Der Helfer kommt

Predigt über Matthäus 21,1‑9 zum 1. Advent

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Das hat es schon immer gegeben: Menschen­massen, die einem Prominenten zujubeln – einem Präsiden­ten, einem König oder sonst jemandem, von dem sie Gutes erwarten und Hilfe erhoffen. Kurz vor der deutschen Wieder­vereinigung haben Menschen­massen in Berlin den sowjeti­schen Präsidenten Gorbatschow mit be­geisterten „Gorbi, Gorbi!“-Rufen empfangen. Ebenfalls in Berlin haben 1963 unzählige Menschen die Straßen­ränder gesäumt, um den US-Präsidenten John F. Kennedy zu grüßen. Wiederum in Berlin hat man zwischen den beiden Weltkriegen einem Mann gehuldigt, der sich danach als jedes Jubels unwürdig erwies. Und wenn wir mit einem großen Sprung zweitausend Jahre zurück­gehen, dann wird man in Rom dem siegreichen Feldherrn und späteren Kaiser Gajus Julius Cäsar nicht weniger Beifall gespendet haben.

Auch Jesus hatte seinen Triumphzug, wir haben eben davon gehört. Ich wäre gern dabei gewesen, ich hätte ihm damals gern zugejubelt. Von wem kann man Besseres erwarten als von ihm? Wer sollte sonst ein Helfer genannt werden wenn nicht er? Wer hätte so einen Empfang mehr verdient als er? Ja, ich wäre gern dabei gewesen, hätte mich gern eingereiht in die Volksmenge, hätte ihm gern zugewinkt und „Hosianna!“ gerufen. Ich möchte es jetzt wenigstens im Geist tun, und ich lade euch ein, mit­zukommen. Gehen wir also in Gedanken zurück zu jenem Sonntag fünf Tage vor dem bitteren Freitag…

Ich stehe vor einem Jerusalemer Stadttor. Hier mündet die Straße von Betfage in die große Stadt. Es herrscht geschäftiges Treiben. Einige Leute stehen in Gruppen zusammen und unterhalten sich. In einer Gruppe wird folgendes gesagt: „Habt ihr schon gehört? Jesus soll heute kommen!“ – „Jesus? Der Wundertäter aus Nazareth?“ – „Ja, genau der!“ – „Ein toller Mann! Ich habe gehört, dass er schon viele Kranke gesund gemacht hat.“ – „Ich habe ihn sogar schon mal gesehen! Und wie der predigen kann! Nicht so wie unsere Schrift­gelehrten, sondern so direkt von Gott her.“ Ich mische mich in das Gespräch ein: „Stimmt. Jesus wird hier bald vorbei­kommen. Ich warte auf ihn. Ich will ihn nämlich begrüßen.“ Ein Jude mit grauem Bart, fragt mich: „Bist du einer von denen, die denken, dass er der von Gott ver­sprochene Erlöser ist?“ Ich antworte: „Davon bin ich überzeugt. Er ist der Davidssohn, den die Propheten angekündigt haben. Ja mehr noch, er ist Gottes Sohn. In ihm ist Gott selbst auf die Welt gekommen.“

Unser Gespräch wird unter­brochen. Einige Kinder kommen angerannt und rufen: „Er kommt! Gleich ist er da!“ – „Wer, Jesus?“ – „Ja, mit seinen ganzen Jüngern! Er reitet auf einem jungen Esel, und das Muttertier ist auch dabei.“ Der Jude neben mir wundert sich: „Was, auf einem Esel? Kann sich denn so ein berühmter Wundermann nur einen Esel leisten?“ – Ich will gerade etwas Theo­logisches antworten, da fällt mir ein junger Mann ins Wort, der mit den Kindern gekommen ist: „Nicht mal das, der Esel ist nur geliehen. Sie haben ihn sich in Betfage ausgeborgt. Bis dahin sind sie alle zu Fuß gegangen.“ Der Jude wundert sich noch mehr: „Auf einem geliehenen Esel … Ich habe mir den Messias immer ganz anders vor­gestellt, auf einem feurigen Kampfross, wie er die Römer alle 'rauswirft, und mit einer mächtigen Karawane von Kamelen, ganz reich.“

Jetzt komme ich endlich zum Zuge und erkläre: „Der Messias muss doch auf einem Esel kommen, so hat es doch der Prophet Sacharja vorher­gesagt. ‚… arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin‘, hat er gesagt. Nichts da mit einer großen reichen Kamel-Karawane, er kommt arm, so will es Gott. Nichts da mit einem feurigen Kampfross, er kommt sanftmütig und fried­fertig, er will Frieden bringen, das ist Gottes Wille. Jeder gewöhnliche König und Feldherr kommt mit Rossen und Karawanen daher, das ist nichts Besonderes. Aber der König aller Könige, der kommt ganz anders, der kommt auf einem Esel, und daran erkennt man ihn.“

Inzwischen haben sich alle Köpfe zur Kurve hinten an der Straße hingedreht. Eine Staubwolke ist da zu sehen, und die ersten Leute einer großen Gruppe tauchen auf. Es sieht aus wie bei einer De­monstration, nur dass die Leute viel fröhlicher wirken. Einige singen auch. Plötzlich zieht der Jude neben mir sein Obergewand aus. „Ist dir zu heiß?“, frage ich ihn. „Nein, aber wir wollen doch unserm Erlöser wenigstens einen richtigen Empfang bereiten. Komm, mach mit, wir legen unsere Kleider auf die Straße, dann braucht er nicht in Staub und Dreck ein­zuziehen.“ Eine gute Idee, ich mache mit, und andere schließen sich an. Das ganze wird eine Art roter Teppich für den König, nur dass er nicht rot ist, sondern kunterbunt von all den ver­schiedenen Kleidern.

