Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Es gab eine Zeit, da war das Schlagwort der antiautoritären Erziehung in aller Munde; man nannte sie auch eine Erziehung zum Ungehorsam. Bei dieser Erziehungsmethode brauchen Kinder niemandem zu gehorchen; sie sollen vielmehr alles ausprobieren, was sie wollen, um dann von selbst zu erkennen, was gut ist und was nicht so gut. Heute sind sich die meisten Erziehenden darin einig, dass die antiautoritäre Erziehung keine besonders gute Idee war; eigentlich ist sie überhaupt keine Erziehung. Doch eins ist aus dieser Zeit hängengeblieben: Man möchte Kinder zu eigenständigen Persönlichkeiten erziehen, die selbst entscheiden, was für sie gut und richtig ist. Der Gehorsam spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, denn gehorchen würde ja bedeuten, sich dem Willen eines anderen unterzuordnen.
Ich vermute, dass die Unterbewertung des Gehorsams in unserem Volk auf die schlechten Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus zurückzuführen ist. Die Generation, die ihn erleiden musste, hat bitter zu spüren bekommen, wie allzu gutgläubiger Untertanengeist das deutsche Volk und die halbe Welt ins Verderben stürzten. Heute sagen viele: Die Leute hätten damals einfach den Gehorsam verweigern müssen, als man von ihnen verlangte, beim Völkermord und bei der brutalen Diskriminierung der Juden mitzumachen. Die folgende Generation wollte ihre Kinder darum lieber zum Ungehorsarn erziehen, damit sie aus eigener Verantwortung handeln lernen.
Kann das gelingen? Ich fürchte nein. Ich halte die Hoffnungen, die man in eine Erziehung zum Ungehorsam gesetzt hat, für übertrieben optimistisch. Es steckt ein Menschenbild dahinter, das weder durch die Bibel noch durch die Erfahrung gedeckt ist. Die Bibel sagt nüchtern: „Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (1. Mose 8,21). Gleich ob man Kinder zum Gehorsam oder zum Ungehorsam erzieht, es werden immer Menschen mit bösen Herzen sein, und das wird sich an ihrem Verhalten zeigen. Es gibt nur einen Ausweg: Wenn Gott ein neues Herz schenkt durch Jesus Christus – ein Herz, das Liebe kennt und Gottesfurcht. Ein solches Herz wird aber nicht den Ungehorsam preisen und die Selbstbestimmung loben, sondern ein solches Herz wird mit dem Apostel Petrus sprechen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Nichts anderes bedeutet die Gottesfurcht: Gott gehorchen.
Wenn wir das verinnerlichen, dann werden wir merken: Das Problem im Dritten Reich war nicht, dass die Bürger zu viel gehorcht haben, sondern dass sie zu wenig gehorcht haben. Gott haben sie nämlich zu wenig gehorcht, wenn sie aus Obrigkeitsgehorsam Dinge taten oder duldeten, die ein Christenmensch niemals tun und dulden darf. Gehorsam ist grundsätzlich ein gutes und wichtiges Erziehungsziel, aber man muss den Richtigen in der richtigen Reihenfolge gehorchen.
Wir können uns das wie eine Gehorsams-Pyramide vorstellen. Unten, am Fuß der Pyramide, befinden sich die Kinder, über ihnen die Eltern. Kinder sollen ihren Eltern gehorchen, ebenso allen anderen, die sie erziehen. Das will Gott so, das steht so in der Bibel und das ist wichtiger als alles hochtrabende Selbstbestimmungs-Gerede. Wenn die Eltern ihrem kleinen Kind verbieten, allein auf die Fahrbahn zu gehen, dann ist es lebensnotwendig, dass das Kind gehorcht.
Mehr gehorchen müssen Kinder allerdings der Staatsgewalt, die in Gesetzen ihren Ausdruck findet. Die Staatsgewalt steht in der Gehorsams-Pyramide über den Eltern. Wenn Eltern von ihren Kindern fordern würden, bei roter Ampel über die Straße zu gehen, dann müssten die Kinder ungehorsam werden. Das heißt: eigentlich müssten sie mehr gehorchen, nämlich dem Gesetz mehr als den Eltern. Den Staatsgesetzen sind beide unterworfen, sowohl die Kinder als auch die Eltern.
An der Spitze der Gehorsams-Pyramide steht Gott. Er steht über allen Menschen: über Kindern, Eltern und Regierungen. Alle sind letztlich dem Höchsten verantwortlich, alle sind ihm Gehorsam schuldig. Wenn Eltern ihren Kindern befehlen zu lügen, müssen die Kinder Gott mehr gehorchen, der geboten hat: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Und wenn Regierungen von ihren Bürgern verlangen zu foltern und zu morden, dann müssen die Bürger ebenfalls Gott mehr gehorchen, der geboten hat: „Du sollst nicht töten.“
Das ist eigentlich ein ganz einfaches und klares Prinzip: Nicht weniger Gehorsam ist nötig im Konfliktfall, sondern mehr Gehorsam, größerer Gehorsam, mutigerer Gehorsam, der dem Niedrigeren widerspricht, um dem Höheren zu gehorchen. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, rechtfertigte sich Petrus vor dem Hohen Rat der Juden. Er sprach damit keine neue Erkenntnis aus, denn das hatte schon lange vor ihm ein griechischer Philosoph gesagt; es war vielleicht sogar als Sprichwort bekannt.
Wenn solche Sprichwörter in der Bibel stehen, dann bekommen sie allerdings einen neuen und besonderen Stellenwert. Denn nun sind sie ja von Gottes Geist gesagt, von Gott selbst bestätigt und geheiligt. Sie erhalten dadurch auch einen tieferen Sinn. Petrus sagte also: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Den tieferen Sinn dieses Satzes können wir erfassen, wenn wir darauf achten, in welchem Zusammenhang er gesagt wurde.
Es war eine merkwüdige Situation gewesen. Petrus und die übrigen Apostel hatten im Tempel Jesus verkündigt. Das passte den obersten Juden überhaupt nicht. Sie sperrten sie eine Nacht lang ein. Am nächsten Tag verboten sie ihnen energisch, weiter von Jesus zu reden. Schon da hatten Petrus und Johannes geantwortet: „Wir können's ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben“ (Apostelgesch. 4,20). So predigten die Apostel weiterhin öffentlich im Tempel. Noch einmal ließen die obersten Juden sie für die Nacht einsperren. Diesmal erwägten sie sogar, die Jünger Jesu umzubringen. Am nächsten Tag versammelte sich der Hohe Rat zum Gericht. Der Hauptmann der Tempelwache sollte die gefangenen Apostel vorführen, aber – wie peinlich! – sie waren gar nicht mehr im Gefängnis. Obwohl Türen und Schlösser unversehrt waren! Ein Engel hatte sie befreit. Während die hohe Versammlung noch dumm aus der Wäsche schaute, kam jemand aufgeregt hereingestürzt und stieß hervor: „Die Leute, die ihr ins Gefängnis geworfen habt, stehen schon wieder im Tempel und predigen.“ Nun wird den Obersten die Sache unheimlich. Sie lassen die Apostel ohne äußere Gewaltanwendung voführen und fragen sie, warum sie denn entgegen dem ausdrücklichen Verbot weiterhin von Jesus predigen. Da gibt Petrus ihnen diese Antwort: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Und dann hält er wieder eine Predigt von Christus, der um der Sünde der Menschen willen gestorben ist und den Gott auferweckt und zum König aller Könige eingesetzt hat. Nur durch die Klugheit eines besonnenen Ratsherren gelingt es, das Todesurteil des erbosten Hohen Rats abzuwenden.
Aus diesem Zusammenhang erschließt sich nun der besondere, tiefe und heilige Sinn des Sprichworts als Gottewort: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Wir erkennen nun nämlich: Gehorchen hat mit glauben und bekennen zu tun. Jedenfalls für den Jünger Jesu. Der Glaube aber kommt durch das Hören des Evangeliums. Das Hören gehört dazu, und es steckt in „gehorchen“ drin: Wer gehorchen will, muss zunächst horchen, also hören. Im Grunde können wir uns den rechten Glaubensgehorsam wie ein Dreieck vorstellen mit den drei Ecken hören, vertrauen und handeln. Petrus hatte das Evangelium gehört, ja mehr noch, er hatte es erlebt im persönlichen Umgang mit Jesus. Nach der Auferstehung vertraute er ihm, vertraute seinem Schuldopfer am Kreuz und seiner ewigen Macht, denn er wusste: Nur der Glaube an diesen Jesus macht selig, nichts anderes. Und er handelte dann auch entsprechend. Er bekannte, predigte und breitete diese gute Nachricht aus, damit alle Welt diesen Erlöser kennenlerne und durch ihn selig werde. Hören, vertrauen und handeln, das gehört zusammen. Diesen Zusammenhang können Menschen nicht kaputt machen, indem sie das Predigen verbieten. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ – in diesem Zusammenhang entfaltet das Wort seine ganze Kraft.
Hören, vertrauen und entsprechend handeln – stand dieses Dreieck des Glaubensgehorsams im vergangenen Jahr bei uns im Mittelpunkt? Haben wir fleißig auf das gehört, was Gott uns zu sagen hat in seinem Wort? Haben wir genau hingehört? Haben wir geduldig darüber nachgedacht und um den Geist gebetet, wenn uns etwas unklar oder schwer verständlich war? Und haben wir vertraut? Wussten wir in allen Situationen: Wenn ich nur Jesus habe, dann wird alles gut? Und haben wir entsprechend gehandelt? Haben wir Jesus vor anderen bekannt als unseren Heiland und Erlöser? Haben wir uns nach seinem Willen gerichtet? Haben wir seine Gebote ernst genommen? Haben wir ihm so gehorcht, wie es ihm gebührt – ihm, der an der Spitze der Gehorsams-Pyramide steht?
Ach, wie unvollkommen ist unser Glaubensgehorsam noch! Aber wir brauchen nicht zu verzagen, denn wir dürfen ja Zuflucht nehmen zu Gott in seiner großen Geduld und Barmherzigkeit. Jesu Gerechtigkeit, Jesu unschuldiges Leiden und Sterben deckt all unseren Ungehorsam des vergangenen Jahres zu. Gott will es alles vergeben und vergessen; nehmen wir das doch im Glauben an. Und beginnen wir das neue Jahr froh und zuversichtlich im Namen Jesu. Er kann und will uns die Kraft geben, dass es besser wird: dass wir aufmerksamer hören, fester vertrauen und liebevoller handeln; dass wir Glaubensgehorsam lernen und leben. Lasst uns dazu dieses Wort als besonderen Ansporn nehmen: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Amen.
PREDIGTKASTEN |