Ein Ort, wo Gott leuchtet

Predigt über Jesaja 60,1‑6 zum Epiphaniasfest

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Es gibt ver­schiedene Arten der Gegenwart Gottes. Er ist nicht wie ein Mensch einfach nur anwesend oder abwesend, sondern seine Gegenwart kann ganz unter­schiedlich sein. Heute möchte ich mit der Heiligen Schrift auf eine besondere Art von Gottes Gegenwart hinweisen. Gott hat von alters her den Glanz seiner Gegenwart mit bestimmten Orten verbunden.

Wenn wir uns an Gottes Weg mit dem alten Bundesvolk Israel erinnern, dann wissen wir, dass der Allmächtige sich den Berg Sinai als Ort seiner Herrlich­keit gewählt hat. Der Sinai wurde sozusagen Gottes Kanzel, wo er erst unmittelbar und dann durch seinen Propheten Mose dem Volk Israel seine Gesetze und den alten Bund kundtat. Die Steintafeln mit den Zehn Geboten wurden in einen wertvollen Kasten getan, die Bundeslade; diese wurde während der Wüsten­wanderung und auch später noch in einem prächtigen Zelt aufbewahrt. Diese Stiftshütte hat Gott sich aus­drücklich als Wohnung erwählt, und die Bundeslade galt als sein Thron. Aber Gott hatte schon frühzeitig ankündigen lassen, dass er sich im Land der Verheißung eine Stätte suchen wird, wo sein Name wohnt. Der König David fand diese Stätte, den Berg Zion mit der Stadt Jerusalem, und sein Sohn Salomo baute dort den ersten Tempel des lebendigen Gottes. Im aller­heiligsten Raum dieses Tempels stand wieder die Bundeslade. Seit dieser Zeit galten Jerusalem und der Tempel als Inbegriff der Gegenwart Gottes. Nicht, dass man die All­gegenwart Gottes vergessen hätte. Aber die Israeliten wussten aus Gottes Wort: Hier, im Tempel, begegnet uns Gott. Hier wohnt sein Name – also das, was wir von ihm kennen dürfen. Hier geben uns die Priester in seinem Namen Weisung. Hierher bringen wir unsere Dank- und Sühnopfer. Hier vergibt er uns die Sünden. Hier strahlt Gottes Glanz in eine dunkle Welt. Hierher sind auch die andern Völker geladen, die Heiden, die zwar zunächst nur Zaungäste sind, die aber am Abglanz der Herrlich­keit Gottes teilhaben dürfen. Ja, hier, in Jerusalem, im Tempel, auf dem Berg Zion ist ein Ort, wo Gott leuchtet.

Der Heilige Geist hatte dem Propheten Jesaja gezeigt, dass der Jerusalemer Tempel nicht der endgültige Ort der Herrlichkeit Gottes ist, sondern nur eine Vorstufe, ein Vorbild, ein Abglanz zukünftiger Herrlich­keiten. Jesaja sieht im Geist ein neues Zion vor sich mit größerer Herrlich­keit. Und dieses neue Zion redet er in seinem Propheten­wort an. Er sagt zu ihm: „Mache dich auf! Steh auf, erhebe dich zu größerer Ehre! Werde licht, leuchte, erstrahle in neuem Glanz! denn dein Licht kommt, und die Herrlich­keit des Herrn geht auf über dir! Der richtige große Glanz von Gottes Herrlich­keit kommt erst noch; er geht noch auf, strahlend wie die Sonne nach langer Nacht!“ Ja, so weissagte Jesaja über die zukünftige Herrlich­keit Zions. Er hatte dabei die Ereignisse der Zukunft vor sich wie Trans­parente, die hinter­einander aufgestellt sind. Er sah im Geist Gottes Licht durch all diese Trans­parente gleich­zeitig fallen und weissagt von der Herrlich­keit des künftigen Zion so, als fielen die Ereignisse von Gottes Heils­geschichte in einem Augenblick zusammen. Wir wissen heute, dass es ein Weg ist, auf dem Gott die Menschheit schon eine weite Strecke geführt hat. Und so wollen wir auf diesem Weg innehalten und ihn in Jesajas Prophetie verstehen lernen.

Der erste Ort der göttlichen Herrlich­keit, den Jesaja voraussah, war Bethlehen, das kleine, un­scheinbare Städtchen nahe bei Jerusalem. Und so unscheinbar wie dieses Städtchen war auch sein „Tempel“: ein Viehstall, eine Not­unterkunft. Gott bewies mit der Geburt seines Sohnes Jesus Christus, dass er jetzt in Niedrigkeit und Schwachheit erscheinen wollte, um uns Menschen aus unserer Niedrigkeit und Schwachheit heraus­zuhelfen. Damit wir aber erkennen, dass dieser Stall in Wahrheit größere Herrlich­keit hat als der Jerusalemer Tempel und dass Gottes Glanz von dieser Hütte ausgeht, hat sich Jesajas Prophetie hier in mancherlei Weise wunderbar erfüllt. „Siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker“ – das ist die Nacht der Christ­geburt, und die Hirten auf Bethlehems Feldern stehen hier stell­vertetend für die Völker der Welt. „Aber über dir geht auf der Herr, und seine Herrlich­keit erscheint über dir“ – das ist der Glanz der himmlischen Heer­scharen, der diese Nacht zum Tag werden ließ. „Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie“, heißt es in der Weihnachts­geschichte (Lukas 2,9). Auch der Weihnachts­stern kündete von diesem Glanz. „Und die Heiden werden zu deinem Licht ziehen und die Könige zum Glanz, der über dir aufgeht“, weissagte Jesaja. Die Weisen aus dem Morgenland stehen für diese vornehmen Heiden, die, geleitet vom Stern des Gottes­glanzes, die Qelle des Lichts fanden, den Ort, wo Gott in jener Nacht leutete: den Stall von Bethlehem. Und sie kamen nicht mit leeren Händen, wie Jesaja weissagte: „Dann wirst du deine Lust sehen und vor Freude strahlen, und dein Herz wid erbeben und weit werden, wenn sich die Schätze der Völker am Meer zu dir kehren und der Reichtum der Völker zu dir kommt. Denn die Menge der Kamele wird dich bedecken, die jungen Kamele aus Midian und Efa. Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des Herrn Lob ver­kündigen.“ Gold, Weihrauch und Myrrhe – das waren die Gaben, die die Weisen nach Bethlehem brachten. Ja, in der Heiligen Nacht begann sich Jesajas Prophetie zu erfüllen. Da kam Gott selbst zur Welt. Da leuchtete das helle Licht Gottes in der dunklen Welt und brachte große Freude für alle, die im Dunkel und in der Ausweg­losigkeit einer schuld­beladenen Welt saßen. „Das Licht scheint in der Finster­nis“, heißt es im Johannes­evangelium von Jesu Geburt, und: „Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen“ (Joh. 1,5.9).

