Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Schlägt man in einem Lexikon beim Stichwort „Allerheiligen“ nach, so steht da meist ungefähr Folgendes: „Katholischer Feiertag am 1. November.“ Dabei ist es eigentlich ein gesamtchristlicher Feiertag. Martin Luther hat jedenfalls Zeit seines Lebens diesen Feiertag begangen, und er hatte sich auch das Allerheiligenfest 1517 ausgesucht, um seine berühmten 95 Thesen der Theolgenwelt in Wittenberg bekanntzumachen. Wenn auch die evangelische Kirche diesen Tag lange Zeit übergangen hat, so gibt es doch heute in lutherischen Agenden und Kalendern wieder einen „Gedenktag der Heiligen“, wie es leicht abgewandelt heißt.
Liebe Gemeinde, an Heilige sollen wir heute also denken. Wer sind denn die Heiligen? Ich möchte zunächst sagen, was Heilige nicht sind: Heilige sind nicht Menschen, die in ihrer Frömmigkeit und mit ihren guten Werken herausragende Vorbilder darstellen; auch nicht Menschen, die vom Papst oder von irgendwelchen kirchlichen Gremien heilig gesprochen worden sind. Das Wort „heilig“ bedeutet einfach „zu Gott gehörend“. Der Heilige Geist ist demzufolge der Geist, der zu Gott gehört, zur göttlichen Dreieinigkeit. Die Heilige Schrift ist Gottes Wort. Entsprechend sind Heilige ganz einfach Menschen, die zu Gott gehören. Und welche Menschen gehören zu Gott? Diejenigen, die glauben und getauft sind. Das sind wir, liebe Brüder und Schwestern, die wir zusammen die christliche Kirche ausmachen, die Gemeinde der Heiligen. Sobald jemand getauft ist, ist er ein frischgebackener Heiliger. Ja, alle Christen sind Heilige – alle, die in der Taufe Gottes Kinder geworden sind und dies im Glauben annehmen.
Die Heiligen lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Diese beiden Gruppen werden „kämpfende Kirche“ und „triumphierende Kirche“ genannt. Es geht einerseits um die Heiligen auf Erden, die sich noch mit dem Teufel herumschlagen und demzufolge zu kämpfen haben, andererseits um die Heiligen im Himmel, die ohne Sünde und Leid ewig Gott loben. Von dieser zweiten Gruppe redet der Apostel Johannes im Buch der Offenbarung.
Ich möchte diese beiden Gruppen von Heiligen jetzt mit einem Vergleich anschaulich machen. Habt ihr schon einmal vom 100-Kilometer-Lauf gehört? Das ist eine ganz verrückte Sache. Da kommt eine Gruppe fanatischer Läufer zusammen, um innerhalb von 24 Stunden eine Strecke von hundert Kilometern zu Fuß zurückzulegen. Ich habe mal darüber gelesen und einen Film gesehen, wie das so abläuft und wie den Läufern dabei zumute ist. Es geht gar nicht darum, Erster zu werden, es geht eigentlich nur darum, die hundert Kilometer zu überstehen und ans Ziel zu kommen. Am Ziel ist dann trotz aller Erschöpfung die Freude groß. Mit den Heiligen verhält es sich nun ebenso wie mit diesen Läufern gegen Ende des Laufes: Einige sind schon am Ziel; sie haben es geschafft, freuen sich und triumphieren – das ist die triumphierende Kirche. Andere sind noch unterwegs und kämpfen sich noch über die Wegstrecke – das ist die kämpfende Kirche.
Liebe Gemeinde, die da noch unterwegs sind, das sind wir. Aber nun schenkt uns Gott auf dem Weg eine wunderbare Erfahrung, die die Hundert-Kilometer-Läufer nicht haben: Wir dürfen, noch unterwegs, bereits einen Blick ans Ziel werfen. Wir dürfen das mit Johannes tun. Johannes befand sich damals auf der kleinen griechischen Insel Patmos. Er war um seines Glaubens willen dorthin verbannt worden. Er bekam also besonders unangenehm zu spüren, was „kämpfende Kirche“ bedeutet. Da lässt Gott ihn eine gewaltige Vision erleben. Unter anderem lässt Gott ihn auch einen Blick in seinen himmlischen Thronsaal werfen. Johannes schrieb, vom Heiligen Geist getrieben, alles auf, und so können wir durch den eben gehörten Abschnitt des Offenbarungsbuches mit ihm einen Blick in die ewige Seligkeit tun – an das Ziel, zu dem hin wir unterwegs sind.
Johannes sieht Gott auf einem Thron sitzen. Neben dem Thron steht ein verwundetes Lamm – das ist Jesus, das Gotteslamm. Um den Thron herum sind 24 weitere Throne, auf denen 24 Älteste sitzen. Sie stellen die zwölf Stämme des Volkes Israel aus dem Alten Testament dar sowie auch die zwölf Apostel des Neuen Testaments. Außerdem befinden sich viele Engel und merkwürdige Gestalten in der Umgebung der Throne sowie manches andere, was ich jetzt gar nicht alles erklären kann. Vor dem Thron aber sieht Johannes die triumphierende Kirche stehen: die Heiligen, die bereits am Ziel sind. Sie sind weiß gekleidet und tragen Palmzweige in ihren Händen. Palmzweige sind das Zeichen großer Freude und wurden zum Winken verwendet, wenn man früher einen König begrüßte. Wir erinnern uns daran, dass man einst Jesus in Jerusalem mit Palmzweigen zuwinkte. Heute würde man vielleicht Fähnchen schwenken, Transparente hochhalten und Luftballons steigen lassen; damals wedelte man mit Palmzweigen. Johannes schaut also auf ein wogendes Meer von Palmzweigen, die alle zu rufen scheinen: Wir haben es geschafft! Wir sind am Ziel! Wir haben gesiegt! Wir grüßen Gott, unsern König, und das Gotteslamm Jesus Christus! Jetzt dürfen wir schauen, was wir vorher nur geglaubt haben!
