Warum Jesus weinen musste

Predigt über Lukas 19,41‑44 zum 10. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Am 6. August des Jahres 70 nach Christus wurde zum aller­letzten Mal im Jerusalemer Tempel ein Tier geopfert. Der Grund: Es gab keine Tiere mehr in der Stadt, weder zum Opfern noch zum Essen. Es gab überhaupt kaum noch Nahrungs­mittel. Die Stadt war monatelang von den Römern belagert worden. Es war die schreck­lichste, die grausamste Zeit für den Berg Zion. Wenig später drangen die Römer ein und verwüsteten den Tempel und die ganze Stadt. Der heutige l0. Sonn­tag nach Trinitatis ist in der Kirche zum Gedenktag an dieses tragische Ereignis geworden, zum sogenannten Israel-Sonntag.

Als Jesus wenige Tage vor seiner Hinrichtung nach Jerusalem kam, da weinte er über die Stadt, so haben wir es im heutigen Evangelium gehört. Jesus weinte, denn er sah die Zerstörung voraus, die eine Generation später Wirklich­keit werden sollte. Jesus hatte der Stadt Jerusalem an­gekündigt: „Es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen. Und sie werden dich dem Erdboden gleich­machen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.“

Was meinte Jesus mit der „Zeit, in der du heimgesucht worden bist“? Die Bürger von Jerusalem und das ganze Volk der Juden haben nicht erkannt, wann Gott zu ihnen gekommen ist, um sie auf den rechten Weg zu führen. „Heimsuchung“, das ist in der Sprache der Bibel Gottes Besuch bei den Menschen. Gottes Volk hat nicht erkannt, wie Gott mit seiner Gegenwart immer wieder versuchte, die Menschen zu gutem Leben zu führen, zum Frieden. „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient“, weinte Jesus. „Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.“ Israel ist blind für Gottes Heim­suchung.

Es ist in der Tat er­schütternd, wie dieses Volk Jahr­hunderte und Jahr­tausende hindurch an seinem Heil vorbei­gelaufen ist, ins Verderben gelaufen ist. Wie hatte sich Gott von Anfang an bemüht, hatte diesem Volk seine besondere Liebe und Zuwendung gezeigt! Bereits den Vorvätern hatte er großartige Versprechen gegeben, Abraham, Isaak und Jakob. Unter gewaltigen Zeichen und Wundern hatte er sie aus der Sklaverei in Ägypten befreit und sie vor allen Feinden errettet. Am Berg Sinai hat er sich ihnen zu erkennen gegeben und mit ihnen feierlich seinen Bund geschlossen – es sollte ihnen wohl gehen in dem Land, das er ihnen zu geben versprach. Vierzig Jahre führte er sie gnädig durch die Wüste und gab ihnen dann das Land Kanaan zum Eigentum. Er zeigte große Geduld, obwohl das Volk immer wieder von ihm abfiel, sich äußerst undankbar und gottlos verhielt. Sie murrten gegen Gott, lehnten sich gegen seine Gesandten auf, zweifelten an seiner Liebe und an seinen Ver­heißungen, dienten fremden Göttern, miss­achteten seine Gebote. Gott schickte Propheten und ermahnte sie, wollte sie zur Buße leiten, ließ sich auch oft genug erweichen, ein an­gekündigtes Straf­gericht zurück­zunehmen oder wenigstens ab­zumildern. Aber dieses Volk trieb es immer schlimmer. So kam es, dass die Israeliten schließlich wieder in die Sklaverei gerieten – nach Assyrien und später nach Babylonien. Damals ist Jerusalem mit dem Tempel schon einmal zerstört worden. Aber Gotes Geduld war immer noch nicht zuende. Die Juden durften nach siebzig Jahren zurück­kehren, die Stadt und den Tempel wieder aufbauen. Fortan stritten Gesetzes­eifer und freizüige Lebensweise gegen­einander in diesem Volk. Gott trug ihre Sünde mit Nachsicht. Ja, und dann kam Gottes wunderbare Heim­suchung! Er selbst wurde Fleisch und besuchte sein Volk in Jesus Christus. Er kam, um sie von allen Sünden endgültig zu befreien. Wie lieb hatte Gott sein Volk! Und wie groß war seine Ent­täuschung, als sie auch diesen letzten und wichtigsten Besuch, dieses unfassliche Zeichen der Liebe und Aufopferung aus­schlugen. Kein Wunder, dass Jeus weinte: „Du hast die Zeit nicht erkannt, in der du heimgesucht worden bist.“