Ja, Bethlehem war ein Ort, wo Gott leuchtete. Aber Bethlehem war erst ein Anfang. Jesaja blickte weiter. Er sah, dass der Glanz des Kindes in der Krippe ausgeht in die ganze Welt. Wir wissen, dass Gottes Sohn Jesus Christus heute und alle Tage bis an der Welt Ende bei uns ist mit seinem Glanz. Aber wo ist heute unser Zion, unser Jerusalem, unser Tempel? Wo ist heute der Ort, wo wir Gottes herrliches Licht finden können? Jesus selbst gab seinen Jüngern die Antwort: Überall, wo Menschen in seinem Namen versammelt sind, ist er mitten unter ihnen. In seinem Namen versammelt – das heißt überall, wo Menschen sein Wort hören, seine Sakramente halten und im Gebet zu ihm reden. Ja, überall, wo dies geschieht, da ist heute Jerusalem, da ist heute der Berg Zion, da ist unser Tempel. Dieser Tempel hat einen Namen, der oft anders gebraucht und verstanden wird: Er heißt Kirche. Die Kirche ist das Zion unserer Tage. Die Kirche Jesu Christi ist überall dort, wo Menschen im Namen Jesu versammelt sind. Es ist schön, wenn dafür besondere Kirchgebäude existieren, aber das muss nicht unbedingt so sein. Es ist schön, wenn die Kirche in dieser Welt äußerlich geordnet ist als eine Insti­tution, aber das muss auch nicht sein. Kirche ist überall da, wo Menschen im Namen Jesu versammelt sind. Es ist die eine heilige, christliche Kirche, die wir bekennen. Von ihr geht heute der Glanz Gottes in die Welt aus. Sie ist der Ort, wo Gott leuchtet. Und so ist Jesajas Weissagung auch eine Prophe­zeiung über die Kirche. Wir wollen sehen, wie fein sie zutrifft. „Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker“ – ja, das ist noch heute so, trotz Neonröhren und Flutlicht­anlagen. Die Dunkelheit des mensch­lichen Herzens kann damit nicht erhellt werden. Ich merke immer wieder in meinem Leben, wie dunkel und un­verständ­lich die Welt um mich herum ist. Ich verstehe oft nicht, warum Menschen so sind, wie sie sind, und warum sie sich antun, was sie sich antun. Und ich verstehe oft mein eigenes Herz nicht, warum es darin so finster aussieht, wo ich doch nur Grund zur Freude habe. Aber Jesaja sagt nun von der Kirche: „Über dir geht auf der Herr, und seine Herrlich­keit erscheint über dir.“ Hier bekomme ich in Gottes Wort und Sakrament den hellen Schein des Evangeliums ins Herz. Hier wird meine Finsternis hell gemacht. Hier empfinde ich Lust und Freude, wenn ich in der Gemeinde Jesu Christi Gott loben und ihm danken kann. Hier erfüllt sich, was Jesaja prophe­zeite: „Dann wirst du deine Lust sehen und vor Freude strahlen, und dein Herz wird erbeben und weit werden.“ Und zugleich darf ich wissen, dass dieser Glanz auf allen Erdteilen erstrahlt, unter Menschen aller Hautfarben, unter Armen und Reichen, unter Königen und Bettlern, unter Alten und Jungen – wie Jesaja es prophe­zeite: „Die Heiden werden zu deinem Lichte ziehen und die Könige zum Glanz, der über dir aufgeht. Hebe deine Augen auf und sieh umher: Diese alle sind versammelt und kommen zu dir. Deine Söhne werden von ferne kommen, und deine Töchter auf dem Arm hergetragen werden.“ Und wir alle kommen nicht mit leeren Händen zu Gottes, sondern wir bringen ihm Dankopfer und Freuden­opfer dar – vielleicht armselige Opfer, Scherflein nur; aber Gott sieht sie gnädig an, wenn wir sie mit dankbarem Herzen bringen. Wie die stattlichen Lasttiere des Orients, die Kamele, einst mit kostbaren Gütern die Straßen Jerusalems ver­stopften, lasst uns unsere Gaben in das Jerusalem der Kirche einbringen – nicht nur die materiellen Gaben, nicht nur Geld, sondern uns selbst mit Herz und Sinnen. Lasst uns Gott fleißig loben mit unseren Stimmen und Instru­menten. Lasst uns wie bisher mit Liebe und Fleiß unser Gotteshaus pflegen, wo sich hier an diesem Ort Jerusalem und der Tempel befindet. Lasst uns bereit sein mit­zuarbeiten, wo immer der Herr uns braucht, in der Gemeinde oder anderswo. Das ist das Gold, das sind Weihrauch und Myrrhe, die wir dem Herrn bringen können in sein heutiges Zion, in die Kirche, an den Ort, wo er für uns leuchtet.

Schließlich aber dürfen wir in Jesajas Weissagung auch erkennen, dass er bereits das himmlische Jerusalem vor Augen hatte. Da wird Gottes Glanz dann gänzlich unverhüllt strahlen, und das Dunkel dieser ver­gänglichen Welt wird vergessen sein. Da wird man dann keinen Tempel und keine Sonne mehr brauchen, heißt es in der Offenbarung des Johannes, denn Gott selbst wird Tempel und Sonne sein mit seinem Glanz. Da werden von Osten, Westen, Norden und Süden alle Erlösten des Herrn kommen, um mit ihm zu Tisch zu sitzen an der königlichen Tafel. Ja, liebe Gemeinde, das ist der zukünftige Glanz des himmlischen Jerusalems, der auch für uns noch bevorsteht. Aber wie dieses Licht durch die Zeiten hindurch bereits in die Tage des Propheten Jesaja leuchtete und ihn jubilieren ließ, so leuchtet es auch in unsere Erdentage und macht sie hell. Und wenn uns diese Erdentage sauer werden und traurig machen wollen, dann dürfen wir uns im Blick auf das himmlische Jerusalem mit Jesajas Worten trösten: „Dann wirst du deine Lust sehen und vor Freude strahlen, und dein Herz wird erbeben und weit werden.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1989.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum