Vorbilder und Nachfolger

Predigt über 1. Thessalonicher 1,6‑7 zum 14. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

In diesen Bibelversen habe ich ein für mich neues Bild der Kirche entdeckt. Im Geist sehe ich eine wandernde Menschen­schlange vor mir. An der Spitze geht Jesus Christus. Dann folgen die zwölf Apostel und der besondere Apostel Paulus. Hinter ihnen laufen die Christen der ersten Gemeinden: die Jerusa­lemer, die Galater, die Philipper, die Kolosser, die Thessa­lonicher und wie sie alle heißen. Der Strom der Nachfolger wird immer breiter. Bald sieht man unter ihnen Märtyrer, die um ihres Glaubens willen getötet wurden. Da laufen die Kirchen­väter der alten Kirche: Augustinus, Ambrosius, Hieronymus, gefolgt von der Christen­heit des Mittel­alters. Auch Martin Luther ist in dieser Menschen­schlange zu finden und seine getreuen Mit­streiter, ebenso der Lieder­dichter Paul Gerhardt und Johann Sebastian Bach. Gegen Ende findet man unter vielen anderen auch die Väter unserer luthe­rischen Freikirchen und viele Pastoren aus früheren Zeiten. In dieser Schlange der Nachfolger laufen auch viele unserer Eltern und Großeltern mit. Und schließ­lich, am Ende der Schlange, sehe ich uns selbst nachfolgen, mich und euch, die wir hier diesen Gottes­dienst feiern.

Wie komme ich zu diesem Bild? Paulus schrieb an die Gemeinde in Thessa­lonich (dem heutigen Saloniki): „Ihr seid unserm Beispiel gefolgt“ – also: Ihr Thessa­lonicher seid unsere Nachahmer geworden; ih habt uns Apostel zum Vorbild genommen. Weil wir Apostel aber Nachfolger des Herrn Jesus Christus sind und ihn zum Vorbild haben, gilt: „Ihr seid unserm Beispiel gefolgt und dem des Herrn.“ Aber die Thessa­lonicher sind nicht die letzten in der Nachfolge-Schlange. Es gibt in Griechen­land schon wieder jüngere Gemeinde, die sich ihrerseits am Vorbild der Thessa­lonicher orien­tieren. Es sind die Christen in den beiden griechi­schen Provinzen Mazedonien und Achaja. Darum konnte Paulus schreiben: „Ihr seid ein Vorbild geworden für alle Gläubigen in Mazedonien und Achaja.“

Ein VorbiId – was ist das eigentlich? Wenn ich das Wort Vorbild höre, dann fallen mir zuerst immer Leute wie Albert Schweitzer ein – Menschen, die irgendetwas außer­ordentlich Gutes und Großes getan haben. Aber wenn ich mir das genau überlege, so ist das gar kein wirkliches Vorbild. Denn es geht ja nicht, dass alle Christen ein Urwald­krankenhaus aufbauen oder ähnliche Leistungen voll­bringen. Und es ist ja auch eine besondere Gnade, wenn jemand so etwas Außer­gewöhn­liches schafft; die wenigsten haben dazu die Gaben und die Vorraus­setzungen. Auch würde ich sagen: Eine Mutter oder ein Vater, die ihr Leben lang treu arbeiten und ihren Kindern ein gutes Zuhause bieten, die strengen sich genauso an wie Albert Schweitzer, um mit ihren Gaben etwas Gutes zu schaffen.

Wenn wir uns die beiden Bibelverse im Thessa­lonicher­brief genau ansehen, dann stellen wir fest: Paulus meint noch etwas ganz anderes mit Vorbildern und Nach­folgern. Es geht hier nicht um Taten und Leistungen, weder um un­gewöhnliche noch um all­tägliche. Vielmehr schreibt Paulus: „Ihr seid unserm Beispiel gefolgt und dem des Herrn und habt das Wort angenommen in großer Bedrängnis mit Freuden im Heiligen Geist, sodass ihr ein Vorbild geworden seid für alle Gläubigen in Mazedonien und Achaja.“ Darum geht es also in der christ­lichen Gemeinde: erstens das Wort des Herrn aunnehmen, zweitens auch in großer Bedrängnis Freude im Heiligen Geist haben. Darin sind Christus und Paulus und die Thessa­lonicher und alle Christen vor uns Vorbilder, und darin sollen auch wir Vorbilder für unsere Kinder und Enkel und Mitchristen sein.

Schauen wir uns das mal genau an: Erstens das Wort des Herrn annehmen. Hören, wie ein Jünger hört. Hinhören. Zuhören. Horchen. Gehorchen. Und dann nach diesem Wort leben. Jesus Christus hat es uns vorgemacht. Sein Vater sandte ihn in die Welt und ließ ihn einen bitteren Kelch trinken. „Ja, Vater“, sagte Jesus, „von Herzen gern. Nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Die Apostel haben es uns auch vorgemacht: „Gehet hin, predigt, tauft“, hatte der Auferstandene ihnen geboten. Und sie nahmen das Wort an, gingen hin, predigten, tauften und glaubten selbst der frohen Botschaft, dass Jesus ihr Heiland ist. Die ersten Christen haben uns das auch vorgemacht. Durch die Apostel kam Gottes Wort an ihr Ohr: „Tut Buße! Glaubt an das Evangelium! Lasst euch taufen!“ Sie nahmen das Wort an, taten Buße, glaubten und ließen sich taufen. Und so geht es die ganze Kirchen­geschichte hindurch bis in unsere Tage. Martin Luther sagte: „Das weiß ein Kind von sieben Jahren, was die Kirche ist: die Schafe, die auf die Stimme ihres Hirten hören.“ Wir Christen sind Nachfolger – Nachahmer, die nach Art unsers Herrn, nach Art der Apostel und nach Art der Gläubigen vor uns das Wort des Vaters annehmen und daran glauben. Gott beim Wort nehmen, das zeichnet einen Christen aus.

Ich selbst habe da auch ein bestimmtes Vorbild vor Augen: meine Großmutter. Sie hörte zeitlebens das Wort des Herrn und nahm es auf, nahm Gott beim Wort. Wenn ihr zum Beispiel irgendetwas Un­angenehmes begegnete, dann blieb sie fröhlich gelassen und sagte: Der liebe Gott macht keinen Fehler.

Liebe Gemeinde, lasst uns solchen Vorbildern folgen und Gott beim Wort nehmen. Manchmal neigen wir dazu, uns lieber mit schlechten Vorbildern zu ver­gleichen, weil wir dann ganz gut dastehen. Wenn wir uns mit solchen ver­gleichen, denen das Wort Gottes völlig gleich­gültig ist, dann schneiden wir ganz gut ab. Lasst uns aber vielmehr auf die leuchtenden Vorbilder sehen: Eltern, Großeltern und Ur­großeltern, die mit großem Ernst Gottes Wort annahmen und darin lebten; Christen voriger Jahr­hunderte, deren Glaubens­zeugnis bis in unsere Tage strahlt; die Apostel, die um des Wortes Gottes willen ihr Leben einsetzten; und Jesus Christus selbst, der sich im Gehorsam zum Vater aufgeopfert hat.

Was bedeutet das nun: das Wort annehmen, Gott beim Wort nehmen? Es bedeutet, ganz schlicht und kindlich den Worten der Heiligen Schrift zu vertrauen. Ich möchte das am Beispiel des Heiligen Abendmahls ver­deutlichen. Christus sagte: „Das ist mein Leib. Das ist mein Blut.“ Da sollen wir nicht lange nach­grübeln, ob so etwas überhaupt möglich ist und wie es sein kann und wie das zu verstehen ist, dass wir seinen Leib essen und sein Blut trinken, wo wir doch dem Augenschein nach nur Brot und Wein haben. Christus sagte auch: „Nehmt, esst, trinkt, tut solches.“ Er fordert uns ganz einfach auf, das Abendmahl zu feiern. Sein Wort annehmen heißt nun, wirklich zu kommen, zu nehmen, zu essen, zu trinken, solches zu tun und dabei an ihn zu denken. Wer das Wort des Herrn annimmt, der geht gern und oft zum Abendmahl nach dem Vorbild der Apostel und der ersten Gemeinden und der Christen­heit durch zwei Jahr­tausende hindurch. Und er nimmt das Verheißungs­wort an – ganz schlicht und ganz kindlich, ohne viel zu grübeln und verstehen zu wollen: Damit werden meine Sünden vergeben, und meine Seele wird bewahrt zum ewigen Leben.

Wenn wir einfach das Wort des Herrn annehmen und damit leben, hinter­lassen wir den Christen nach uns ein Vorbild. Es liegt ein großer Segen darauf, wenn Kinder merken: Meinen Eltern ist das Wort Gottes wichtig. Meine Eltern gehen gern zum Abendmahl. Meine Eltern vertrauen in allen Lebenslagen auf Gottes Trost und Zusage, auch dann, wenn mal schwere Zeiten kommen. Macht euch mal diese Ver­antwortung bewusst: An eurem Vorbild werden sich kommende Christen­generatio­nen orien­tieren!

Nun will ich aber noch kurz auf das Zweite eingehen, was Paulus vom christ­lichen Vorbild sagt. Das erste war: Ihr habt das Wort angenommen; das zweite ist: … in großer Bedrängnis mit Freuden im Heiligen Geist. Die Gemeinde in Thessa­lonich hat es von Anfang an nicht leicht gehabt. Wir können es in der Apostel­geschichte lesen: Sie wurde wegen ihres Christen­glaubens hart verfolgt. Diese Bedrängnis haben wir heute Gott sei dank nicht. Aber auch heute geht es im Christen­leben nicht ohne Nöte und Leiden ab. Ich bin sicher, die meisten unter uns können davon Zeugnis geben. Das Leid gehört zu den schwersten Geschützen des Satans, um uns am Wort Gottes irre zu machen.

Wie schön ist es da, Vorbilder zu haben, die auch noch in Bedrängnis und Leiden das Wort mit Freuden aufnehmen konnten. Wie schön ist es zu wissen: Sie hatten es nicht leichter als wir, und doch hat Gott ihnen durch den Heiligen Geist die Freude im Herzen bewahrt. Das geht freilich nur durch den Heiligen Geist, das können wir nicht von uns aus. Menschlich gesehen ist es blanker Hohn zu erwarten, dass einer im Leid sich noch freuen kann. Aber der Heilige Geist kann das schaffen: dass wir die Freude am Herrn im Herzen behalten auch in den dunkelsten Stunden des Lebens. Es wird dann keine über­sprudelnde und aus­gelassene Freude sein, aber eine tiefe Freude, eine Freude der Geborgen­heit in Gott. Lasst uns Gott bitten, dass wir nach dem Vorbild Christi, der Apostel, der Thessa­lonicher und so vieler Christen diese Freude nicht verlieren, auch wenn Bedrängnis von innen und von außen kommt!

Liebe Gemeinde, ich freue mich, dass ich in dieser langen Kette von Vorbildern und Nachfolgern ein Glied sein darf. Ich freue mich, dass Gott mir nicht nur durch sein Wort alles Heil verspricht und mich zum Glauben einlädt, sondern dass ich Vorbilder habe, die dieses Wort annahmen und in aller Bedrängnis die Freude im Heiligen Geist bewahrten. Ich hoffe, mit Gottes Hilfe selbst darin ein Vorbild zu werden für andere Christen. Und ich wünsche mir, dass dies auch euere Freude und eure Hoffnung ist. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1988.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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