Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Als ich zwölf Jahre alt war, nahm ich an einer Klassenfahrt teil, die uns in den Fränkischen Wald führte. Natürlich unternahmen wir viele Wanderungen. Schnell ergab es sich, dass ich mit einigen Mitschülern immer vorneweg marschierte; ich mag es nicht, wenn man zu langsam wandert. Unsere Lehrerin konnte uns kaum bremsen. Einmal erteilte sie uns die Erlaubnis, auf grader Strecke ein Stück vorzulaufen. Wir genossen diese Freiheit und marschierten munter drauf los, Kilometer für Kilometer. Nach längerer Zeit hatten wir allerdings das beklommene Gefühl, dass wir wohl im wahrsten Sinne des Wortes zu weit gegangen waren. Wir hielten an und warteten auf die Lehrerin und den Rest der Klasse. Aber die kamen und kamen nicht. Nachdem wir fast eine halbe Stunde gewartet hatten, waren wir doch ziemlich ratlos: Ob die wohl inzwischen einen anderen Weg gegangen waren? Ob wir nicht doch eher hätten anhalten sollen? Wir entschlossen uns, auf eigene Faust zum Schullandheim zurückzugehen. Nach kurzer Zeit kamen wir auch an eine bekannte Stelle und fanden zurück. Im Schullandheim herrschte dicke Luft. Die anderen waren schon vor einer Weile zurückgekehrt; sie hatten unterwegs immer wieder Wanderer nach uns gefragt, hatten sogar Autos angehalten, aber niemand hatte ihnen Auskunft geben können; wir galten als verschollen. Wie muss sich die arme Lehrerin in dieser Zeit geängstigt haben, weil sie doch für uns verantwortlich war! Als wir dann noch nicht einmal im Schullandheim waren, hatte sie sich sorgenvoll wieder auf den Weg gemacht, um uns zu suchen. Erst als sie nach längerer vergeblicher Suche zurückkam, fand sie uns im Schullandheim vor und war sichtlich erleichtert. Die verdiente Strafe bekamen wir aber dennoch: einen Tag Stubenarrest, während die anderen eine schöne Busfahrt machten!
An diese Begebenheit muss ich denken, wenn ich mir die Sache mit dem verlorenen Schaf vor Augen führe. Unsere Lehrerin machte sich sorgenvoll auf den Weg, um nach ihren verlorenen Schafen zu suchen. Jeder einzelne Schüler war ihr wichtig; jeder Einzelne war ihr anvertraut. Und die Freude war dann natürlich groß, als sie ihre verlorenen Schafe wiedergefunden hatte.
Ich weiß nicht, ob heute ein Schäfer noch so ein intensives Verhältnis zu jedem seiner Tiere hat. Immerhin sind die Herden ja oft wesentlich größer als hundert Tiere. Und in der heutigen Landwirtschaft werden die Tiere ja auch nicht mehr so sehr als Einzelwesen betrachtet, sondern einfach als Produktionsmittel. Ich sage das ohne kritischen Unterton (es wäre heute ja anders kaum denkbar), ich sage das nur, damit wir den Hirten von damals besser verstehen – den Hirten, den Jesus in seinem Gleichnis vor Augen hatte. Dem war jedes einzelne Tier ans Herz gewachsen, dem durfte auch nicht eines fehlen, ebensowenig wie der Lehrerin auf der Klassenfahrt ein Schüler abhanden kommen durfte.
Und nun wollen wir sehen, was das Gleichnis für uns zu bedeuten hat. Wir wollen es dazu zweifach betrachten, erstens aus dem Blickwinkel des Schafes, zweitens aus dem Blickwinkel des Hirten.