Das Urteil über den alten Bund und das Gottesvolk Israel im Jahre 70 war dann endgültig. Bis heute gibt es dort keinen Tempel mehr, bis heute ist kein Friede in Jerusalem eingezogen – in die Stadt, die zu deutsch „Schauung des Friedens“ heißt. „Wenn du doch erkannt hättest, was zum Frieden dient …“ Wenn du doch den Friede­fürsten angenommen hättest! Wenn du dich doch hättest versöhnen lassen mit Gott durch den, der gekommen ist, um Sünder selig zu rnachen! „Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen“, und die Zerstörung war gewaltig, ein endgültiges Aus.

Was für unsäglich leidvolle Zustände müssen damals in der Stadt geherrscht haben! Nicht nur die Belagerungs­aktivitäten der Römer machten den Einwohnern zu schaffen, sondern auch interne Unruhen: Zwei rivali­sierende selbst­ernannte Befreiungs­kämpfer terrori­sierten die übrigen Bürger; sie zündeten sich gegenseitig die ohnehin spärlichen Nahrungs­vorräte an, sie plünderten und mordeten. Täglich ver­hungerten Kinder und Erwachsene. Die über­lebenden Bürger waren so geschwächt, dass sie nicht einmal mehr Kraft hatten, die Leichen zu bestatten. Wer aus der Stadt fliehen wollte, wurde gleich an der Mauer von den Römern gekreuzigt – als vermeint­licher Spion. Wie Jesus es voraus­gesehen hatte, hatten sie einen hohen Wall rings um die Stadt auf­geschüttet. Mit riesigen Stein­schleudern bombar­dierte sie die Stadt, schlugen mit Rammböcken Löcher in die Mauer und schütteten Rampen auf. Schließlich konnten die Römer in die Stadt eindringen. Sie zündeten die Häuser und den Tempel an; sie rissen bis auf drei Türrme die gesamte Stadtmauer nieder. Von den 60.000 Bewohnern hatte gerade einmal die Hälfte den Hunger überlebt; nun fielen sie den Römern in die Hände. Nicht wenige wurden als Sklaven in die Fremde ver­schleppt.

Ja, so entbrannte Gottes Zorn über die, die ihre Augen ver­schlossen hatten vor seiner gnädigen Heim­suchung. Frieden gefunden hat nur ein kleiner Rest der Juden: diejenigen, die in Jesus Christus Gottes Sohn erkannten, den Messias und Erlöser, den Gott ihnen zum Heil geschickt hatte. In ihm fanden und finden sie einen Frieden, der nicht an eine bestimmte Stadt oder ein bestimmtes Land gebunden ist.

Kann man aus der Geschichte lernen? Können wir aus der Geschichte lernen? Beziehungs­weise aus Gottes Wort, das uns die Geschichte deutet – aus Jesu Wort und Jesu Tränen über das verstockte Israel? Wenn ich auf uns Heutige als Volk und christ­liches Abendland blicke, dann kommen mir Zweifel. Jesus hätte heute allen Grund, auch über uns zu weinen: „Wenn du doch auch erkenntest, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen ver­borgen…“ Gottes Wort ist vor langer Zeit in unsere Gegend gekommen und hat sich mächtig aus­gebreitet. Große Männer haben Jahr­hunderte hindurch gepredigt, Gottes Heil in Christus bezeugt. Künstler haben es in Stein und auf Leinwand dar­gestellt. Martin Luther hat das vergessene Evangelium wieder ans Licht geholt, damit alle hören können, was zu ihrem Frieden dient – nämlich der Glaube an Jesus Christus allein. Gott hat uns geschenkt, dass jeder eine Bibel lesen und besitzen kann. Jeder kann die Gottes­dienste in den Kirchen besuchen, dazu schützt der Staat extra per Gesetz die Sonn- und Feiertags­ruhe. Gott ist uns in vielen Mitchristen begegnet, und im Konfirmanden­unterricht haben wir die Hauptstücke seines Wortes gelernt. Gott hat vor wenigen Jahren unserem Volk die große Güte beschert, dass er den Osten aus der Knecht­schaft des Marxismus befreite. Aber erkennen die Menschen, was zu ihrem Frieden dient – wer zu ihrem Frieden dient?