Eine Frau fragt: „Und was machen wir, wenn er da ist?“ – „Wir jubeln ihm zu!“, „Wir winken!“, tönt es von verschiedenen Seiten. Der junge Mann, der von dem Leih-Esel berichtet hat, sagt: „Aber lasst uns nicht einfach mit der Hand winken. Wir brauchen was Großes, Auf­fälliges!“ Kaum hat er das gesagt, ist er auch schon den Stamm einer etwa zehn Meter hohen Dattelpalme hoch­geklettert und schneidet mit einem Messer die großen Blätter aus dem Wipfel. „Da habt ihr was zum Winken“, ruft er herunter. Wir heben die Blätter auf und stellen uns zu beiden Seiten der Straße hin. So groß hatte ich mir die Palmen­zweige nie vor­gestellt; einige sind fast mannshoch. Da hat man wirklich was in der Hand zum Winken; es geht also auch ohne Papier­fähnchen.

Und dann kommt Jesus, reitend auf einem jungen Esel, daneben das Muttertier, und drum herum die Jünger. Da ist er, der Erlöser, der König, der Helfer, der mir alles Gute bringt, der mich von der Sünde und vom Tod erlöst. Ich freue mich ganz un­beschreib­lich, dass ich ihn nun sehen darf, dass ich ihm zuwinken und zujubeln darf. Und ich stimme ein in den Sprechchor der Menge: „Ho-si-an-na, ho-si-an-na!“ Das heißt übersetzt: Rette doch, Herr, hilf doch! „Hosianna dem Sohn Davids!“ Ja, er ist der ver­sprochene Davidssohn, der Zweig aus der Wurzel Isai, aus dem Königs­geschlecht David. Und doch ist er mehr, viel mehr: der Gottessohn, des „ewgen Vaters einig Kind“, der wahre Gott. Er kommt aus der Höhe; er kommt im Namen des Vaters, im Namen des Herrn. „Gelobet sei, der da kommt, im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ – Rette doch, Herr, hilf doch! Und ich weiß: Er wird es tun und hat es getan. Er heißt ja nicht umsonst „Jesus“, Retter, Erlöser, Helfer, Heiland.

Ja, er wird es tun – aber ganz anders, als meine Mitjubler es erwarten. Sie müssen erst einmal eine große Ent­täuschung erleben. Jesus wird nicht durch einen Volks­aufstand die Römer in die Flucht treiben. Nein, sein Erlösungs­werk ist anders, viel größer, viel um­fassender. Ja, diese Menge, in der ich nun jubelnd und winkend hinter Jesus herziehe, wird schon in fünf Tagen umgepolt sein, von den führenden Juden gegen Jesus aufgehetzt. „Kreuzige, kreuzige“ werden sie dann brüllen statt „Hosianna“. Ob der Jude mit dem grauen Bart dabei sein wird, oder der junge Mann, der die Palmzweige ab­geschnitten hat? Dann wird Jesus Hass statt Jubel ernten. Und dann wird scheinbar seine totale Niederlage folgen, in Wahrheit aber der grösste Sieg der Welt­geschichte. Da wird er den Teufel, die Sünde und den Tod besiegen – für den Juden mit dem grauen Bart, für den jungen Mann, für mich, für euch, für alle Menschen der Welt. Da wird er sich in Wahrheit als König erweisen – nicht nur als König der Juden, sondern als König über alle Könige und als Herr über alle Herren. Er wird auf­erstehen, in den Himmel fahren und zur Rechten seines Vaters ewig herrschen. Und alle, die an ihn glauben, alle, die ihm „Hosianna!“ zujubeln und von ihm Hilfe erwarten, die werden zu seinem Reich gehören. Hoffentlich ist auch der Jude mit dem grauen Bart dabei, wenn dann zu Pfingsten das Evangelium gepredigt wird, und der junge Mann, wenn durch die große Tauffeier dann die erste Gemeinde entsteht.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus, in dieser Weise denke ich oft an euch, an unsere ganze Gemeinde, an viele andere Menschen: Hoffentlich seid ihr dabei, hoffentlich bleibt ihr dabei, bleibt an dem Heiland und Herrn Jesus Christus im rechten Glauben. Hoffentlich bleibt ihr dabei, auch wenn er sich oft so ganz anders zeigt, als ihr meintet: arm, auf einem Esel reitend… Hoffentlich bleibt ihr dabei, auch wenn viele Menschen um euch herum umgepolt und aufgehetzt werden, ja, auch wenn viele um euch herum abfallen. Hoffentlich bleibt ihr dabei, wenn Jubel und Freude durch das Kreuz über­schattet werden, das in der Nachfolge Jesu nicht ausbleibt. Hoffentlich bleibt ihr an seinem Wort und Sakrament, auch wenn er unscheinbar verborgen in Brot und Wein kommt. Hoffentlich begrüßt ihr ihn mit dem lauten Jubel­gesang: „Hosianna in der Höhe!“ Und hoffentlich sind wir alle dabei, wenn wir ihm dann einst wirklich in der großen Menge zujubeln dürfen, mit Palmzweigen in den Händen, in Jerusalem, im himmlischen Jerusalem, so, wie es Johannes geschaut und in der Offenbarung auf­geschrieben hat. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1990.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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