Umkehr ist nötig, Umkehr ist möglich

Predigt über Jesaja 1,10‑20 zum Buß- und Bettag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Lasst uns einmal annehmen, es gäbe heute noch Propheten wie Jesaja. Lasst uns annehmen, es gäbe heute noch Männer, die, vom Heiligen Geist getrieben, direkt Gottes Kommentar zu den Er­scheinungen unserer Zeit weitergeben würden. Nehmen wir weiter an, einer solcher Gottes­männer hätte heute vor unserer Kirche gestanden und Flugblätter verteilt. Jeder von uns hätte sich so einen Zettel genommen und vor dem Gottes­dienst durch­gelesen – mit zunehmendem Entsetzen! Ihr hättet gelesen:

In Gottes Namen: Stoppt den Heuchel-Gottes­dienst! Aufgepasst, ihr Herren von Auschwitz, ihr Volk von St.-Pauli! Was soll denn das, eure endlosen Choräle und Liturgien, euer Singen und Reden im Gottes­dienst? So spricht Gott der Herr: Ich hab euren Singsang und das Plärren eurer Orgel satt. Mir gefällt euer Posaunen-Gequake und euer andächtiges Getue nicht. Warum kommt ihr überhaupt hierher in mein Haus und nutzt die Teppiche ab? Die Kollekte könnt ihr auch gleich für euch behalten, das ist ein ver­gebliches Opfer. Euer Sonntags-Gefeiere ist mir ein Gräuel! Und wenn ihr eure Hände faltet, meint nicht, dass ich dann hinhöre, was ihr sagt. Auch wenn ihr noch so viel und noch so lange betet, das beeindruckt mich überhaupt nicht. Denn (so endet das Flugblatt) ihr seid Sünder!

Dieses Flugblatt würde uns schockie­ren, nicht wahr? Und wir würden erhebliche Zweifel haben, ob das wirklich Gottes Geist ist, der daraus spricht. Und doch: Ganz ähnlich hat Gott durch den Propheten Jesaja zu den Juden geredet, die zu seiner Zeit im Jerusalemer Tempel ihre Gottes­dienste begingen. Die werden damals nicht minder schockiert gewesen sein. Was ich eben als erfundenes Flugblatt vorgelesen habe, das ist bei geringen Anpassungen an die Gegenwart der Text, den wir vorhin aus dem Jesajabuch gehört haben. „Höret des Herrn Wort, ihr Herren von Sodom! Nimm zu Ohren die Weisung unseres Gottes, du Volk von Gomorra“, so predigte Jesaja und deutete bereits mit dieser Anrede an, was Gott ihnen vorzuwerfen hatte: nämlich dass sich in diesem Volk Unrecht, Unzucht, Mord und Aus­schweifung aus­gebreitet haben. Von Frevel ist da die Rede, und die Anklage gipfelt in dem Satz: „Eure Hände sind voll Blut.“

Ja, es mag uns schockie­ren, dass Gott so hart urteilte. Und doch kann ich ihn gut verstehen. Was musste er empfinden, wenn Sünder in seinen Tempel kamen, Opfer darbrachten und beteten – Sünder, die gleich darauf wieder in ihrem Alltag Unrecht taten, Schwache unter­drückten, bestechlich waren, des Nächsten Leben nicht achteten? Es musste ihm ähnlich zumute gewesen sein wie einer Ehefrau, die von ihrem Mann zwar immer wieder großzügig beschenkt wird, die aber genau weiß: Er betrügt mich. Da kann der Mann dann noch so viele Blumen­sträuße kaufen und noch so viele Pralinen­schachteln an­schleppen, sie weiß dabei: Das ist alles nur Heuchelei; in Wirklich­keit liebt er eine andere. Die Pralinen wird sie zum Kotzen finden, auch die Blumen werden ihr nicht gefallen, sie wird sie ihm vielleicht eines Tages voller Wut um die Ohren hauen.

Ja, ich kann es verstehen, dass Gott damals so hart zu den Juden redete. Aber mich lässt auch die Frage nicht los: Hätte Gott heute bei uns nicht ebenfalls Grund, so zu handeln? Würde er uns heute so ein Flugblatt zumuten, wie ich es mir vorgestellt habe, wenn er denn auf diese Weise mit uns reden wollte? Hätten wir das verdient? Sieht es bei uns nicht viel besser aus als damals in Israel? Oder wenigstens ein bisschen besser? Mir geht es da wahrschein­lich ebenso wie euch; im Stillen hoffe ich: Na, so schlimm sind wir ja gar nicht.

