Christen leben draußen vor dem Lager

Predigt über Hebräer 13,10‑14 zum Sonntag Judika

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ein Bürger unseres Landes kann mehrere Wohnsitze haben, aber nur einen ersten Wohnsitz. Und ebenso, wie unser Leib nur einen ersten Wohnsitz hat, kann auch unsere Seele nur einen „ersten Wohnsitz“ haben (um es mal in diesem Bild aus­zudrücken). Wo aber ist der Wohnsitz für die Christen­seele? Wenn wir den Abschnitt aus Gottes Wort befragen, den wir eben gehört haben, so lautet die Antwort: draußen vor dem Lager! Diese Antwort bleibt allerdings un­verständ­lich und geheimnis­voll, solange wir nicht den Zusammen­hang kennen, in dem sie steht. Lasst uns also zunächst über diesen Zusammen­hang nachdenken.

Der Hebräer­brief wendet sich an Christen, die mit dem Alten Testament vertraut sind. Er setzt voraus, dass sie die Begriffe „Lager“ und „Stifts­hütte“ kennen. Mit „Lager“ ist die Zeltstadt gemeint, in der das Volk Israel während seiner vierzig­jährigen Wüsten­wanderung lebte. Die Stiftshütte ist das Heiligtum in dieser Zeltstadt gewesen, ein transpor­tabler Tempel. Unter anderem gab es hier einen Brand­opfer­altar. An diesem Altar wurden Opfertiere ge­schlachtet. Ihr Blut wurde in Schüsseln auf­gefangen, vom Hohen­priester in den heiligsten Raum der Stiftshütte gebracht und dort versprengt. Das geschah einmal im Jahr am großen Versöhnungs­tag. So hatte Gott es für die Zeit des Alten Testaments angeordnet, und er hatte verheißen, dass durch das Blut der Opfertiere Israels Sünden vergeben werden. Einige ausgewählte Teile der Opfertiere wurden dann auf dem Brand­opfer­altar dar­gebracht, einige Stücke durften die Priester verzehren. Die minder­wertigen Teile, wie zum Beispiel die Eingeweide, wurden aus der Zeltstadt heraus­gebracht und außerhalb des Lagers verbrannt. Solche Tierkadaver galten als unrein; sie hatten nichts zu suchen in Gottes heiliger Hütte und in Gottes heiligem Volk.

Dies alles setzt der Hebräer­brief bei seinen Lesern voraus, wenn es heißt: „Die Leiber der Tiere, deren Blut durch den Hohen­priester als Sündopfer in das Heilige getragen wird, werden außerhalb des Lagers verbrannt.“ Dann macht der Hebräer­brief einen großen zeitlichen Sprung in die Erdentage Jesu, genauer: zum Karfreitag. Da gab es zwar keine Stiftshütte mehr, aber der Tempel hatte ihre Funktion übernommen. Auch ein Wüstenlager gab es nicht mehr, aber die Stadt Jerusalem hatte seine Stelle eingenommen als Wohnort der Juden, in dessen Mitte der Tempel stand. Und die Opfer des Alten Testaments wurden noch genauso dargebracht wie zur Zeit der Wüsten­wanderung.

