Bewusst beten

Predigt über Matthäus 6,5‑15 zum Sonntag Rogate

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Dass Christen beten, das ist so selbst­verständlich wie das Amen in der Kirche. Beten ist unsere wichtigste Lebens­äußerung als Jünger Jesu. Trotzdem bleiben wir als Beter unser Leben lang Anfänger beziehungs­weise Schüler (das Wort „Jünger“ heißt ja nichts anderes als „Schüler“). Wir lernen nie aus, wie wir richtig beten können. So wollen wir besonders heute, am Gebets­sonntag Rogate, bei unserm Meister Jesus Christus in die Schule gehen und beten lernen. Wir wollen auf seine Worte in der Bergpredigt achten, die so beginnen: „Wenn ihr betet…“ Wir wollen richtig beten lernen, bewusst beten lernen. Und dieses bewusste Beten möchte ich anhand der Worte unsers Herrn dreifach entfalten: erstens gottes­bewusst beten, zweitens hilfs­bewusst beten, drittens heils­bewusst beten.

Unser Herr lehrt uns mit diesen Worten zuerst, gottes­bewusst zu beten. Er sagt: „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßen­ecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.“

Um diese Worte zu verstehen, müssen wir uns zunächst einmal klarmachen, welche Gebets-Unsitten damals bei vielen Leuten eingerissen waren. Die frommen Juden hatten es sich angewöhnt, dreimal täglich feste Gebets­zeiten einzuhalten – an sich eine gute Sache. Manche von ihnen gingen zum Beten extra in den Tempel oder in die Synagoge, damit andere sehen konnten: Seht her, ich bete, ich halte mich an die Gebets­zeiten! Andere richteten es so ein, dass sie zu den Gebets­zeiten „zufällig“ an einer belebten Kreuzung unterwegs waren. Dort hielten sie dann inne, breiteten die Arme zum Himmel und sprachen ihr Gebet. Das heißt, eigentlich war es gar kein richtiges Gebet, sondern ihre Botschaft richtete sich an die Mitmenschen und lautete auch in diesem Fall etwa so: Seht her, was ich für ein frommer Mensch bin, dass ich auch unterwegs die Gebets­zeiten nicht vergesse. Jesus durch­schaute solche Heuchelei. Er merkte: Solches Beten richtet sich nicht an Gott; es ist nicht gottes­bewusst, sondern menschen­bewusst. „Sie haben ihren Lohn schon gehabt“, sagte er, und das bedeutet frei übersetzt: Solches Beten gefällt Gott nicht. Um dieser Gefahr vor­zubeugen, sollte man sich lieber zu Hause in seine Speisen­kammer ein­schließen – das ist das sogenannte „Kämmer­lein“ – und dort beten, wirklich gottes­bewusst beten. Natürlich verbietet Jesus damit nicht das gemeinsame Gebet von Christen im Gottes­dienst oder anderswo; im Gegenteil, solchem gemeinsamen Gebet gibt er an anderer Stelle sogar eine besondere Verheißung. Aber in jedem Fall soll man im Gebet Gott anreden und nicht vor den Menschen seine Frömmigkeit zur Schau stellen.