Nein. Wir müssen der Tatsache ins Auhe sehen: Die Christen sind nur eine kleine Minderheit in unserem Land. Ich meine echte Christen, die auf Jesus Christus als ihren Heiland und Erlöser vertrauen, die ihn ernsthaft „Herr“ nennen und die ihm in hingebungs­voller Nachfolge dienen wollen. Viele haben überhaupt nicht mehr die Absicht, nach den Zehn Geboten zu leben, ja, kennen sie oft gar nicht. Viele lassen ihre Kinder nicht taufen. In den großen Kirchen ist es weit verbreitet, dass über alles mögliche andere gepredigt wird, nur nicht mehr über Jesus als Heiland, der Frieden mit Gott bringt und am Ende in Gottes Gericht vor der Verdammnis bewahrt. Die Theologie an unseren Universi­täten verdient zu weiten Teilen diesen Namen nicht mehr, denn sie stellt wesentliche Aussagen der Bibel und des christ­lichen Bekennt­nisses in Frage.

Ja, auch in unserer Kirche wird es immer schwerer, die Menschen bei Gottes Wort und Sakrament zu halten. Wie viele sind gar nicht mehr auf Gottes Wort hin ansprech­bar, reagieren verständnis­los oder gar beleidigt, wenn man sie ermahnt und zur Umkehr aufruft. Wie wenige empfinden wirkliche Reue über ihre Sünde und wagen ernstlich einen Neuanfang; selbst in der sogenannten Kern­gemeinde kann man das fest­stellen. Nicht mehr der Herr Jesus und sein Wort haben Vorrang, sondern menschliche Erwartungen und Über­legungen. Wie Jesus damals über Jerusalem weinte, so kann man heute oft als Seelsorger oder auch als Gemeinde­glied über Gottes Volk weinen. Und das Gericht, ist geweissagt – die Verdammnis, das endgültige Urteil über die, die die Gnadenzeit nicht nutzen, die nicht zur Buße finden, die blind sind für den, der sie heimsucht, Jesus Christus, und für den Frieden, den er bringen will.

Liebe Brüder und Schwestern, ich gebe zu, diese Predigt ist ein Klagelied. Das muss auch mal sein. Jesus selbst hat ja geweint über das arme, verstockte, verlorene Jerusalem. Aber er hat nicht resigniert. Er ist den Weg treu weitergegangen, den ihm sein Vater gezeigt hat, auch wenn dieser Weg dann sehr bitter wurde.

Und was heißt es nun für uns, nicht zu resignieren und den Weg weiter­zugehen? Ich meine, es sind drei Dinge, die sich mit drei „B“ beschreiben lassen: Buße, Beten und Bekennen. Fangen wir an mit der Buße; erkennen wir bei uns selbst, wo wir es nicht ernst genug mit unserem Glauben meinen, wo uns anderes wichtiger wird als Jesus, wo eigene Gedanken unser Leben bestimmen anstelle von Gottes Wort. Lasst uns Zuflucht nehmen zu dem Heiland, der uns mit Gott versöhnt, und lasst uns an ihm erkennen, was zu unserem Frieden dient, denn noch ist Gnadenzeit. Zweitens das Beten: Lasst uns nicht müde werden, die Hände zu falten für unser Volk, für unsere Kirche, auch für das Volk der Juden. Drittens das Bekennen: Je weniger die Menschen in unserem Land von Jesus wissen, desto mutiger sollten wir ihnen sagen, was zu ihrem Heil dient. Noch ist Gnadenzeit. Vergesst also nicht die drei „B“, sondern nehmt sie ganz ernst und beherzigt sie! Tröstet euch dabei mit dem, was Jesus euch erworben hat: Das ewige Leben allein aus Gnade! Und seht zu, dass andere erfahren, wie gut Jesus es trotz allem immer noch mit uns Menschen meint. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1991.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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