Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Dass Christen beten, das ist so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. Beten ist unsere wichtigste Lebensäußerung als Jünger Jesu. Trotzdem bleiben wir als Beter unser Leben lang Anfänger beziehungsweise Schüler (das Wort „Jünger“ heißt ja nichts anderes als „Schüler“). Wir lernen nie aus, wie wir richtig beten können. So wollen wir besonders heute, am Gebetssonntag Rogate, bei unserm Meister Jesus Christus in die Schule gehen und beten lernen. Wir wollen auf seine Worte in der Bergpredigt achten, die so beginnen: „Wenn ihr betet…“ Wir wollen richtig beten lernen, bewusst beten lernen. Und dieses bewusste Beten möchte ich anhand der Worte unsers Herrn dreifach entfalten: erstens gottesbewusst beten, zweitens hilfsbewusst beten, drittens heilsbewusst beten.
Unser Herr lehrt uns mit diesen Worten zuerst, gottesbewusst zu beten. Er sagt: „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten.“
Um diese Worte zu verstehen, müssen wir uns zunächst einmal klarmachen, welche Gebets-Unsitten damals bei vielen Leuten eingerissen waren. Die frommen Juden hatten es sich angewöhnt, dreimal täglich feste Gebetszeiten einzuhalten – an sich eine gute Sache. Manche von ihnen gingen zum Beten extra in den Tempel oder in die Synagoge, damit andere sehen konnten: Seht her, ich bete, ich halte mich an die Gebetszeiten! Andere richteten es so ein, dass sie zu den Gebetszeiten „zufällig“ an einer belebten Kreuzung unterwegs waren. Dort hielten sie dann inne, breiteten die Arme zum Himmel und sprachen ihr Gebet. Das heißt, eigentlich war es gar kein richtiges Gebet, sondern ihre Botschaft richtete sich an die Mitmenschen und lautete auch in diesem Fall etwa so: Seht her, was ich für ein frommer Mensch bin, dass ich auch unterwegs die Gebetszeiten nicht vergesse. Jesus durchschaute solche Heuchelei. Er merkte: Solches Beten richtet sich nicht an Gott; es ist nicht gottesbewusst, sondern menschenbewusst. „Sie haben ihren Lohn schon gehabt“, sagte er, und das bedeutet frei übersetzt: Solches Beten gefällt Gott nicht. Um dieser Gefahr vorzubeugen, sollte man sich lieber zu Hause in seine Speisenkammer einschließen – das ist das sogenannte „Kämmerlein“ – und dort beten, wirklich gottesbewusst beten. Natürlich verbietet Jesus damit nicht das gemeinsame Gebet von Christen im Gottesdienst oder anderswo; im Gegenteil, solchem gemeinsamen Gebet gibt er an anderer Stelle sogar eine besondere Verheißung. Aber in jedem Fall soll man im Gebet Gott anreden und nicht vor den Menschen seine Frömmigkeit zur Schau stellen.
Nun ist ja das Schau-Beten, so denke ich, kaum unser Problem. Sicher, man trifft immer wieder Menschen, die beteuern: Ich bete!, und es hört sich so an, als wollten sie sagen: Haltet mich nur nicht für einen gottlosen Menschen! Oder wir Pastoren stehen in der Gefahr, bei Gebeten mit der Gemeinde nicht wirklich zu Gott zu reden, sondern indirekt der Gemeinde etwas klarmachen zu wollen. Aber im Normalfall, denke ich, wollen wir mit unserm Beten überhaupt nicht irgendwie vor den Menschen hervortreten. Manchmal ist es sogar umgekehrt, dass wir uns schämen zu beten und aus diesem Grund das Gebet ins Kämmerlein verbannen. Es gibt zum Beispiel christliche Familien, die sich genieren, im Restaurant oder vor Gästen ihr Tischgebet zu sprechen. Trotzdem, so meine ich, ist Christi Botschaft in diesen Worten eine ganz aktuelle: Betet gottesbewusst! Es geht unserm Herrn nicht um einzelne Fälle und Situationen, die sich im Lauf der Jahrhunderte wandeln, sondern es geht ihm um die Herzenshaltung. Und da sollen wir uns bewusst machen, wen wir im Gebet anreden: den ewigen allmächtigen Gott, zu dem wir Vater sagen dürfen. Dieses Wort leitet uns zur Buße angesichts vieler gedankenlos und leichtfertig gesprochener Gebete. Wie oft plappern wir das Vaterunser oder auch unsere Tischgebete, ohne wirklich gottesbewusst zu beten. Ich kann nachvollziehen, dass junge Christen aus diesem Grund das Tischgebet ganz aufgegeben haben: weil sie nämlich sehr fein spüren, wie leicht ein gedankenloses Sprüchlein daraus wird. Nur wird das Problem nicht dadurch gelöst, dass man überhaupt nicht mehr zu Tisch betet. Vielmehr sollten wir uns immer wieder auf Jesu Lehre besinnen: Betet gottesbewusst, mit Andacht, mit Konzentration. Und nehmt dazu nötigenfalls äußere Hilfen in Anspruch, zum Beispiel das stille Kämmerlein.
Unser Herr lehrt uns mit diesen Worten zweitens, hilfsbewusst beten. Er sagt: „Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.“
Um diese Worte richtig zu verstehen, müssen wir wissen, was das Gebet in heidnischen Religionen bedeutet. Es hat den Sinn, dass man mit den richtigen Wörtern, Gottesnamen und Formeln eine höhere Macht dazu bewegt, eigene Wünsche zu erfüllen. Je länger einer betet und je mehr Gottesnamen er aufzuzählen weiß, desto sicherer kann er mit Erhörung rechnen. Im Buddhismus wird das auf die Spitze getrieben: Da gibt es sogenannte Gebetsmühlen, drehbar aufgestellte Trommeln mit Gebetsinschriften, die mit der Hand in Bewegung gesetzt werden. Jede Umdrehung zählt als ein Gebet. Wenn der Buddhist die Trommeln immer wieder in schnelle Rotation versetzt, dann meint er, in kurzer Zeit eine große Zahl von Gebeten zu absolvieren.
Wir werden unserm Herrn Jesus Christus von Herzen zustimmen, dass solches „Geplapper“, solches Wortgeklingel kein rechtes Beten ist. Ich glaube auch nicht, dass wir in der Gefahr stehen, zu lange Gebete zu sprechen und beim Beten mehr Worte zu machen als nötig. Vielleicht besteht diese Gefahr heute manchmal bei Gebetsgemeinschaften, wenn die einzelnen Beter nicht kurz und diszipliniert ihre Bitten vorbringen und dann kein Ende finden. Aber wieder geht es Christus hier nicht um einzelne Fälle und Situationen, sondern um die rechte Herzenshaltung, um das rechte Bewusstsein beim Beten. Und da dürfen wir wissen: Wir brauchen nicht mit vielen Worten und langen Formeln eine höhere Macht zum Segnen zu bewegen. Gott ist ja nicht schwerhörig, im Gegenteil, er ist ausgesprochen hellhörig, wenn wir beten. Ja, der himmlische Vater weiß von vornherein, was wir nötig haben. Wenn er uns zum Beten auffordert, dann geht es ihm eigentlich gar nicht darum, über unsere Bedürfnisse an sich informiert zu werden, sondern es geht ihm darum, von uns informiert zu werden. Er könnte uns auch ohne unser Bitten alles Nötige geben und tut es ja auch oft genug. Aber er möchte gebeten werden. Er möchte um unsertwillen, dass wir von ihm alle Hilfe erwarten und erbitten. Er möchte, dass wir hilfsbewusst bitten. Er möchte, dass wir sagen: Lieber Vater, ohne deine Hilfe ist all unser Wollen und Tun vergeblich; du weißt ja auch am besten, was gut für uns ist, darum bitten wir dich: Hilf uns, gib uns das Gute, versorge uns wie deine lieben Kinder; wir wissen und vertrauen darauf, dass du uns nicht enttäuschst. Ja, das ist rechtes, hilfsbewusstes Beten; so hat es Jesus gelehrt. Und so entspricht es auch dem Gebetsvorbild, das er uns in demselben Zusammenhang vorgelegt hat, im Vaterunser: „Unser Vater im Himmel!“, sollen wir schlicht sagen, und Luther hat im Kleinen Katechismus wunderbar ausgelegt, was das bedeutet: „… dass wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.“
Unser Herr Jesus Christus lehrt mit diesen Worten drittens, heilsbewusst zu beten. Das geht aus dem Vaterunser hervor. Es ist unmöglich, das Vaterunser in einer Predigt vollständig auszulegen. Aber auf eine Bitte des Vaterunsers möchte ich jetzt besonders eingehen, weil sie eine herausragende Stellung hat, nämlich die fünfte Bitte: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Es ist die einzige Bitte, wo ausdrücklich auch von unserm Tun die Rede ist. Und es ist die einzige Bitte, auf die Jesus noch einmal zurückkommt. Er sagt: „Wenn ihr den Menschen ihr Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“
Dass Gott uns um Jesu willen unsere Schuld vergibt, das ist der Dreh- und Angelpunkt des Evangeliums und des ganzen christlichen Glaubens. Es ist damit auch der Dreh- und Angelpunkt unsers Betens. Wenn Gott uns nicht unsere Schuld vergeben würde, dann stünden unser Ungehorsam, unser mangelndes Vertrauen, unser Zweifeln und unsere Verzagtheit wie eine Mauer zwischen uns und Gott; all unser Beten, Rufen und Klagen würde dann ungehört verhallen. Nun aber hat Gott die Schuld vergeben, hat die Mauer niedergerissen, hat uns in der Taufe als seine lieben Kinder angenommen, hat uns durch seinen Sohn mit sich versöhnt. Dass wir durch Jesus freien Zugang zu unserm Vater im Himmel haben, das sollen wir beim Beten nicht vergessen. Wir sollen heilsbewusst beten – im Bewusstsein der vergebenden Gnade, mit der Gott uns alles Heil schenkt. Darum beten wir auch immer im Namen Jesus, gleich ob wir es bewusst so aussprechen oder ob dieser Gedanke nur Hintergrund unseres Betens bildet.
Freilich müssen wir das heilsbewusste Beten immer wieder neu einüben. Unser Glaube an Gottes Vergebung ist immer wieder gefährdet. Eine große Gefahr besteht darin, dass wir selbst nicht bereit sind, unsern Schuldigern zu vergeben. Deshalb hat die fünfte Bitte diesen Zusatz: „… wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Wenn wir im Glauben erfasst haben, welch schwere Schuld uns Gott erlässt, dann können wir eigentlich unserm Nächsten nicht mehr böse sein, egal wie schlecht und gemein er sich uns gegenüber verhält. Umgekehrt: Wer seinem Nächsten nicht vergeben will, hat nicht begriffen, was Gott ihm Großes getan hat durch Christus; er lebt noch im Dunkel des Unglaubens. Deshalb sagte Jesus: „Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch nicht vergeben.“ Wer Gottes Heil am eigenen Leib erfahren hat, der kann nicht anders, der muss in jedem Mitmenschen jemanden sehen, dem Gottes Liebe auch gilt und für den Christus auch gestorben ist. So einem Mitmenschen kann man dann nicht anders begegnen als in Liebe und im Geist der Vergebung – und sei er der ärgste Feind, und habe er mich noch so sehr verletzt. Vergeben heißt nichts anderes als den Nächsten mit den Augen Gottes zu sehen, also mit den Augen der vergebenden Liebe. Ja, auch dies gehört zum Beten-Lernen dazu: dass wir vergeben lernen, wie Gott uns vergeben hat, und dass wir dann im Bewusstsein dieses Heils beten – heilsbewusst beten. Amen.
PREDIGTKASTEN |