Aus dem Blickwinkel des Schafes sagt das Gleichnis uns: Das verlorene und wiedergefundene Schaf bist du. Du warst verloren in Sünde, weit ab vom guten Hirten, von der nahrhaften Weide und vom lebenserhaltenden Wasser. Da hat Jesus dich gefunden durch sein Wort und Sakrament, hat dich zurückgebracht zur Herde und zur lebendigen Gemeinschaft mit ihm. Das ist keine einmalige Sache, sondern das passiert immer wieder in deinem Leben, und zwar bei der täglichen Reue und Buße, die ein Christenleben ausmacht. Wenn wir den erklärenden Schlusssatz am Ende des Gleichnisses wörtlich übersetzen, dann steht da: „Im Himmel wird Freude sein über einen Buße tuenden Sünder …“, das heißt einen Sünder, der fortwährend und immer wieder am Buße-Tun ist. Ja, du bist also das verlorene Schaf – immer wenn du sündigst mit Gedanken, Worten und Werken. Und nun sieh auf den guten Hirten aus dem Blickwinkel des Schafes: Da kommt er, brennend vor Liebe gegen dich, beseelt von dem Wunsch, dich zu finden und zurückzubringen. Jesus ist kein Mann der großen Zahlen, keiner, der rationell arbeiten will, der die Massen gewinnen will. Den Einzelnen will er gewinnen, denn den Einzelnen hat er lieb. Dich als Einzelnen meint er, gerade du bist ihm wichtig. „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“, heißt es in der Bibel, und damit ist die Taufe gemeint (Jes. 43,1). Ist das nicht großartig? So wertvoll bist gerade du dem guten Hirten, so sehr liegst gerade du ihm am Herzen!
Nun kommt er, um dich zurückzuholen. Das ist wohlbemerkt sein Ziel: dich zurückzuholen! Denn er weiss, nur damit ist dir geholfen. Lasst uns einen Moment darüber nachdenken. Jesus suchte die Gemeinschaft der Zöllner und Sünder; das ist ihm damals angekreidet worden, und an die Adresse seiner Kritiker ist ja auch dieses Gleichnis gerichtet. Heute finden wir das ganz richtig so und ganz normal: Jesus suchte die Gemeinschaft der Zöllner und Sünder. Aber ihre Sünde, ihr gottloses Treiben, das hieß er damit nicht gut. Im Gegenteil, er wusste, das wird den Sündern zum tödlichen Verhängnis, wenn sie nicht Buße tun. So rief er sie also zur Umkehr, fand sie und gewann sie zurück zur Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott.
Das sollten wir in unserer Zeit bedenken, wo die Maßstäbe für Recht und Unrecht ins Wanken geraten. Richtig, Jesus hat die Homosexuellen und lieb und geht ihnen nach. Aber damit ist die Homosexualität keineswegs gerechtfertigt, sondern sie ist Sünde, von der es umzukehren gilt. Richtig, Jesus hat auch die Jugendlichen lieb, die ihre Eltern verachten und nicht auf den Gedanken kommen, ihnen freiwillig zu gehorchen. Aber damit ist dieses Verhalten keineswegs gerechtfertigt, sondern es ist Sünde, von der es umzukehren gilt. Richtig, Jesus hat auch die Ehebrecher und Unzüchtigen lieb, die außerhalb der Ehe ihre Sexualität ausleben. Aber damit ist nicht gesagt, dass man solche Lebensweise nachsichtig dulden sollte, sondern es ist Sünde, von der es umzukehren gilt. Ja, von Herzen gern möchte der gute Hirte uns und alle Schafe zurückbringen von allen Orten der Verirrung, damit wir gut und sicher leben und dem Tod entrinnen. Dafür hat der gute Hirte sein Leben gelassen, dafür hat er selbst geblutet. Dazu hat er dich in seinem Gnadenbund aufgenommen; dazu bist du getauft worden. Dazu ist er dir unzählige Male begegnet in seinem Wort, in der Predigt, im Konfirmandenunterricht sowie auch im Vorbild derer, die dich christlich erzogen haben. Dazu lädt er dich in die Beichte ein; denn in der Beichte will er dich liebevoll auf die Schulter nehmen und zur Herde zuückbringen. Das ist das Beste, was uns passieren kann! Wir brauchen uns nicht zu mühen und anzustrengen, um mit eigener Kraft zurückzulaufen, sondern er trägt uns! Wir brauchen nicht selbst für unsere Sünden geradezustehen und sie wiedergutzumachen, denn er vergibt sie uns! Wenn das mehr Gemeindeglieder begreifen würden, dann wären unsere Beichtgottesdienste nicht so kümmerlich besucht. Und dasselbe geschieht auch im Heiligen Abendmahl: Da nimmt er dich auf seine Schulter und führt dich zurück auf die grüne Weide und an das frische Wasser, in Gemeinschaft mit der ganzen Herde. Was für ein schönes Bild, welche Geborgenheit strahlt es aus! Der gute Hirte trägt dich auf seiner Schulter zurück, du spürst seine große Liebe – und seine Freude! Die Freude ist in diesem Gleichnis ganz groß geschrieben; gleich dreimal ist von ihr die Rede: „Wenn er's gefunden hat, so legt er sich's auf die Schulter voller Freude“, heißt es, und: „Wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir!“, und: „So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut …“ Jede Taufe, jeder Beichtgottesdienst, jede Abendmahlsfeier ist ein gewaltiges Freudenfest, so gewaltig, dass der ganze Himmel davon schallt!
Ja, das alles sagt uns dieses Gleichnis, wenn wir uns an die Stelle des verlorenen und wiedergefundenen Schafes setzen. Nun wollen wir aber auch noch zweitens die Sache aus dem Blickwinkel des guten Hirten betrachten. Ich möchte dabei ganz konkret auf die Situation eingehen, in der wir als Gemeinde Jesus Christi stehen. Und weil ich da selbst in vielen Dingen noch am Suchen und Fragen bin, möchte ich es in Frageform tun, mit drei Fragen nämlich.
Erste Frage: Nehmen wir jeden einzelnen Menschen so wichtig, wie Jesus es getan hat? Haben wir jeden einzelnen genauso lieb? Gehen wir ihm nach? Schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass Jesus ihn erreicht durch sein Wort und Sakrament? Es besteht in unserer Kirche die Gefahr, dass zu wirtschaftlich gedacht wird, dass zum Beispiel überlegt wird, wie groß eine Gemeinde sein muss, damit sich ein Pastor rentiert, oder ab welcher Besucherzahl es sich lohnt, einen Gottesdienst anzusetzen. Natürlich haben wir die Freiheit zu solchen Überlegungen, und wir sollen ja unsere Kräfte und Mittel nicht verschwenden. Aber der oberste Grundsatz muss doch lauten: Kommt der gute Hirte zu jedem Einzelnen? Hat jeder Einzelne die Gelegenheit, regelmäßig einen rechten lutherischen Gottesdienst mitzufeiern und das Heilige Abendmahl zu empfangen? Auch diejenigen, die kein Auto haben und die nicht von anderen mitgenommen werden? Und wenn es auch nur zwei oder drei Gemeindeglieder gäbe, die gern jeden Sonntag das Abendmahl empfangen möchten, sollte man dann nicht wenigstens um ihretwillen jeden Sonntag das Altarsakrament feiern?
Zweite Frage: Wie gehen wir im Namen des guten Hirten den Schafen nach, die ganz weit weggelaufen sind und die sich nicht mehr zur Gemeinde halten? Das ist ja bei uns nicht nur eines von hundert, sondern das sind dreißig bis vierzig von hundert! Ich selbst frage mich manchmal: Was bedeutet es für den Pastor, wenn Jesus die Neunundneunzig eine Zeit lang zurückließ, um dem Einen nachzugehen. Verbringe ich womöglich zuviel Zeit mit Dingen, die der Kerngemeinde zugute kommen, und habe dann zu wenig Zeit für Besuche bei den Fernstehenden? Andererseits mache ich dort normalerweise die Erfahrung, dass sich die Schafe von ihrem Hirten Jesus Christus gar nicht auf die Schulter nehmen lassen wollen; sie wollen gar nicht zurückgetragen werden. Tritt da dann nicht das Gegenteil von Freude ein: Traurigkeit beim Hirten, der unverrichteter Dinge zurückkehrt, sowie auch Traurigkeit bei den Freunden und Nachbarn, die mit ihm mittrauern, und schießlich auch Traurigkeit im Himmel und in der christlichen Gemeinde über die vielen Schafe, die verloren bleiben?
Dritte Frage: Teilen wir die Liebe und Freude des Hirten, wenn ein Schaf zurückkehrt? Nehmen wir jeden herzlich auf, der in die Gemeinschaft der Kirche hineinfindet, ohne Ansehen der Person? Pharisäer sind wir wohl nicht, die über die Sünder die Nase rümpfen und sich von ihnen fernhalten wollen, aber gelingt es uns andererseits, ihnen nahe zu kommen, ihnen die Liebe Christi zu vermitteln und sie in gewinnender Weise zur Buße zu rufen?
Es ist gut, wenn uns solche Fragen beschäftigen. Aber beides ist wichtig, beides lasst uns festhalten: der dankbare Blick als erlöste Schafe auf den guten Hirten und der liebevolle Blick mit dem guten Hirten auf die anderen Schafe. Amen.
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