Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hatte in der Woche vor der endgültigen Wiedervereinigung Deutschlands die folgende Karikatur auf seiner Titelseite: Zwei Deutsche stehen sich gegenüber, der eine aus dem Westen, der andere aus dem Osten. Sie blicken sich irritiert an. Beide tragen einen schwarz-rot-goldenen Schlips. Ihre Schlipse sind in der Mitte zusammengeknotet. Überschrift: „Vereinigte Fremde“. Damit kam zum Ausdruck, dass sich die Deutschen in Ost und West bei der Wiedervereinigung immer noch mehr oder weniger fremd sind. Das ist bis heute so geblieben. Darum bleibt für alle die Aufgabe bestehen, aufeinander zuzugehen und die geschenkte Einheit auch zu leben. Ja, aus der geschenkten Einigkeit ergibt sich die geforderte Einigkeit – die Einigkeit, die sich im Zusammenleben bewähren muss. Einigkeit geht nicht von selbst einher mit Recht und Freiheit, sondern das vereinigte Volk muss schon etwas dafür tun. Man könnte sagen: Wir sind vereinigt, also leben wir auch so! Oder noch kürzer: Deutschland, werde, was du bist!
Was für das wiedervereinigte Deutschland gilt, das gilt entsprechend für die Kirche Jesu Christi. Die Christenheit auf Erden bildet eine Einheit. Diese Einheit ist ihr von Gott geschenkt worden, und wir bekennen sie Sonntag für Sonntag im Glaubensbekenntnis mit den Worten: „Ich glaube an die eine heilige christliche Kirche, die Gemeinde der Heiligen.“ In unserem Predigttext im Epheserbrief beschreibt Paulus mit gewaltigen Worten die Grundlage dieser geschenkten Einheit: „Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung; ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.“ Diese geschenkte Einheit fordert uns Christen aber zugleich heraus, dieselbe zu bewahren, zu leben, im Umgang miteinander zu verwirklichen, wie Paulus auch schreibt: „Seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens.“ Ja, hier wird Einigkeit gefordert von der christlichen Kirche und Gemeinde, der die Einheit zuvor geschenkt worden ist. Auch hier können wir kurz zusammenfassen: Christenheit, werde, was du bist!
Um dieser Aufforderung nachzukommen, wollen wir zunächst betrachten, was das denn für eine Einheit ist, die wir da geschenkt bekommen haben. Paulus nennt sieben Dinge als Grundlage dieser Einheit und setzt jedesmal betont das Zahlwort eins davor: ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott. Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit: Sieben Tage ergeben eine Woche, das hat Gott seit der Erschaffung der Welt so geordnet. Sieben Sachen ergeben eine vollendete Sache. Sieben Eckpfeiler der christlichen Einheit stützen und tragen dieselbe felsenfest.
Ein Leib sind wir. Gemeint ist der Leib Christi, die Kirche. Dieser Leib hat verschiedene Glieder, denn wir Christen sind ganz verschiedene Leute nach Aussehen, Charaktereigenschaften und Lebensweg. Das ist aber kein Widerspruch dazu, dass wir zusammen einen einheitlichen Leib bilden. Deshalb reden wir ja auch von Gemeinde-Gliedern. Diese Einheit ist auch keine selbst gesuchte; sie ist kein Zweckverband und keine Interessengemeinschaft wie bei einem Verein, sondern sie ist, wie gesagt, geschenkte Einheit – von Gott geschenkt. Jesus hat uns zu Gliedern an seinem Leib gemacht, und nur weil wir an Jesus hängen, darum hängen wir auch untereinander zusammen. Diese Einheit ist stabiler als jede menschliche Gemeinschaft, denn auch der Tod kann den Leib Christi nicht zerreißen, sondern er führt ihn zur vollendeten Einheit im Himmel.
In diesem einen Leib der Kirche herrscht ein Geist: Gottes Geist, der Heilige Geist. Einen Geist hat Gott uns geschenkt, der uns alle einmütig erkennen lässt: Jesus Christus ist unser Herr. Der hat uns verlorene Menschen erlöst und mit dem Vater versöhnt.
Dieser eine Geist weckt und nährt in uns ein und dieselbe Hoffnung. Es ist nicht eine vage Hoffnung, wie wir oft menschlich von der Hoffnung reden. Es ist nicht nur ein Hoffnungsschimmer, mit dem man sich über trübe Zeiten hinwegtröstet. Diese eine christliche Hoffnung ist vielmehr eine helle, strahlende, gewisse Hoffnung, eine fröhliche Zuversicht. Ja, eine Hoffnung hat uns Gott geschenkt, hat sie mit seinen großen Verheißungen fest und unverbrüchlich begründet: die Hoffnung, dass uns nichts, aber auch gar nichts von seiner Liebe trennen kann, nicht einmal der Tod. Es ist die Hoffnung, dass wir im letzten Gericht nicht verurteilt werden, sondern um Christi willen die ewige Seligkeit im Himmel erlangen werden.
Ja, ein Herr ist es, dem wir diese Hoffnung zu verdanken haben – ein Herr, der das Haupt des einen Leibes ist: Jesus Christus. Er ist der gute Hirte, der sein Leben gelassen hat für die Schafe. Wir waren wie verirrte Schafe durch unsere Sünde; jeder sah nur seinen eigenen Weg; wir gingen alle in die Irre. Wir waren zertrennt und isoliert durch unseren Egoismus, unsere Angst, unsere Selbstgerechtigkeit. Aber der eine Hirte hat durch sein Leiden und Sterben am Kreuz uns verlorene Schafe zurückgebracht und zu einer einzigen Herde versammelt – der eine Herr. Wie dankbar können wir ihm dafür sein! Im Heiligen Abendmahl dürfen wir das besonders erfahren, dass wir mit ihm eins werden, wenn er mit seinem Leib und Blut in uns eingeht. Wir empfinden dabei auch die Einigkeit als seine Herde, sein Leib.
