Gott geht weiter mit

Predigt über 2. Mose 34,4‑10 zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wir sind das Volk Israel. Hinter uns liegt die Sünde mit dem goldenen Kalb. Vor uns liegt der Weg durch die Wüste. Und wir sind hier in Gottes heiliger Gegenwart wie Mose auf dem Berg Sinai: Wir bitten Gott um Gnade und erfahren seine Liebe, seine Heiligkeit, seinen Bund, sein Treue­versprechen für den weiteren Weg.

Hinter uns liegt die Sünde mit dem goldenen Kalb. Die fremden Götter, denen wir vertrauten und dienten, sind noch frisch in Erinnerung. Für den einen ist die Familie das Wichtigste; darum dreht sich alles, darauf wird das ganze Leben ein­gestellt. Der andere hat an der Arbeits­stelle sein goldenes Kalb; Leistung, Erfolg, An­erkennung, Karriere und guter Verdienst sind sein Lebensziel. Der dritte vertraut den „Halb­göttern in Weiß“ mehr als Gott, den Ärzten; er erwartet alle Hilfe von ihnen, wenn er krank ist. Der vierte tanzt um das goldene Kalb Spaß und Unter­haltung: Fröhlich sein, Freude haben, Stimmung erleben, das ist für ihn ent­scheidend.

Aus solchem Alltag kommen wir, aus einem Alltag mit goldenen Kälbern, bei denen wir den lebendigen Gott vergaßen. Und nun sitzen wir hier in der Kirche, in Gottes Haus, in Gottes Heiligtum, in seiner heiligen Gegenwart. Wir haben zurück­gefunden von unseren goldenen Kälbern zum rechten Gottes­dienst. Äußerlich haben wir es leichter als Mose: Wir brauchten auf keinen Berg zu steigen, Gott hat sich noch tiefer geneigt als damals. Und innerlich? Ist uns unsere Sünde leid, wie Mose stell­vertretend die Sünde seiner Landsleute leid war? Neigt sich unser Herz in tiefer Ehrfurcht vor diesem großen Herrn, vor dem Mose eilends in die Knie ging? Ist es auch für uns die aller­wichtigste Sache, Gottes Namen anzurufen, ihn anzubeten, ihm die Ehre zu geben? Oder wollen wir nur ein bisschen Trost und Kraft für unseren Alltag mitnehmen? Oder vielleicht nicht einmal das?

Wir sind hier vor Gottes Angesicht gekommen. Was für ein Gott begegnet uns hier! Ein erhabener Gott. Ein wunderbarer Vater. Ein barm­herziger, gnädiger, geduldiger, treuer Gott – fürwahr, ein lieber Gott. Aber kein Gott mit Bonbon-süßer Liebe – nein, so nicht. Gottes Liebe ist anders, als dass er guten wie bösen Kindern süße Bonbons schenkt, und wenn er die nicht mehr schenkte, dann wäre er kein lieber Gott mehr. Gott ist in seiner Liebe un­ausforsch­lich. Er ist in seiner Liebe auch heilig und gerecht. Er kann zornig werden, strafen und heimzahlen, auch noch nach Gene­rationen. „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft lässt er niemand, sondern sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindes­kindern bis ins dritte und vierte Glied.“ Was für ein un­verständ­licher, was für ein rätsel­hafter, was für ein un­begreif­licher Gott! Er ist ein Gott voller Wider­sprüche, so scheint es, voller Ja und Nein.

Jawohl, wir begegnen hier einem ver­wirrenden Gott. Was sollen wir von ihm halten? Sollen wir seinen Zorn schnell vergessen und nur von der Liebe reden? Haben wir noch sein großes Straf­gericht zu erwarten für unsere goldenen Kälber – wir und unsere Kinder? Müssen wir zittern vor dem, was in Zukunft möglicher­weise auf uns wartet? Oder ist alles ungewiss? Haben wir nichts zum Festhalten, nichts zum Mitnehmen?

Gott ist Zorn und Liebe, Gott ist ja und nein. Gott straft und rächt und sucht heim. Gott vergibt und tröstet und heilt. Und doch ist er nicht launisch und wider­sprüchlich; Gott ist vielmehr treu und wahrhaftig, ewig und heilig. Mose weiß das und wagt darum zu bitten: „Hab ich, Herr, Gnade vor deinen Augen gefunden, so gehe der Herr in unserer Mitte. Auch wenn unser Volk halsstarrig ist: Vergib uns doch unsere Missetat und Sünde und lass uns dein Eigentum bleiben.“

