Mit anderen Augen sehen

Predigt über Lukas 2,22‑40 zum Tag der Darstellung des Herrn

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Das Ereignis, von dem die heutige Evangeliums­lesung berichtet, wird „Dar­stellung Jesu im Tempel“ genannt. Diese Bezeichnung mag für manche einen negativen Klang haben: Kinder sind doch keine Vorzeige­püppchen, die man „dar­stellt“, auch das Jesuskind nicht! Aber es geht eigentlich gar nicht ums Vorzeigen, sondern darum, dass Jesus hier zum ersten Mal in das Haus seines himmlischen Vaters gebracht wurde, in den Tempel. Vor Gottes Angesicht wurde er gebracht, weil er, wie alle Erst­geborenen im alten Israel, Gottes Eigentum war. Weil nun Jesus nicht irgendein Kind ist, sondern Gottes Sohn, ist bei seiner Darstellung etwas Besonderes geschehen: die Sache mit Simeon nämlich. Der kommt bei uns in fast jedem Abendmahls­gottes­dienst vor, denn seinen Lobgesang singen wir immer nach der Austeilung des Altar­sakraments. Jede Abendmahls­feier erinnert also in gewisser Weise an die Darstellung Jesu im Tempel.

Aber lasst uns die ganze Sache jetzt der Reihe nach besehen, und zwar mit anderen Augen: mit den Augen des Simeon. Der alte Simeon hatte es seinerseits gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen als mit seinen eigenen, schwachen Augen. Er hatte nicht nur das Leben und seine Umwelt kennen­gelernt, sondern auch Gottes Wort. Und er hatte es gelernt, die Welt und die Menschen von Gottes Wort her zu sehen. Gott selbst hatte ihm diese Erkenntnis geschenkt durch den Heiligen Geist. Der alte Simeon erkannte sehr wohl, dass die Menschen einen Erlöser brauchten. Er nahm wahr: Wie sehr sie sich auch abmühten, sie fanden keinen Frieden, sie verfehlten den Sinn ihres Lebens, sie wurden die Sünde nicht los. Nur einer konnte Abhilfe schaffen: Gott. Und er hatte diese Hilfe ver­sprochen, lange schon, in den Worten der Bibel. Ja, Gott würde den Messias schicken, den Heiland, den Trost Israels. Lukas schreibt von dem alten Simeon: „Dieser Mann war fromm und gottes­fürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der heilige Geist war mit ihm.“

Wie schön, wenn jemand fleißig mit Gottes Wort umgeht und es lernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen! Mit Augen, die ihm der Heilige Geist schenkt. Auch uns hat Gott den Heiligen Geist geschenkt in der Taufe. Lasst uns Gott bitten, dass er auch uns die Augen öffnet, dass auch wir erkennen: Der Messias, der Heiland Jesus Christus ist derjenige, den unsere Welt braucht; er ist der Einzige, der Heil bringen kann in unsere heillose Welt und in unser eigenes heilloses Leben. Lassen wir uns durch Simeon dazu anspornen, fleißig in der Heiligen Schrift nach diesem Heil und Heiland zu forschen, und lassen wir uns durch Gottes Wort immer wieder neu mit dem Heiligen Geist beschenken!

Der alte Simeon hatte über die Heilige Schrift hinaus nun aber noch ein eigenes, besonderes Wort von Gott empfangen. Das ist eine große Gnade, das kann nicht jeder von Gott erwarten, das schenkt Gott nur bestimmten aus­erwählten Menschen. Lukas schreibt: „Ihm war ein Wort zuteil geworden von dem heiligen Geist, er solle den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christus des Herrn gesehen.“ Und eines Tages wusste Simeon plötzlich, dass es nun soweit war. Er spürte eine innere Unruhe, eine freudige Erregung. Wieder war es der Heilige Geist, der ihn trieb. Er konnte nicht zu Hause sitzen bleiben. So schnell ihn seine alten Beine tragen konnten, lief er zum Tempel. Wie immer herrschte dort reger Betrieb. Viele Menschen strömten dorthin. Einige kamen, um dort zu beten. Andere führten Opfertiere mit, Rinder, Ziegen und Schafe. Wieder andere hatten Körbe im Arm oder Kiepen auf dem Rücken, um dem Herrn die ersten Früchte ihrer Ernte zu opfern. Im Vorhof klimperte das Geld: Wer kein Opfertier mitgebracht hatte, konnte hier noch schnell eins kaufen. Und wer gekommen war, seine Kirchen­steuer zu bezahlen oder etwas zu spenden, der konnte hier jede gängige Währung in Tempel­groschen umtauschen, die Spezial­münze für das Heiligtum. Im Tempeltor streckten Bettler die Hände nach Simeon aus, die dort den ganzen Tag saßen. Manche Leute kamen einfach nur aus Neugier zum Tempel; Simeon sah ihnen das gleich an. Es kamen auch Ausländer von weit her mit schwarzen und gelben Gesichtern.