Ein Glaube ist es auch, der uns vereint. Der Glaube ist ja das, was uns mit dem einen Herrn verbindet. Unter diesem Glauben verstehen wir nicht das, was jeder einzelne sich unter Gott und Jesus Christus vorstellt – so, wie man es manchmal hört: Ich habe meinen Glauben!, und wo dann zwischen den Zeilen herauszuhören ist: Ich will mich nicht anders belehren lassen. Es geht gar nicht um „meinen“ privaten Glauben, sondern um den einen Glauben. Es geht um das, was Christus selbst gelehrt hat, was auch seine Apostel gepredigt haben und was uns in der Bibel überliefert ist. Ja, die Lehre der Heiligen Schrift ist der eine Maßstab und die eine Richtschnur für die Einheit unseres Glaubens.
Eine Taufe nennt Paulus noch. Sie ist der einzige Zugang zur Christenheit, zum Leib Christi. Mit unserer Taufe sind wir in Christus hineingetauft worden, haben Christus angezogen, sind mit ihm gestorben und auferstanden, so sagt es die Bibel. Kurz: in der Taufe hat Gott jedem einzelnen von uns geschenkt, dass wir zur Einheit seines Volks dazugehören dürfen.
Und schließlich schreibt Paulus als abschließenden Höhepunkt: „Ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle und in allen.“ Ja, Gott, der über allem steht, ist in sich selbst eins. Er bildet in sich selbst eine Einheit und stellt damit zugleich das Vorbild für die Einheit der Christen dar. Dabei ist auch seine Einheit keine Gleichförmigkeit, denn er ist ja der drei-eine Gott – Vater, Sohn und Geist: Er steht über allen Gliedern der Kirche in der Person des Vaters; er ist wirksam durch alle in Jesus Christus; er lebt in allen durch den Heiligen Geist.
Es ist ganz wichtig, liebe Gemeinde, dass wir diese geschenkte Einheit nie vergessen. Aber es ergibt sich daraus die geforderte Einheit: „Seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens.“ Da haben wir viel zu tun. Denn die geschenkte Einheit der Christen ist ja oft und an vielen Orten verdunkelt durch offenbare Uneinigkeit. Die geforderte Einigkeit bringen wir freilich nicht von uns selbst aus zuwege; da nützen auch Kirchenordnungen und alle ökumenischen Anstrengungen nichts. Sei es, dass wir es mit hierarchischen Strukturen versuchen, wobei einigen wenigen an der Spitze der Kirche gehorcht werden muss; sei es, dass wir es demokratisch probieren, dass die Mehrheit immer recht haben soll – die Einigkeit des Geistes erreichen wir so nicht, sondern es sind bestenfalls menschliche Hilfen zur Entscheidungsfindung. Nein, auch die geforderte Einheit muss uns letztlich geschenkt werden. Denn das „Band des Friedens“, das sie festigt, besteht im Frieden Jesu Christi. Dieser Friede kommt daher, dass Christus uns mit dem himmlischen Vater und dadurch untereinander versöhnt hat. Der geforderten Einheit kommen wir nur dann näher, wenn wir immer wieder um sie beten und wenn wir uns daran erinnern: Wir kommen doch alle von der Taufe her; wir haben doch den einen Glauben, der in der Bibel bezeugt ist; und wir haben doch alle nur eine Hoffnung, wir wollen doch alle letztlich nur das Eine, nämlich selig werden.
Wenn wir das nicht außer acht lassen, bin ich zuversichtlich, dass die Einheit auch deutlich wird – vor Ort in unserer Gemeinde ebenso wie in der ganzen Christenheit.
In der Gemeinde freue ich mich darüber, wie einmütig wir doch meistens in der Gemeindeversammlung oder auch im Kirchenvorstand zu Beschlüssen finden. Natürlich wird hier und da immer mal wieder dagegen geredet, vor allem in privaten Gesprächen; dazu verleitet uns unsere menschliche Schwachheit. Aber ich meine, mit Gottes Hilfe kann auch das besser werden, wenn wir uns nur immer wieder auf die geschenkte Einheit besinnen.
In der gesamten Christenheit, also in der Ökumene, macht uns die offensichtliche Zerrissenheit besonders Not, widerspricht sie doch ganz augenfällig der geforderten Einheit. Wir sollten uns nicht selbstzufrieden in unsere Kirche zurückziehen und das Nebeneinander der Konfessionen als etwas ganz Normales hinnehmen. Nein, es handelt sich hier um tiefe Wunden am Leib Christi. Freilich müssen wir ganz genau wissen, was der Heilung dieser Wunden dient und was nicht. Dienlich ist nicht ein äußerliches, oberflächliches Miteinander bei verschiedenen Lehren. Dienlich kann nur sein, dass wir uns auf die Grundlagen der Einheit zurückbesinnen: auf den einen Herrn, die eine Hoffnung (nämlich die himmlische), den einen Glauben (nämlich die Lehre der Heiligen Schrift) – ohne Abstriche und ohne Zusätze. Die Einheit mit denen, die auf dieser Grundlage stehen, sollen wir suchen und fördern. Von den anderen aber sollen wir uns klar distanzieren, weil sie der Einheit schaden und sie letztlich zerstören.
Christenheit – werde was du bist! Gott hat dir eine wunderbare Einheit geschenkt. Halte sie fest, bewahre sie, fördere sie! Amen.
PREDIGTKASTEN |