Nun ist ja das Schau-Beten, so denke ich, kaum unser Problem. Sicher, man trifft immer wieder Menschen, die beteuern: Ich bete!, und es hört sich so an, als wollten sie sagen: Haltet mich nur nicht für einen gottlosen Menschen! Oder wir Pastoren stehen in der Gefahr, bei Gebeten mit der Gemeinde nicht wirklich zu Gott zu reden, sondern indirekt der Gemeinde etwas klarmachen zu wollen. Aber im Normalfall, denke ich, wollen wir mit unserm Beten überhaupt nicht irgendwie vor den Menschen hervor­treten. Manchmal ist es sogar umgekehrt, dass wir uns schämen zu beten und aus diesem Grund das Gebet ins Kämmerlein verbannen. Es gibt zum Beispiel christliche Familien, die sich genieren, im Restaurant oder vor Gästen ihr Tischgebet zu sprechen. Trotzdem, so meine ich, ist Christi Botschaft in diesen Worten eine ganz aktuelle: Betet gottes­bewusst! Es geht unserm Herrn nicht um einzelne Fälle und Situ­ationen, die sich im Lauf der Jahr­hunderte wandeln, sondern es geht ihm um die Herzens­haltung. Und da sollen wir uns bewusst machen, wen wir im Gebet anreden: den ewigen all­mächtigen Gott, zu dem wir Vater sagen dürfen. Dieses Wort leitet uns zur Buße angesichts vieler gedankenlos und leicht­fertig ge­sprochener Gebete. Wie oft plappern wir das Vaterunser oder auch unsere Tisch­gebete, ohne wirklich gottes­bewusst zu beten. Ich kann nach­vollziehen, dass junge Christen aus diesem Grund das Tischgebet ganz aufgegeben haben: weil sie nämlich sehr fein spüren, wie leicht ein gedanken­loses Sprüchlein daraus wird. Nur wird das Problem nicht dadurch gelöst, dass man überhaupt nicht mehr zu Tisch betet. Vielmehr sollten wir uns immer wieder auf Jesu Lehre besinnen: Betet gottes­bewusst, mit Andacht, mit Kon­zentration. Und nehmt dazu nötigen­falls äußere Hilfen in Anspruch, zum Beispiel das stille Kämmerlein.

Unser Herr lehrt uns mit diesen Worten zweitens, hilfs­bewusst beten. Er sagt: „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“

Um diese Worte richtig zu verstehen, müssen wir wissen, was das Gebet in heidnischen Religionen bedeutet. Es hat den Sinn, dass man mit den richtigen Wörtern, Gottesnamen und Formeln eine höhere Macht dazu bewegt, eigene Wünsche zu erfüllen. Je länger einer betet und je mehr Gottesnamen er aufzuzählen weiß, desto sicherer kann er mit Erhörung rechnen. Im Buddhismus wird das auf die Spitze getrieben: Da gibt es sogenannte Gebets­mühlen, drehbar auf­gestellte Trommeln mit Gebets­inschriften, die mit der Hand in Bewegung gesetzt werden. Jede Umdrehung zählt als ein Gebet. Wenn der Buddhist die Trommeln immer wieder in schnelle Rotation versetzt, dann meint er, in kurzer Zeit eine große Zahl von Gebeten zu absol­vieren.

Wir werden unserm Herrn Jesus Christus von Herzen zustimmen, dass solches „Ge­plapper“, solches Wort­geklingel kein rechtes Beten ist. Ich glaube auch nicht, dass wir in der Gefahr stehen, zu lange Gebete zu sprechen und beim Beten mehr Worte zu machen als nötig. Vielleicht besteht diese Gefahr heute manchmal bei Gebets­gemeinschaf­ten, wenn die einzelnen Beter nicht kurz und diszipli­niert ihre Bitten vorbringen und dann kein Ende finden. Aber wieder geht es Christus hier nicht um einzelne Fälle und Situ­ationen, sondern um die rechte Herzens­haltung, um das rechte Bewusstsein beim Beten. Und da dürfen wir wissen: Wir brauchen nicht mit vielen Worten und langen Formeln eine höhere Macht zum Segnen zu bewegen. Gott ist ja nicht schwer­hörig, im Gegenteil, er ist aus­gesprochen hellhörig, wenn wir beten. Ja, der himmlische Vater weiß von vornherein, was wir nötig haben. Wenn er uns zum Beten auffordert, dann geht es ihm eigentlich gar nicht darum, über unsere Bedürfnisse an sich informiert zu werden, sondern es geht ihm darum, von uns informiert zu werden. Er könnte uns auch ohne unser Bitten alles Nötige geben und tut es ja auch oft genug. Aber er möchte gebeten werden. Er möchte um unsert­willen, dass wir von ihm alle Hilfe erwarten und erbitten. Er möchte, dass wir hilfs­bewusst bitten. Er möchte, dass wir sagen: Lieber Vater, ohne deine Hilfe ist all unser Wollen und Tun vergeblich; du weißt ja auch am besten, was gut für uns ist, darum bitten wir dich: Hilf uns, gib uns das Gute, versorge uns wie deine lieben Kinder; wir wissen und vertrauen darauf, dass du uns nicht ent­täuschst. Ja, das ist rechtes, hilfs­bewusstes Beten; so hat es Jesus gelehrt. Und so entspricht es auch dem Gebets­vorbild, das er uns in demselben Zusammen­hang vorgelegt hat, im Vaterunser: „Unser Vater im Himmel!“, sollen wir schlicht sagen, und Luther hat im Kleinen Katechismus wunderbar ausgelegt, was das bedeutet: „… dass wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.“