Nun zieht der Hebräer­brief einen kühnen Vergleich: Ebenso wie die Kadaver der Opfertiere aus dem Lager heraus­geworfen wurden als unreiner und un­erwünsch­ter Abfall, so wurde Jesus aus den Mauern der Stadt Jerusalem heraus­getrieben als ungerechter und un­erwünsch­ter Mann, vom jüdischen Hohen Rat für schuldig befunden, von Pontius Pilatus verurteilt – heraus auf den Hügel Golgatha, um dort wie ein Schwer­verbrecher hin­gerichtet zu werden. Gerade mit ihm aber hat Gott ein neues Opfer gestiftet und einen neuen Bund, heiliger und herrlicher als der alte: Durch dieses eine Opfer auf Golgatha sind alle Sünden der Menschheit getilgt; es braucht niemals zu wiederholt werden. Ja, draußen vor dem Lager, außerhalb des Tempels, vor den Toren Jerusalems wurde dieses Opfer dar­gebracht, und Gott zeigte dadurch: Der alte Bund mit seinen Tieropfern, seinem Tempel­dienst und seinen Reinheits­vorschrif­ten hat nun ein Ende. Durch Christus ist etwas ganz Neues gekommen, etwas viel Besseres. Darum hatte Jesus schon vorher die Händler der Opfertiere aus dem Tempel hinaus­geworfen. Er hatte damit deutlich gemacht: „Weil ich komme, ist jetzt Schluss mit der Opferei!“ Die führenden Juden hatten ihn deswegen gehasst und wollten ihn am Kreuz los werden wie einen lästigen Tier­kadaver. Stattdessen erfüllten sie nur das Psalmwort: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden“, zum wichtigsten Stein (Ps. 118,22). Gott selbst zeigte am Karfreitag auf dem Hügel Golgatha, außerhalb Jerusalems und des Tempels: Hier gibt es Vergebung der Sünden und ewiges Leben, hier ist das Reich Gottes, hier ist der rechte Wohnsitz für jede Seele, die mich sucht. Hier allein, nicht mehr in der Stadt und im Tempel, denn der vorläufige Opferdienst des alten Bundes hat nun ein Ende.

Warum verwendet der Hebräer­brief gerade diesen Vergleich? Nun, die Schluss­folgerung ist ja aus­drücklich genannt: „Lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach teilen.“ Die Christen der damaligen Zeit, besonders die Juden­christen, sollten sich darüber klar werden: Jetzt, wo wir Christus haben, hat der alte jüdische Opferdienst des Tempels keinerlei Bedeutung mehr für uns. Mit Christus hat der neue Bund angefangen, etwas ganz Neues. Das Christentum ist kein weiter­entwickel­tes Judentum, auch keine Reformation des Judentums. Und darum kann man auch nicht mit einem Bein im Judentum stehen­bleiben und mit dem anderen Bein sich auf Christus stellen. Man kann nur mit beiden Beinen entweder innerhalb oder außerhalb des Lagers stehen. Christen stehen draußen – da, wo das Opfer Christi ist, das sie rein macht. „Wir haben eine Altar, von dem zu essen kein Recht haben, die der Stiftshütte dienen“, heißt es klar. Natürlich haben sich die Christen auf diese Weise unbeliebt gemacht bei vielen Juden, sind auf Un­verständnis gestoßen, ja sogar auf Hass und Verfolgung. Aber davon sollten sie sich nicht beirren lassen, sondern klar Position beziehen, wo sie hingehören: „Lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.“

Liebe Gemeinde, nun ist das ja heute nicht mehr unser Problem. Wir stehen nicht in der Gefahr, uns an alt­testament­liche Opfer­gesetze zu klammern, und uns wird von seiten des Judentums auch keine Schmach mehr angetan. Aber die Standort­bestimmung des Hebräer­briefs gilt auch heute noch für uns: Der Wohnsitz unserer Seele liegt außerhalb des Lagers, dort, wo das Kreuz Jesu Christi steht, dort, wo sein Blut geflossen ist zur Vergebung unserer Sünden.

Wenn wir damit ernst machen, wenn wir diesen Glauben bekennen, dann sind allerdings auch wir in gewisser Hinsicht „außen vor“. Die Christen in Palästina bildeten damals eine ver­schwindend kleine Minderheit unter den Juden. Wir Christen, die wir es nicht nur dem Namen nach sind, bilden heute ebenfalls eine Minderheit gegenüber einer allgemeinen Volks­meinung und Volks­religion. Ja, wenn wir wirklich zu Christus hinausgehen und am Stamm seines Kreuzes unseren geistlichen Wohnsitz haben, dann befinden wir uns in vielfacher Hinsicht außerhalb des Lagers der allgemeinen Meinung, die uns umgibt. Wir müssen deswegen auch mit Nachteilen rechnen, mit Un­verständ­nis, Spott und „Schmach“ um Christi willen.

