„Ich will mich meiner Herde selbst annehmen“

Predigt über Hesekiel 34,1‑16 zum Sonntag Miserikordias Domini

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn wir von Hirten hören, dann fällt den meisten Menschen Heide­romantik ein: Ein mild lächelnder Mann mit weißem Bart steht auf seinen Stab gestützt inmitten von Erika und Wacholder­büschen. Zu seinen Füßen drängt sich die Schafherde zusammen. Hirten, so denken viele, sind beneidens­wert stressfreie Zeit­genossen, die natur­verbunden und ohne Termin­kalender in den Tag hinein leben.

Als der Prophet Hesekiel in seiner Predigt von Hirten sprach, da fiel seinen jüdischen Zeit­genossen etwas ganz anderes ein, und es fiel ihnen viel mehr ein. Das Volk Israel war ja schon von Anfang an ein Volk der Hirten gewesen; Hirte war der älteste und am weitesten verbreitete Beruf unter den Israeliten. Schon die zwölf Söhne Jakobs waren Hirten gewesen und hatten ihre Herden nach Ägypten mit­gebracht. Der berühmteste König Israels, der König David, hatte seine Karriere als Hirtenjunge begonnen.

So wussten alle Israeliten, was ein Hirte ist und was er zu tun hat. Er sollte die Tiere weiden: Er sollte das Schwache stärken, das Kranke heilen, das Verlorene suchen, das Starke beschützen und die Herde zusammen­halten. Wenn sich die starken Tiere an der Tränke vor­drängelten, musste er den Schwachen Platz machen. Wenn sich ein Tier verletzt hatte, musste er die Wunde mit Öl behandeln. Wenn ein Schaf abhanden gekommen war, musste er es suchen. Wenn die Herde von wilden Tieren bedroht wurde, musste er sie ver­teidigen. Wenn er mit seinen Schafen im Gebirge unterwegs war und zu neuen Weide­plätzen zog, musste er die Tiere auf den schmalen Pfaden zusammen­halten, musste sie vor Steilhängen und gefähr­lichen Felsspalten schützen.

Zugleich aber fiel den Juden damals beim Stichwort „Hirte“ auch eine übertragene Bedeutung ein: Die Anführer des Volkes, die Mächtigen, die Politiker, die Beamten, die Autori­täten, das waren in gewisser Weise ebenfalls Hirten. Der König David war also eigentlich ein Hirte geblieben, nur dass er die Herde seines Vaters gegen Gottes Herde ein­getauscht hatte, nämlich das Volk Israel. Und so verstanden sich alle Könige Israels als Hirten, dazu auch die Richter, Amtleute, Priester und Propheten – kurz: alle, die etwas zu sagen hatten und die kraft ihres Amtes das Volk leiten sollten. Auch sie sollten das Schwache stärken, das Kranke heilen, das Verlorene suchen, das Starke behüten und die Herde zusammen­halten. Sie hatten darauf zu achten, dass Arme und Bedürftige nicht be­nachteiligt werden. Sie sollten die Menschen dazu anleiten, sich um die Kranken und Leidenden zu kümmern. Sie sollten Leib, Gut und Ehre aller schützen, ohne Ansehen der Person. Und sie sollten das Volk vor äußeren und inneren Gefahren bewahren.

König David hatte alle diese Aufgaben meisterlich erfüllt. Auch sein Sohn Salomo schnitt nicht schlecht ab auf dem Königs­thron. Die Könige jedoch, die danach kamen, waren überwiegend schlechte Hirten gewesen, und die anderen Führungs­personen waren nicht besser. So ist es kein Wunder, dass Gott nach mehreren hundert Jahren Geduld den Propheten Hesekiel dieses Wort sagen lässt: „Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! … Das Schwache stärkt ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben.“

Die „Politik­verdrossen­heit“, die aus Hesekiels Worten spricht, war nur allzu berechtigt. Es mag ja heute in Deutschland auch manchen so vorkommen, dass sich unsere „Hirten“ eher selbst weiden als das Volk. Da hört man immer wieder von Politikern, die einerseits große persönliche Ver­günstigungen in Anspruch nehmen, anderer­seits das Volk mit Halb­wahrheiten und falschen Ver­sprechungen zum Narren halten. Gegen die falschen Hirten Israels jedoch sind unsere Politiker Waisen­kinder. Außerdem sollten wir mit unserem Urteil über die Polit-Hirten in Deutschland vorsichtig sein, denn wenn ich mit einem Finger anklagend auf jemand anderes zeige, dann zeigen immer noch drei Finger anklagend auf mich selbst. Bin ich denn etwa ein besserer Hirte? Führe ich denn die Menschen besser, für die ich Ver­antwortung trage? Bin ich denn der perfekte Hirte – als Staats­diener, als Chef, als Lehrer, als Vater, als Mutter? Jeder, der Autoriät über andere hat, steht in der Gefahr, seine Macht selbst­süchtig zu miss­brauchen und eher an den eigenen Vorteil zu denken als an das Wohl der Herde. Ich weiß, wovon ich rede, denn auch Seelen­hirten stehen in dieser Gefahr.

Doch zurück zu Hesekiel. Gott hatte viele hundert Jahre Geduld gehabt mit den Hirten Israels, oder eigentlich mit den Hirten Judas, denn inzwischen war nur noch der Stamm Juda mit seiner Hauptstadt Jerusalem von Gottes Volk übrig geblieben. Nun aber kündigte Gott an, dass er auch die schlechten Hirten Judas in Ungnade entlassen werde; die Herde soll ihnen weggenommen werden. Damit kündigte Gott die Babylo­nische Gefangen­schaft an, die unmittelbar bevorstand: Jerusalem würde zerstört werden, Juda würde seine Un­abhängigkeit verlieren, ein großer Teil der Bevölkerung würde nach Babylonien verschleppt werden. Es ist so, als wollte Gott damit sagen: Diese brutalen Heiden, die Babylonier, werden das Volk immer noch besser weiden als die schlechten Hirten Israels.

Aber nocht etwas anderes kündigte Gott an: Nicht eine schwere Bestrafung der schlechten Hirten, sondern eine wunderbare Aussicht für die geschundene Herde. „So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.“ Und da konnte den Hörern dieser Hesekiel-Predigt noch etwas Weiteres zum Stichwort „Hirte“ einfallen. Da konnte ihnen nämlich einfallen, dass ein guter Hirte letztlich ein Abbild des himmlischen Vaters ist. Dies hatte bereits jener Mann gewusst, der erst ein guter Hirte und dann ein guter König gewesen war: David. Er hat seine Erkenntnis in Worte gefasst, die zu den schönsten der Bibel gehören: „Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln…“ (Psalm 23). Nun sagte Gott seinem Volk durch den Propheten Hesekiel: „Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen.“ In der bevor­stehenden schweren Zeit, in Krieg, Belagerung, Gefangen­schaft und Elend, würde Gott der Herr die Seinen lehren, dass er gerade im Leiden sein Volk aufs Beste zu führen versteht. Ja, Gott der Herr war der wahre Hirte Israels. Und darum sprach er weiter durch Hesekiel: „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurück bringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.“

Gott sagte dies aber nicht nur im Blick auf die bevor­stehende schwere Zeit der Babylo­nischen Gefangen­schaft. Gott hat Hesekiel sowie auch alle anderen Propheten viel weiter blicken lassen – bis hin zu der Zeit, als der eine gute Hirte leibhaftig auf Erden erschien. „Ich will mich meiner Herde selbst annehmen“ – was ist das anderes als eine Verheißung des Kommens Jesu? Gott hat sich über seine arme Herde erbarmt und hat seinen Sohn einen Menschen werden lassen; er hat ihn dann einladen und ausrufen lassen: „Ich bin der gute Hirte!“ (Joh. 10,11) Ja, Jesus ist der gute Hirte – nicht nur für die, die der Abstammung nach zum Volk Israel gehören, sondern für alle Menschen in allen Völkern, ohne Ausnahme. Dies ist eigentlich der wahre, tiefe Sinn der Worte, die Gott dem Hesekiel in den Mund gelegt hat: „Ich will sie aus allen Völkern heraus­führen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes.“ Was ist das anderes als ein Vor­geschmack auf unsere wahre Heimat, auf die himmlische Weide, wo es dann endlich an gar nichts mehr mangeln wird, wo Gott alle Tränen abwischen wird von unseren Augen?

So zeigt uns dieses Propheten­wort letztlich nichts anderes als Gottes Barmherzig­keit, die in Jesus Christus Fleisch geworden ist. Es ist die Barmherzig­keit, nach der der heutige Sonntag benannt ist: Miseri­kordias Domini – die Barmherzig­keit des Herrn. Die schlechten Hirten Israels sind dabei nichts weiter als die Negativ­form, mit der sich der eine gute Hirte abbildet – der gute Hirte, der die Herde recht weidet, das Schwache stärkt, das Kranke heilt, das Verlorene sucht, das Starke behütet und die Herde zusammen­hält. Ja, er stärkt das Schwache, er tröstet uns durch sein Evangelium in mancherlei Anfechtung und Leid. Ja, er heilt das Kranke, er vergibt uns unsere Schuld, er macht uns rein und heilig vor dem Angesicht seines Vaters. Ja, er sucht das Verlorene, er ruft in der ganzen Welt nach den Mühseligen und Beladenen, um sie für sich zu gewinnen, sie zu erquicken und sie zum ewigen Leben zu retten. Ja, er behütet das Starke, er weidet seine Gemeinde auf der Weide seines Wortes und seiner Sakramente. Ja, er hält die Herde zusammen durch sein Wort und durch den Heiligen Geist, worin wir die rechte Einheit der christ­lichen Kirche finden. Und ich freue mich, dass ich unter diesem einen guten Hirten, dem Erzhirten Jesus Christus, selbst ein Hirte sein darf, ein Pastor, wie man auf Latein sagt, ein Werkzeug für sein Erlösungs­werk. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1993.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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