Liebe Gemeinde!
Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der berühmte Soldatenkönig, war sehr streng mit seinen Untertanen. Öfters kam es vor, dass er auf seinen Spaziergängen jemanden mit seinem Handstock verprügelte – vor allem, wenn der Untertan ihm nicht den nötigen Respekt erwies. Dabei schrie er dann mit wutverzerrtem Gesicht: „Lieben sollt ihr mich!“ Es war dem frommen König wichtig, von seinem Volk geliebt zu werden. Wahrscheinlich hätte er am liebsten ein Gesetz gemacht, das verordnet: „Jeder Bürger muss seinen König lieben.“ Aber zu diesem Gesetz ist es nicht gekommen, denn Liebe lässt sich nicht gesetzlich befehlen. Das spürt jeder: Liebe und Gesetz, das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Liebe hängt ja mit Freiheit zusammen, das Gesetz aber lebt vom Zwang. Trotzdem gibt es Verbindendes von Gesetz und Liebe, sonst würde ich nicht beides zum Thema einer einzigen Predigt machen. Befassen wir uns also mit der Frage: Passen Gesetz und Liebe zusammen? Und wenn ja, dann wie? In welcher Beziehung stehen sie zueinander? Und was ist das eigentlich genau – die Liebe, das Gesetz?
Wenn heutzutage von Liebe die Rede ist, denken viele Menschen zuerst an Sex. Das ist schade, denn Liebe ist viel mehr. Wenn ich meiner Frau sage: „Ich habe dich lieb“, dann meine ich damit nicht nur ihre äußerliche Attraktivität, sondern ich meine die ganze Person mit Leib und Seele und ihrem ganzen Leben. Aber das Wort Liebe lässt sich auch nicht auf die Beziehung von Mann und Frau beschränken. Eltern lieben ihre Kinder, Kinder lieben meistens auch ihre Eltern, es gibt Bruderliebe, Nächstenliebe, Freundesliebe, Feindesliebe, und ich kann sogar sagen: „Ich liebe Schokolade.“ Mutter Theresa liebte die Straßenkinder von Kalkutta und opferte sich für sie auf. Wie vielfältig kann doch Liebe sein, und auch wie verschieden! Wenn ich sage: „Ich liebe Schokolade“, dann bedeutet das doch: Ich begehre sie, ich will sie haben. Wenn ich sage: „Mutter Theresa liebte die indischen Straßenkinder“, dann bedeutet das: Sie hatte das starke Bedürfnis, ihnen zu helfen; sie wollte ihnen etwas geben. Und da sind wir auch schon beim Hauptunterschied zwischen der Liebe, wie sie allgemein verstanden wird, und der Liebe, wie sie die Bibel versteht. Die Liebe im landläufigen Sinne will haben, die Liebe im biblischen Sinne will geben. In einer christlichen Ehe spielt beides eine Rolle: Mann und Frau wollen einander haben, aber sie wollen zugleich auch füreinander da sein; Beides ist wichtig: das Glücklich-Werden und das Glücklich-Machen. Dabei ist das Zweite die größere und schönere Liebe. Wenn jeder Partner sich vornimmt: „Ich will alles tun, damit der andere glücklich wird“, dann steht es gut um die Ehe. Und wir erkennen daran zugleich: Liebe ist mehr als ein Gefühl; Liebe ist etwas sehr Aktives, was den ganzen Menschen betrifft.
Und was ist ein Gesetz? Ich will es mal mit einem Beispiel erklären. Wenn ein Vater seinem Kind sagt: „Lass deine Schuhe nicht im Flur herumliegen, stell sie ins Schuhregal“, dann ist das noch kein Gesetz, sondern eine Anweisung. Wenn er aber zwanzigmal über herumliegende Schuhe gestolpert ist, dann könnte es sein, dass er ein entsprechendes Familiengesetz erlässt: „Grundsätzlich gilt für jeden in der Familie: Wer seine Schuhe auszieht, soll sie immer gleich ins Schuhregal stellen.“ Anders als eine Anweisung gilt das Gesetz nicht nur für eine einzelne Situation, sondern es ist allgemein gültig für längere Zeit und für mehrere Personen. Der deutsche Staat hat massenweise Gesetze, die auch kleinste Kleinigkeiten mit verallgemeinerten Anordnungen regeln wollen. Zum Beispiel gibt es Vorschriften für den Krümmungsradius von Bananen, die für den Handel erfüllt werden müssen. Auch Gott hat Gesetze gegeben, die stehen in der Bibel. Am bekanntesten sind die Zehn Gebote. Aber darüber hinaus gibt hunderte weitere Gottes-Gesetze im Alten Testament. Zum Beispiel gibt es das Gesetz, dass ein Priester, der für jemanden ein Brandopfer darbringt, das Fell des Tieres für sich behalten darf (3. Mose 7,8). Und es gibt auch ein Gesetz, dass Dachterassen mit einem Geländer gesichert werden müssen (5. Mose 22,8). Mit solchen Gesetzen hat Gott der Herr das Zusammenleben und den Gottesdienst im alten Staat Israel geregelt. Diese Gesetze galten damals für Israel; für uns heute gelten die meisten von ihnen nicht mehr. Die Zehn Gebote aber gelten für alle Menschen. Sie sind vom Neuen Testament ausdrücklich bestätigt worden; auch von den Sätzen, die unserem Predigtwort unmittelbar vorausgehen. Die Zehn Gebote regeln keine Einzelheiten, sondern sie geben die große Richtung an, wie Gott möchte, dass Menschen mit ihm und untereinander umgehen sollen. Nicht töten, nicht ehebrechen, den Feiertag heiligen und keinen Götzendienst tun, das sind gesetzliche Grundpfeiler von Gottes Willen für die Menschheit.
Die Zehn Gebote lassen sich aber ihrerseits auch noch kürzer ausdrücken. Der Apostel Paulus schrieb, dass die Gebote in dem einen Satz zusammengefasst sind: „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“ (Römer 13,10). Und, gefragt nach dem wichtigsten Gebot, hat Jesus mit dem Doppelgebot der Liebe geantwortet: Du sollst Gott von ganzem Herzen lieben, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg' auch keinem andern zu“, so spricht der Volksmund von Nächstenliebe. Der Philosoph Immanuel Kant hat es komplizierter ausgedrückt, mit seinem berühmten kategorisch Imperativ: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Dabei dürfen wir aber nicht übersehen, dass das Gesetz der Nächstenliebe untrennbar mit dem Gesetz der Gottesliebe verbunden ist: Gott sollen wir über alles lieben, sogar mehr als unser eigenes Leben. Gott muss die Nummer eins für uns sein. Wer so lebt, wer Gott und auch seine Mitmenschen liebt, der erfüllt den ganzen göttlichen Willen, das ganze göttliche Gesetz. „Die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung“, alle göttlichen Gebote lassen sich mit dem einen Wörtchen Liebe zusammenfassen. Und da sind wir nun erstaunlicherweise vom Gesetz wieder bei der Liebe gelandet, obwohl beides doch scheinbar so wenig miteinander zu tun hat. Und wir merken: Bei Gott liegt beides eng beieinander, bei Gott passt es zusammen.
Wenn aber nun die Liebe das Gesetz erfüllt, könnte man das Gesetz dann nicht gleich abschaffen? Könnte man dann nicht einfach sagen, die Liebe ersetzt das Gesetz? Könnten nicht alle Menschen ihr Verhalten einfach nur nach ihrem Herzen, nach ihrem Gefühl richten? Nein, das geht nicht; wir brauchen beides, die Liebe und das Gesetz; und zwar aus drei Gründen.
Erstens: Das Gesetz springt ein, wo die Liebe fehlt. Dass sie bei vielen fehlt, ist offensichtlich. Sie fehlt zum Beispiel dem Dieb, der der alten Dame die Handtasche wegreißt. Würde es genügen, ihm zu sagen: „Nun sei mal lieb zu der alten Frau und gibt ihr die Tasche wieder“? Nein, sondern ein Gesetz muss her, das solchen Diebstahl verfolgt und bestraft, sonst würde bald das totale Chaos herrschen. Gottes Gebote bilden die Grundlage für solche guten Gesetze, die ein einigermaßen geordnetes Zusammenleben ermöglichen. In unserem Beispiel ist es das 7. Gebot: „Du sollst nicht stehlen.“
Zweitens: Das Gesetz zeigt mir persönlich, wo es mir an Liebe fehlt. Wir können uns nämlich ziemlich leicht selbst etwas vormachen. Wir finden immer überzeugende Gründe, warum wir uns gerade so und nicht anders verhalten und warum wir dabei natürlich auch nur das Wohl des Nächsten im Auge haben. So geht es zum Beispiel dem Ehemann, der sich in eine andere Frau verliebt hat. Nun bildet er sich ein, er mag seine eigene Frau nicht mehr. Er sagt sich: „Das kann ich meiner Frau doch nicht antun, dass sie mit einem Mann zusammenlebt, der sie nicht mehr liebt. Und das kann ich meiner Freundin doch ebenfalls nicht antun, dass sie auf den Mann verzichten muss, den sie heiß und innig liebt. Es ist doch bestimmt für alle das Beste, wenn ich mich scheiden lasse.“ So betrügt dieser Mann sich selbst und bildet sich ein, er müsse sich um der Liebe willen von seiner Frau trennen. Da kommt nun Gottes Gesetz zum Zuge und zeigt diesem Mann mit klaren Worten, wie wahre Liebe handelt, die Liebe nämlich, die Gott den Herrn an die erste Stelle setzt und überzeugt ist, dass seine Lebensordnung das Beste für alle ist. Es kommmt in Gestalt des 6. Gebots: „Du sollst nicht ehebrechen.“
Zugegeben, ein extremes Beispiel. Aber wenn wir uns Gottes Gebote sorgfältig vor Augen halten und uns selbstkritisch daran messen, dann werden wir merken, dass uns das Gesetz praktisch täglich der Lieblosigkeit überführt. „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, heißt es da im 8. Gebot. Ach, wie oft nehmen wir es mit der Wahrheit nicht so genau, verdrehen die Tatsachen, und tun das meistens zu Lasten unserer Mitmenschen, also „wider unseres Nächsten“. Auch fallen uns stets gute Gründe ein, dies zu rechtfertigen. Oder wie steht es mit dem 1. Gebot: „Du sollst keine anderen Götter haben“? Ach, wie viele Dinge und Menschen im Leben nehmen wir wichtiger als den Herrn, den Schöpfer, und vergöttern sie damit! Gottes Gesetz zeigt uns, wie schlecht wir lieben, wie wenig es uns gelingt, das eine und eigentlich einzige Gebot der Liebe zu erfüllen. Dadurch werden wir aufgerüttelt und aufgefordert, Hilfe zu suchen. Denn Hilfe brauchen wir mit unserem Problem, das die Bibel „Sünde“ nennt, Hilfe von außen, weil guter Wille nicht ausreicht. Wenn du nicht genau weißt, wo du diese Hilfe finden kannst, dann lass es dir gesagt sein: Du findest sie nur bei Jesus Christus. Du findest sie nur, wenn du zu ihm gehörst. Dazu ist Jesus Christus überhaupt nur in die Welt gekommen: damit er unser Sündenproblem löst. Nur durch Jesus kann ein Menschen zu einem friedlichen und liebevollen Verhältnis zu Gott finden und ebenso zu einem friedlichen und liebevollen Verhältnis zum Mitmenschen. Denn in Jesus ist Gottes Liebe zu uns gekommen. Die christliche Hauptbotschaft ist nicht Gottes Gesetz: „Du sollst lieben“ – das schafft nämlich keiner von allein. Die christliche Hauptbotschaft lautet vielmehr: „Gott hat dich lieb, und diese Liebe ist mit Jesus in die Welt gekommen.“ Das Gesetz zeigt mir, wo es mir an Liebe fehlt, und die frohe Botschaft von Jesus Christus füllt mich mit Gottes Liebe, und dann erst kann ich richtig selbst lieben. Wir erinnern uns: Nach Gottes Verständnis ist Liebe nicht haben wollen, sondern geben wollen. So hat Gott seinen einzigen Sohn für uns gegeben.
Das war unser zweiter Berührungspunkt von Gesetz und Liebe: Das Gesetz zeigt mir, wo mir Liebe fehlt, und auf diese Weise führt micht das Gesetz hin zu Gottes Liebe in Christus, mit der er mich selbst geliebt hat. Der dritte Berührungspunkt schliesst daran an: Das Gesetz ist ein Geländer für den, der den Weg der Liebe gehen will. Wenn ich Gottes Liebe im Glauben angenommen habe, dann bin ich ja begierig, richtig lieben zu lernen. Das Gesetz gibt mir dazu Anleitung und Orientierung. Das geht nun freilich nicht so, dass ich die Bibel wie ein Nachschlagewerk für liebevolles Verhalten benutzen kann; ich werde nicht für alle Lebenssituationen klare Anweisungen finden. Gott hat uns einen Verstand gegeben und mutet uns zu, dass wir selbst herausfinden, was in einer Situation zu tun ist und was nicht. Aber die Gebote stehen gewissermaßen als Begrenzungspfähle an den Rändern unseres Lebensweges. Wir können an ihnen erkennen, wo es lang geht. Nichts und niemanden vergöttern, Leben und Eigentum des Nächsten achten, wahrhaftig sein – das sind einige der Hauptrichtlinien für liebevolles Leben.
Freilich kann man auch dann noch immer wieder ins Stolpern kommen und merken: Es ist bei mir nicht so, wie es sein soll. Trotzdem brauchen wir nicht zu verzweifeln. Gottes Liebe fängt uns auf und trägt uns weiter; Jesus heilt und hilft. Denn Gottes Liebe in Jesus hat dem Gesetz seine tödliche Spitze abgebrochen, nämlich das Strafurteil, dass der Sünder von Gottes Licht für immer ausgeschlossen bleiben muss. Ja, auch so passen Gesetz und Liebe zusammen, so vor allem: Gottes Liebe hat sein eigenes Gesetz überwunden. Amen.
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