Ich möchte anhand einiger Beispiele ver­deutlichen, was es für uns heute bedeutet, außerhalb des Lagers zu leben. Der Volksmund „innerhalb des Lagers“ sagt zum Beispiel: Im Grund seines Herzens ist der Mensch gut. Da sind wir außen vor, denn durch Gottes Wort wissen wir: Im Grunde seines Herzens ist der Mensch schlecht, von der Erbsünde vergiftet, dem Teufel verfallen; nur Jesus kann ihn aus diesem Sumpf heraus­ziehen. Im Lager hält man diese Außenseiter­position für unrein und nicht ge­sellschafts­fähig; man hält uns für fanatisch oder weltfremd. Diese Schmach wollen wir aber gern mit Christus tragen. Innerhalb des Lagers sagt man auch: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Da sind wir außen vor, denn durch Gottes Wort wissen wir: Wir können uns gar nicht selbst helfen; „mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren.“ Christus muss alles recht machen für Zeit und Ewigkeit, und er will es auch tun, wir brauchen ihn nur darum zu bitten. Im Lager hält man das für unrein, nicht ge­sellschafts­fähig, hält uns für un­realistisch und blauäugig. Diese Schmach wollen wir aber gern mit Christus tragen. Innerhalb des Lagers sagt man: Wer niemals einen Rausch gehabt, der ist kein rechter Mann. Da sind wir außen vor, denn durch Gottes Wort wissen wir: Unser Leib ist ein Tempel des Heiligen Geistes, geheiligt durch das Blut Christi. Diesen Tempel sollen wir nicht durch Fressen und Saufen ent­heiligen. Im Lager gilt das als unrein, als nicht ge­sellschafts­fähig, und wer überhaupt keinen Alkohol trinkt, wird oft schief angesehen. Diese Schmach wollen wir aber gern mit Christus tragen. Innerhalb des Lagers sagt man: Ich gehe zur Kirche, wenn ich das Bedürfnis dazu habe! Da sind wir außen vor, denn durch Gottes Wort wissen wir: Gott hat den siebenten Tag geheiligt, damit wir uns an ihm mit seinem Wort be­schäftigen und uns mit der Gemeinde an seinem Altar versammeln. Wir hören nicht auf unser Bedürfnis, sondern auf Christi Einladung und Gebot. Im Lager hält man das für unrein, nicht ge­sellschafts­fähig, meint, wir übertreiben oder wollten unsere Frömmigkeit schein­heilig zur Schau stellen. Auch ist man im Lager dabei, die Heiligkeit des Sonntags zu unter­graben, indem man immer mehr Ver­anstaltun­gen am Sonntag­vormittag ansetzt, auch sonntags Läden öffnet oder Arbeits­schichten einführt, auf die man ebensogut verzichten könnte. Diese Schmach wollen wir aber gern mit Christus tragen. Innerhalb des Lagers sagt man: Hauptsache gesund! Hauptsache eine saubere Umwelt! Da sind wir außen vor. Wir finden Gesundheit und Umwelt­schutz zwar auch wichtig, kennen aber eine andere Hauptsache, die noch viel wichtiger ist: das Heil der Seele, das ewige Leben. Und das finden wir nur in der Nachfolge Jesu, im Glauben an das Gotteslamm Jesus Christus, das für uns ge­schlachtet ist – draußen vor dem Lager. Im Lager schweigt man beim Thema „ewiges Leben“, denn es herrscht dort eine große Un­sicherheit, ob nach dem leiblichen Tod überhaupt noch was kommt; man klammert sich an dieses Leben hier und an diese Welt, als wäre es das Einzige.

Liebe Gemeinde, wir wollen uns nicht beirren lassen durch die Meinungen, die im Lager herrschen. Wir wollen festhalten an Gottes Wort und an unserem Herrn Jesus Christus, auch wenn das heute die meisten nicht verstehen können, auch wenn wir damit außen vor sind. Unsere Seele kann nicht halb im Zeitgeist und halb bei Christus wohnen, sie kann nur einen Haupt­wohnsitz haben. Darum gilt die Mahnung des Hebräer­briefes auch uns heute, und immer wieder: „Lasst uns zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Ja, liebe Gemeinde: Allein der Platz vor dem Lager hat Zukunft, die zukünftige Stadt, das himmlische Jerusalem, der herrliche zukünftige Wohnsitz unserer Seele! Allein der Platz am Kreuz Christi hat diese Zukunft. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1990.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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