Unser Herr Jesus Christus lehrt mit diesen Worten drittens, heils­bewusst zu beten. Das geht aus dem Vaterunser hervor. Es ist unmöglich, das Vaterunser in einer Predigt vollständig auszulegen. Aber auf eine Bitte des Vaterunsers möchte ich jetzt besonders eingehen, weil sie eine heraus­ragende Stellung hat, nämlich die fünfte Bitte: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schul­digern.“ Es ist die einzige Bitte, wo aus­drücklich auch von unserm Tun die Rede ist. Und es ist die einzige Bitte, auf die Jesus noch einmal zurück­kommt. Er sagt: „Wenn ihr den Menschen ihr Ver­fehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Ver­fehlungen auch nicht vergeben.“

Dass Gott uns um Jesu willen unsere Schuld vergibt, das ist der Dreh- und Angelpunkt des Evangeliums und des ganzen christ­lichen Glaubens. Es ist damit auch der Dreh- und Angelpunkt unsers Betens. Wenn Gott uns nicht unsere Schuld vergeben würde, dann stünden unser Ungehorsam, unser mangelndes Vertrauen, unser Zweifeln und unsere Verzagtheit wie eine Mauer zwischen uns und Gott; all unser Beten, Rufen und Klagen würde dann ungehört verhallen. Nun aber hat Gott die Schuld vergeben, hat die Mauer nieder­gerissen, hat uns in der Taufe als seine lieben Kinder angenommen, hat uns durch seinen Sohn mit sich versöhnt. Dass wir durch Jesus freien Zugang zu unserm Vater im Himmel haben, das sollen wir beim Beten nicht vergessen. Wir sollen heils­bewusst beten – im Bewusstsein der vergebenden Gnade, mit der Gott uns alles Heil schenkt. Darum beten wir auch immer im Namen Jesus, gleich ob wir es bewusst so aussprechen oder ob dieser Gedanke nur Hintergrund unseres Betens bildet.

Freilich müssen wir das heils­bewusste Beten immer wieder neu einüben. Unser Glaube an Gottes Vergebung ist immer wieder gefährdet. Eine große Gefahr besteht darin, dass wir selbst nicht bereit sind, unsern Schuldigern zu vergeben. Deshalb hat die fünfte Bitte diesen Zusatz: „… wie auch wir vergeben unsern Schul­digern.“ Wenn wir im Glauben erfasst haben, welch schwere Schuld uns Gott erlässt, dann können wir eigentlich unserm Nächsten nicht mehr böse sein, egal wie schlecht und gemein er sich uns gegenüber verhält. Umgekehrt: Wer seinem Nächsten nicht vergeben will, hat nicht begriffen, was Gott ihm Großes getan hat durch Christus; er lebt noch im Dunkel des Unglaubens. Deshalb sagte Jesus: „Wenn ihr den Menschen ihre Ver­fehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch nicht vergeben.“ Wer Gottes Heil am eigenen Leib erfahren hat, der kann nicht anders, der muss in jedem Mitmenschen jemanden sehen, dem Gottes Liebe auch gilt und für den Christus auch gestorben ist. So einem Mitmenschen kann man dann nicht anders begegnen als in Liebe und im Geist der Vergebung – und sei er der ärgste Feind, und habe er mich noch so sehr verletzt. Vergeben heißt nichts anderes als den Nächsten mit den Augen Gottes zu sehen, also mit den Augen der vergebenden Liebe. Ja, auch dies gehört zum Beten-Lernen dazu: dass wir vergeben lernen, wie Gott uns vergeben hat, und dass wir dann im Bewusstsein dieses Heils beten – heils­bewusst beten. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1989.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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