Auch wir wollen so bitten und Gottes Gegenwart suchen. Und dann antwortet Gott uns. Er gibt uns die eine himmlische Antwort, die mit einem Schlag sein Ja mit dem Nein versöhnt. Er antwortet mit dem Wunder, das so göttlich ist, dass Menschen sich das nicht hätten ausdenken können. Er antwortet mit dem Wunder, das Propheten wie Mose vorausgesehen haben, das Gottes Volk seit alters glaubend voraus­ahnte, das Gott auch hier in diesem Wort ankündigte: „Ich will Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind in allen Landen und unter allen Völkern.“ Gott antwortet durch seinen Sohn Jesus Christus, mit dem Wunder des Kreuzes und dem Wunder der Auf­erstehung. Da zeigt sich Gottes Nein, Gottes Zorn, Gottes Strafe, Gottes Heimsuchung und Rache über alle Sünden der Welt, das ist das bittere Leiden und Sterben seines Sohnes. Und diese schreck­liche und und dunkle Seite Gottes wird um nichts ab­geschwächt dadurch, dass es seinen eigenen Sohn trifft, den Un­schuldigen. Aber gerade weil es ihn trifft und nicht uns, bleibt für uns, die wir an ihn glauben, die helle Seite: Gotes Ja, Gottes Vergebung, Gottes Liebe, Gottes Gegenwart – sowie die Zusage, dass er ewig in unserer Mitte sein wird und dass wir sein Eigentum bleiben dürfen. Gottes Zorn und Gottes Liebe, Gottes Ja und Gottes Nein sind versöhnt im Kreuz – für alle, die glauben.

Was liegt vor uns? Die Wüste liegt vor uns. Wir sind noch nicht in Kanaan, im gelobten Land, wo Milch und Honig fließen. Wir sind noch nicht über den Jordan gegangen; wir schauen noch nicht, was Gott versprochen hat. Aber worauf es ankommt, das haben wir schon hier in der Wüste. Mose bat auf dem Berg nicht um Fleisch und Brot und Trank die Fülle, nicht um Ruhe und ein angenehmes Leben. Nur dies erbat er: „Der Herr gehe in unserer Mitte“, und: „Vergib uns unsere Sünde“, und: „Lass uns dein Erbbesitz sein.“ Mose erbat nicht viel, aber er erbat das Beste, das Entscheidende, und dies wurde ihm von Gott gewährt, denn er erneuerte seinen Bund an diesem Tag. Auch wir wollen nicht das Paradies erbitten in der Wüste, die vor uns liegt. Wir wollen uns einfach darüber freuen, dass Gott uns dies wenige Wichtige und Wertvolle schenkt: dass er in unserer Mitte ist, dass er vergibt, dass wir sein Erbbesitz und Eigentum sein dürfen.

Die Wüste liegt vor uns mit all ihrer Schönheit, all ihren Gefahren, all ihren Schrecken, all ihren Strapazen. Aber Gott geht weiter mit, und wir gehören zu ihm, wir sind sein Volk. Und so erleben wir unterwegs seine Gegenwart. Wir erleben das Ja und das Nein des erhabenen Gottes. Es ist ein großes Ja und ein kleines Nein. Das große Ja hat Gott durch seinen Sohn zu uns gesprochen, der das große Nein für uns getragen hat. Bleibt fortan für uns nur noch das kleine Nein hier in der Wüste. Dieses kleine Nein sind die Leiden, die zeitlich und leicht sind im Vergleich zur ewigen Herrlich­keit, die auf uns wartet. Dieses kleine Nein ist der Tod als un­heimlicher Gang durch die Fluten des Jordans hinüber ins gelobte Land. Dieses kleine Nein sind Krank­heiten, Sorgen, Schmerzen und Ent­täuschungen. Das kleine Nein erinnert uns daran, dass wir noch nicht am Ziel sind. Das kleine Nein treibt uns wie der Stachel an den Sporen des Reiters an, falsche Wege zu verlassen und den rechten Weg zu suchen. Das kleine Nein ist Gottes liebvolle, väterliche Erziehung: Gott lässt niemanden ungestraft, sondern er sucht die Missetat der Väter heim an Kindern und Kindes­kindern bis ins dritte und vierte Glied, bis in die dritte und vierte Generation. Ja, Väter und Söhne, Mütter und Töchter sollen gleicher­maßen spüren, welcher Fluch auf der Sünde liegt, dass sie nur ja davor fliehen in die Arme des Gottes­sohnes: in seine aus­gebreiteten Arme, in die am Kreuz aus­gebreiteten Arme. Aber die Gnade bewahrt Gott Tausenden – tausend Gene­rationen, in Ewigkeit. Das Ja der Gnade ist tausendmal größer als das Nein des Leides, das aus der Sünde fließt.

So lasst uns denn gemeinsam weiter­ziehen durch die Wüste, hin zum gelobten Land. Wer nicht mitzieht, wird nicht ankommen, sondern in der Wüste zugrunde gehen. Wer im Glauben mitzieht, dem ist zunächst auch kein leichtes Leben beschieden. Aber wir können gewiss sein, dass Gott weiter mitzieht, dass er vergibt, und dass wir sein Eigentum bleiben – um einst anzukommen an dem herrlichen Ziel, wohin uns Mose und die Heiligen unter den Israeliten voran­gezogen sind. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1990.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum