So betrügt dieser Mann sich selbst und bildet sich ein, er müsse sich um der Liebe willen von seiner Frau trennen. Da kommt nun Gottes Gesetz zum Zuge und zeigt diesem Mann mit klaren Worten, wie wahre Liebe handelt, die Liebe nämlich, die Gott den Herrn an die erste Stelle setzt und überzeugt ist, dass seine Lebens­ordnung das Beste für alle ist. Es kommmt in Gestalt des 6. Gebots: „Du sollst nicht ehe­brechen.“

Zugegeben, ein extremes Beispiel. Aber wenn wir uns Gottes Gebote sorgfältig vor Augen halten und uns selbst­kritisch daran messen, dann werden wir merken, dass uns das Gesetz praktisch täglich der Lieb­losigkeit überführt. „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, heißt es da im 8. Gebot. Ach, wie oft nehmen wir es mit der Wahrheit nicht so genau, verdrehen die Tatsachen, und tun das meistens zu Lasten unserer Mit­menschen, also „wider unseres Nächsten“. Auch fallen uns stets gute Gründe ein, dies zu recht­fertigen. Oder wie steht es mit dem 1. Gebot: „Du sollst keine anderen Götter haben“? Ach, wie viele Dinge und Menschen im Leben nehmen wir wichtiger als den Herrn, den Schöpfer, und vergöttern sie damit! Gottes Gesetz zeigt uns, wie schlecht wir lieben, wie wenig es uns gelingt, das eine und eigentlich einzige Gebot der Liebe zu erfüllen. Dadurch werden wir auf­gerüttelt und auf­gefordert, Hilfe zu suchen. Denn Hilfe brauchen wir mit unserem Problem, das die Bibel „Sünde“ nennt, Hilfe von außen, weil guter Wille nicht ausreicht. Wenn du nicht genau weißt, wo du diese Hilfe finden kannst, dann lass es dir gesagt sein: Du findest sie nur bei Jesus Christus. Du findest sie nur, wenn du zu ihm gehörst. Dazu ist Jesus Christus überhaupt nur in die Welt gekommen: damit er unser Sünden­problem löst. Nur durch Jesus kann ein Menschen zu einem friedlichen und liebevollen Verhältnis zu Gott finden und ebenso zu einem friedlichen und liebevollen Verhältnis zum Mit­menschen. Denn in Jesus ist Gottes Liebe zu uns gekommen. Die christliche Haupt­botschaft ist nicht Gottes Gesetz: „Du sollst lieben“ – das schafft nämlich keiner von allein. Die christliche Haupt­botschaft lautet vielmehr: „Gott hat dich lieb, und diese Liebe ist mit Jesus in die Welt gekommen.“ Das Gesetz zeigt mir, wo es mir an Liebe fehlt, und die frohe Botschaft von Jesus Christus füllt mich mit Gottes Liebe, und dann erst kann ich richtig selbst lieben. Wir erinnern uns: Nach Gottes Verständnis ist Liebe nicht haben wollen, sondern geben wollen. So hat Gott seinen einzigen Sohn für uns gegeben.

Das war unser zweiter Berührungs­punkt von Gesetz und Liebe: Das Gesetz zeigt mir, wo mir Liebe fehlt, und auf diese Weise führt micht das Gesetz hin zu Gottes Liebe in Christus, mit der er mich selbst geliebt hat. Der dritte Berührungs­punkt schliesst daran an: Das Gesetz ist ein Geländer für den, der den Weg der Liebe gehen will. Wenn ich Gottes Liebe im Glauben angenommen habe, dann bin ich ja begierig, richtig lieben zu lernen. Das Gesetz gibt mir dazu Anleitung und Orien­tierung. Das geht nun freilich nicht so, dass ich die Bibel wie ein Nachschlage­werk für liebevolles Verhalten benutzen kann; ich werde nicht für alle Lebens­situationen klare Anweisungen finden. Gott hat uns einen Verstand gegeben und mutet uns zu, dass wir selbst heraus­finden, was in einer Situation zu tun ist und was nicht. Aber die Gebote stehen gewisser­maßen als Begrenzungs­pfähle an den Rändern unseres Lebens­weges. Wir können an ihnen erkennen, wo es lang geht. Nichts und niemanden vergöttern, Leben und Eigentum des Nächsten achten, wahrhaftig sein – das sind einige der Haupt­richtlinien für liebevolles Leben.

Freilich kann man auch dann noch immer wieder ins Stolpern kommen und merken: Es ist bei mir nicht so, wie es sein soll. Trotzdem brauchen wir nicht zu ver­zweifeln. Gottes Liebe fängt uns auf und trägt uns weiter; Jesus heilt und hilft. Denn Gottes Liebe in Jesus hat dem Gesetz seine tödliche Spitze ab­gebrochen, nämlich das Straf­urteil, dass der Sünder von Gottes Licht für immer aus­geschlossen bleiben muss. Ja, auch so passen Gesetz und Liebe zusammen, so vor allem: Gottes Liebe hat sein eigenes Gesetz überwunden. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2005.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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