Wir werden die Frage, ob wir so ein Flugblatt verdient haben, nicht leicht beantworten können. Es geht auch gar nicht darum, dass wir uns mit dem damaligen Volk Israel ver­gleichen. Aber in jedem Fall will uns dieses Gotteswort auch heute noch dazu bringen, dass wir in uns gehen und fragen, ob wir es denn mit unserem Leben Gott recht machen. Ob wir gerecht, zuchtvoll, liebevoll und maßvoll leben. Ob unser Alltags­leben zur Sonntags­frömmigkeit passt oder ob es da nicht auch manche Heuchelei gibt, wie Kritiker der Kirche immer wieder zu erkennen meinen.

Lasst uns da heute einmal gar nicht so sehr auf den Einzelnen und seine Sünde blicken, sondern vielmehr auf unser ganzes Volk. Gott redete damals auch das ganze Volk an und seine führenden Köpfe: „Ihr Herren von Sodom, ihr Volk von Gomorra!“ Der Buß- und Bettag ist seinerzeit für den Zweck erfunden worden, dass sich an einem bestimmten Tag des Jahres das ganze Volk in Reue unter Gott beugt und ihn um Gnade anfleht sowie auch um un­verdienten Frieden. Jeder Einzelne von uns gehört zum Volk, und besonders in einer Demokratie ist jeder Einzelne auch mit ver­antwortlich für den Weg des ganzen Volkes. Wo es in unserem Volk Missstände und Sünde gibt, können wir es nur bedingt von uns wegschieben als Sache der anderen, mit der wir nichts zu tun haben.

Wo liegt denn aber nun die Schuld unseres Volkes? „Eure Hände sind voll Blut“, lesen wir bei Jesaja. Man ist geneigt, an die zurück­liegende Blutschuld zweier Weltkriege zu denken, aber dafür ist bereits schon viel Buße getan worden. Mir fallen da eher die vielen hundert­tausend Kinder ein, die im Mutterleib abgetötet werden: grausam abgetötet, abgesaugt, zerstückelt oder vergiftet. Das bleibt in unserem Land straffrei; manche halten es sogar für ihr Recht! War der Schwanger­schafts­abbruch nach dem Straf­gesetz­buch-Paragraphen 218 ur­sprünglich nur als Ausnahme in ganz extremen Notfällen gedacht, so sieht man heute wegen der freizügigen Definition von Notlagen eher einen Rechts­anspruch jeder Schwangeren darin. Wer tut etwas dafür, dass das Grundrecht auf Leben auch für die ungeborenen Menschen von Anfang an durch­gesetzt wird? Welche Partei tut etwas dafür? Informieren wir uns genug darüber? Ja, wir stecken mit drin in dieser Schuld unseres Volkes. Es sind ja teilweise auch unsere Steuer­gelder, von denen dieses Unrecht finanziert wird.

Ein anderes Unrecht sehe ich in unserem Volk durch ein stark ein­gegrenztes Asylrecht. Ich denke, wir haben viel zu wenig Ahnung davon, wie es in Ländern aussieht, aus denen echte Asyl­bewerber kommen. Für viele würde eine Rückkehr in die Heimat bedeuten, dass sie dort nur unter ständiger Lebens­gefahr weiterleben könnten. Werden wir an ihrem Tod nicht mit­schuldig, wenn wir ihnen bei uns kein neues Zuhause geben? Sind dann nicht auch unsere Hände voll Blut? Werden wird nicht schuldig, wenn wir Christsein mit Konservativ-Sein verwechseln und in dasselbe Horn stoßen wie diejenigen, die alle Ausländer am liebsten abschieben würden aus Deutschland und die das Misstrauen ihnen gegenüber ständig schüren? Werden wir nicht mit­schuldig, wenn wir nicht für alle echten Asyl­bewerber Partei ergreifen?

Liebe Brüder und Schwestern, ich bin mir gar nicht so sicher, ob Gott nicht Grund hätte, ganz ähnlich zu uns zu reden wie einst durch Jesaja zu den Juden. Aber wenn das so ist – ist dann unser Gottes­dienst wirklich so vergeblich, wie es in Jesajas Predigt heißt? Hat dann unser Singen und Beten und Opfern wirklich keinen Zweck mehr? Ist dann nichts mehr zu machen, ist dann Hopfen und Malz verloren?