Aber wie sollte Simeon nun in all dem Gewimmel den Messias finden, den Heiland, auf den er so sehnlich wartete? „Herr, zeige deinem Diener den Heiland, wie du gesagt hast“, mag er wohl gebetet haben. Dann blickte er sich genau um. Er war oft genug im Tempel gewesen, um das Gewimmel richtig zu deuten. Da fällt ihm ein junges Ehepaar auf. Mann und Frau sind einfach gekleidet; die Kleider sind mit Staub bedeckt. Sicher haben sie einen längeren Fußweg hinter sich; es sind Leute vom Lande, nicht aus Jerusalem. Der Mann hat einen kleinen Holzkäfig in der Hand mit zwei Tauben darin, die Frau trägt einen Säugling auf dem Arm. Simeon kann sich zusammen­reimen, was diese Leute in den Tempel getrieben hat: Die zwei Tauben sind das Reinigungs­opfer, das Moses Gesetz vierzig Tage nach der Geburt eines Knaben vor­schreibt. Eigentlich wäre aus diesem Anlass ein Schaf fällig, aber arme Leute dürfen stattdessen auch Tauben opfern. Und das Kind haben die beiden mit­gebracht, um es dem Herrn dar­zubringen, um ihn „dar­zustellen“, wie man sagt. Es ist offenbar der erst­geborene Sohn, der nach Moses Gesetz dem Herrn geweiht werden soll. Ja, so sieht Simeon mit bibel­geschulten Augen der kleinen Familie an, warum sie im Tempel ist. Und in diesem Moment zeigt ihm der Heilige Geist: „Das ist er, der Heiland! Nein, nicht der junge Vater, sondern der Säugling! Das ist er!“

Liebe Gemeinde, hier geht die Botschaft von Stall und Krippe weiter. Gottes Sohn erniedrigt sich, wird Mensch, wird Kind, wird Sohn ganz normaler Eltern. Einfache Leute sind es, arme Leute vom Lande. Der eine wahre Gott, der Himmel und Erde geschaffen und dem Volk Israel das Gesetz gegeben hat, unterwirft sich selbst diesem Gesetz. Nach dem Gesetz bringt seine Mutter Maria das Reinigungs­opfer dar, obwohl Jesus nicht in Sünden empfangen und geboren ist, obwohl er keine Erbsünde hat, er als Einziger. Nach dem Gesetz wird er im Tempel dem himmlischen Vater „dar­gestellt“, wiewohl er mit seinem Vater in engerer Verbindung steht als jeder andere Mensch. Gottes Sohn erniederigt sich, Gottes Sohn ist gehorsam, Gottes Sohn lässt sich unter das Gesetz tun. Später hat er selbst von sich gesagt: „Ihr sollte nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Matth. 5,17). Und der Apostel Paulus bezeugt im Galater­brief: „Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen“ (Gal. 4,4-5). Nur aus Liebe zu uns demütigt sich der Gottessohn unter das Gesetz, dessen Herr er doch ist, und erfüllt es von Anfang an bis zum bitteren Ende.

Zurück zu Simeon. „Das ist er“, zeigt ihm der Heilige Geist. Da gibt es kein Halten mehr: Der Greis stürzt auf die kleine Familie zu, nimmt der verdutzten Maria das Kind aus dem Arm, schaut es bewegt an und beginnt – zu singen! Kein Lied, das Maria und Josef kennen, kein Lied, das er irgendwann einmal gelernt hat, sondern ein neues Lied, das der Heilige Geist ihm eingibt: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.“

Was sang Simeon da eigentlich? „Nun kann ich in Frieden sterben!“, sang er. Denn nun war der Heiland da. Nun hatte er erkannt, dass Gott sein Versprechen wahr macht. Wer Jesus als den Heiland erkennt und an ihn glaubt, der kann in Frieden sterben – sei es in der Jugend oder im Alter, sei es im Bett oder im Straßen­graben, sei es sanft oder unter großen Schmerzen. Friedlich sterben kann jeder, der weiß: Ich bin im Reinen mit Gott, ich brauche mich vor seinem Gerichtstag nicht zu fürchten; ich werde nicht im Tod bleiben, sondern auferstehen zum ewigen Leben. Und ob ich schon wanderte m finsteren Tal, im Tal des Todes­schattens, ist der gute Hirte doch bei mir. Er hat für mich das ganze Gesetz erfüllt, er hat die Schuld für alle meine Sünden getragen. Weil er gekommen ist, mich mit dem himmlischen Vater zu versöhnen, habe ich Frieden mit Gott. Und wenn jemand bereit ist, in diesem Frieden zu sterben, dann wird er auch im Frieden leben, vorher und nachher. Denn dann ist er eine neue Kreatur, ein neuer Mensch, neu geworden durch das Evangelium von Jesus Christus. Wenn du sagen kannst: „Jesus, mein lieber Herr“, und wenn du das auch so meinst, dann kannst du wie Simeon einem friedlichen Sterben entgegen­sehen und kannst auch vorher schon im Frieden leben.

„Denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen“, sang Simeon auch noch. Was sah Simeon eigentlich mit seinen alten, möglicher­weise schwachen Augen? Einen sechs Wochen alten Säugling sah er da auf seinem Arm, ein Kind einfacher Eltern. Nein, diese Augen können ihm nicht gesagt haben: „Das ist er!“ Aber er hatte ja gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen, mit den Augen des Geistes. Und so betrachtet wusste er, dass der Heiland un­scheinbar, arm und schwach kommen würde. „In unser armes Fleisch und Blut verkleidet sich das ewig Gut“, heißt es in einem Weihnachts­lied. Seht, deshalb singen wir den Lobgesang des Simeon nach dem Abendmahl. Unsere Augen sehen da nur eine kleine Hostie und ganz normalen Wein in einem Silber­kelch. Eigentlich nichts Auf­regendes, nichts Besonderes. Aber wenn wir es mit anderen Augen betrachten, dann erkennen wir: Unter diesen un­scheinbaren Elementen kommt Jesus Christus selbst zu uns, der Heiland, mit seinem Leib und Blut. „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen“, können wir dann singen, und: „Nun kann ich in Frieden sterben“. Dasselbe gilt für den ganzen Gottes­dienst, der manchen langweilig vorkommt. Das ist er aber gar nicht, wenn wir mit anderen Augen erkennen, dass der lebendige Gott anwesend ist!

Dieser Heiland, so jubiliert Simeon, ist ein Licht für die Heiden. Das bedeutet: Er kommt für alle Völker – keiner ist aus­geschlos­sen, auch du bist gemeint. Jawohl, jedem soll das Licht des Glaubens aufgehen, damit wir Gott, uns selbst und die ganze Welt mit anderen Augen sehen lernen, mit Augen des Glaubens und Augen des Heiligen Geistes. Der besondere Ruhm des Volkes Israel ist es aber, dass es den Heiland Jesus Christus hervor­gebracht hat, und deshalb preist Simeon es besonders.

Maria und Josef wundern sich über den Lobgesang. Simeon segnet sie und sagt der Mutter Worte, die sie noch nicht ganz verstanden haben wird. Er deutet den Opfertod des Heilands an, den er als Prophet voraus­sieht. Eine alte Frau gesellt sich noch zu der Runde, die Prophetin Hanna, die ebenfalls Lobgesänge anstimmt und weissagt. Vieles ist da geschehen am Tag der Darstellung Jesu, vieles ließe sich dazu noch sagen. Eins aber wollen wir besonders festhalten: dass wir Jesus mit Augen des Glaubens ansehen wollen – wie der alte Simeon. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1992.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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