„So kommt denn und lasst uns miteinander rechten“, spricht Gott der Herr. Er fordert uns heraus zur Gerichts­verhandlung. Bei der wird sich heraus­stellen, wer denn nun gerecht ist, wir oder er. Vor solchem Gericht müssen wir er­schrecken, denn wie groß oder klein auch unsere Sünde ist: Wir können nicht bestehen. Aber da fällt Gott ein Urteil, das mit einem Schlag die ganze Situation ändert. Alles wird neu, alles wird anders! Sein Urteil lautet: „Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden.“ Aus rot wird weiß, aus Sünde wird Gerechtig­keit. Ist das nicht eigentlich ungerecht? Nein, es ist gerecht. Es ist die Gerechtig­keit, die Jesus Christus für uns erworben hat, indem er unsere Strafe trug – sieben­hundert Jahre nach Jesaja. Aber Jesaja hat es schon voraus­gesehen durch den Heiligen Geist und bereits zu seiner Zeit gepredigt: Aus rot wird weiß, aus Sünde wird Gerechtig­keit. Der Sünder braucht nicht zu ver­zweifeln, der Sünder braucht nicht zu sterben. Umkehr ist möglich – durch Jesus Christus, durch Gottes Barmherzig­keit.

Darum lasst uns nun auch wirklich umkehren. Heute, jetzt, in diesem Gottes­dienst. Lasst uns Gottes Bußruf zu Herzen nehmen: „Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, lasst ab vom Bösen!“ Ja, das wollen wir tun. Weil Gott uns vergibt und neu annimmt, wollen wir fortan nach seinem Willen leben. Und wir wollen uns auch nach Kräften dafür einsetzen, dass Gottes Wille in unserem Volk geachtet wird. Wir wollen in der Öffentlich­keit unsern Mund aufmachen, besonders für die, die nicht selbst für sich reden können. Wir wollen Früchte der Buße hervor­bringen. Wir wollen aus der Kraft leben, die Gott uns durch Jesus Christus schenkt, durch seine Vergebung, durch sein Wort und Sakrament. Es wird uns nicht von heute auf morgen gelingen, alles zum Besten zu kehren, aber wir können anfangen. Wir können uns ins Gute einüben, Gutes lernen als Schüler, als Jünger Jesu. „Lernt Gutes tun, trachtet nach Recht, helft den Unter­drückten, schaffet den Waisen Recht, führet der Witwen Sache“, ruft Gott uns zu durch seinen Propheten. Ja, so soll unser Leben ab heute aussehen, ein Leben aus Liebe und Dank für Gottes Barmherzig­keit in Christus!

Solche Umkehr ist ent­scheidend für unser Leben. Wer nicht zur Umkehr bereit ist, dessen Gottes­dienst ist in der Tat ein ver­geblicher. Wer sich nicht ändern will, dessen Gottes­dienst ist geheuchelt wie einst bei den Juden im Tempel. Er denke nicht, dass Gott seine Gebete hört oder dass seine Loblieder Gott gefallen. Ihm gilt der Zuspruch der Sünden­vergebung nicht, und das Heilige Abendmahl isst er sich zum Gericht. Wer sich nicht ändern will, der ist auf dem Weg zur ewigen Verdammnis. „Weigert ihr euch und seid ungehorsam, so sollt ihr vom Schwert gefressen werden; denn der Mund des Herrn sagt es“, so endet Jesajas Predigt. Wer aber zu solcher Umkehr bereit ist, wer heute in un­geheuchelter Reue seine Sünde vor Gott bringt und die Vergebung empfängt, wer heute neu anfängt mit einem gott­gefälligen Leben, der hat eine wunderbare Zukunft vor sich. Der darf gewiss sein, dass Gott alle seine Gebete erhört wie ein lieber Vater die Bitten seiner lieben Kinder. Der darf gewiss sein, dass sein Lobopfer Gott wohl­gefällig ist. Der darf gewiss sein, dass Gottes Segen ihn begleitet. Der darf sich auf den Himmel freuen. Und der soll wissen, dass solcher Glaubens­gehorsam letztlich auch dem ganzen Land zugute kommt, wie Gott durch Jesaja sagte: „Wollt ihr mir gehorchen, so sollt ihr des Landes Gut genießen.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1990.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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