Es ist eine Schar aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachgruppen, schreibt Johannes. Er sieht vor seinem geistigen Auge, wie sich der Missionsbefehl erfüllt hat: „Gehet hin in alle Welt und macht zu Jüngern alle Völker…“ (Matth. 28,18). Und obwohl da eine so große Völkervielfalt mit so vielen verschiedenen Muttersprachen vor Gottes Thron aufmarschiert, loben sie doch alle in derselben Sprache wie mit einem Munde Gott den Vater und das Lamm. Das ist Pfingsten total, das Sprachenwunder des Geistes in seiner Vollendung: alle triumphieren einmütig, einmündig, einsprachig. Das ist die triumphierende Kirche.
An dieser Stelle schildert Johannes, dass einer der Ältesten ein Gespräch beginnt und ihm erklärt, was das für Menschen sind: „Sie sind aus der großen Trübsal gekommen und haben ihre Kleider hell gemacht im Blut des Lammes“, sagt der Älteste. Es sind also Heilige wie du und ich, die durch Taufe und Glaube Vergebung der Sünden empfangen haben, weil Christus sein Blut für sie vergossen hat. Es sind Menschen, die zur kämpfenden Kirche gehört haben, die sich mit Zweifeln herumschlagen mussten, die von Nichtchristen angefeindet wurden, die manche kirchliche Krise durchgestanden haben, die immer wieder mit ihrer Sünde zu tun bekamen und mit den Angriffen des Teufels. Das ist die „große Trübsal“, aus der sie kommen, die Qual der hundert Kilometer, um mit dem Vergleich zu reden. Einige von ihnen wurden um ihres Glaubens willen sogar gefoltert und hingerichtet; sie hatten einen besonders schweren Kampf auf Erden. Doch nun sind sie am Ziel, und da ist alles ganz wunderbar. Sie „sind vor dem Thron Gottes und dienen ihm Tag und Nacht“, erklärt der Älteste. „Und der auf dem Thron sitzt, wird über ihnen wohnen. Sie werden nicht mehr hungern noch dürsten; es wird auch nicht auf ihnen lasten die Sonne oder irgendeine Hitze; denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und leiten zu den Quellen des lebendigen Wassers, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“ Mit Johannes dürfen wir diesen Blick in den Himmel tun, der unseren menschlichen Augen verborgen ist. Wir, die kämpfenden Heiligen, dürfen die triumphierenden Heiligen sehen, wie sie alle Mühen überstanden haben und glücklich am Ziel sind. Und wenn wir heute den Gedenktag der Heiligen feiern, sollen wir diesen Blick in den Himmel ganz bewusst tun, sollen gedenken, sollen uns vor Augen halten, dass sich da viele vor uns durch ein Christenleben hindurchgekämpft haben und nun dort sind, wo wir einmal durch Gottes Gnade hinkommen werden.
Lieber Bruder, lieber Schwester, vielleicht empfindest du dein Leben gar nicht als Kampf, sondern als ganz normales Leben mit Sorgen und Freuden, wo auch Jesus und die Kirche ihren Platz haben. Unser sicheres Leben im bescheidenen bis großen Wohlstand ist ja auch nicht wirklich vergleichbar mit der „großen Trübsal“ des Johannes und seiner Zeitgenossen, die wegen ihres Glaubens oft Freunde, Familie, Besitz, Freiheit, Gesundheit oder gar das Leben verloren. Trotzdem gilt der Satz des Apostels Paulus aus dem 2. Timotheusbrief: „Alle, die fromm leben wollen in Christus Jesus, müssen Verfolgung leiden“ (2. Tim. 3,12). Ja, Trübsal und Verfolgung sind tatsächlich die Kennzeichen der kämpfenden Kirche, der Heiligen hier auf Erden. Das muss keine ausgesprochene Christenverfolgung sein, wenn es die auch in unserm Jahrhundert noch zur Genüge gibt. Aber eins ist ganz sicher: Wenn du ernst machst mit deinem Glauben an Jesus, wirst du Widerstand erfahren – Widerstand von der ungläubigen Welt, Widerstand auch in Kirche und Gemeinde, Widerstand sogar in dir selbst, weil du noch ein Mensch dieser Welt bist. Wenn du diesen Kampf hart spürst und darunter leidest, darfst du dich mit dem Gedenken der Heiligen trösten und mit der wunderbaren Aussicht, einmal in der triumphierenden Kirche am Ziel zu sein.
Ich habe jetzt von den zwei Gruppen der Heiligen geredet, von der kämpfenden und der triumphierenden Kirche. Ich habe sie mit Läufern beim Hundert-Kilometer-Lauf verglichen, die teils schon am Ziel sind, teils noch unterwegs. Wie fast jedes Beispiel hinkt auch dieses. Aber es ist ein ganz wunderbares Hinken; ich möchte jetzt zum Abschluss besonders darauf hinweisen. Beim Hundert-Kilometer-Lauf können die ans Ziel Gekommenen sich rühmen, aus eigener Kraft eine große Leistung vollbracht zu haben. In der Kirche kann sich niemand rühmen, weder in der kämpfenden noch in der triumphierenden. „Das Heil ist bei dem, der auf dem Thron sitzt, unserm Gott, und dem Lamm!“, rufen die Heiligen um Gottes Thron. Gott hat uns zu Heiligen gemacht; wir sind Beschenkte. Das Geschenk ist das Blut des Lammes, von dem es heißt: „Sie haben ihre Kleider gewaschen und haben ihre Kleider hell gemacht im Blut des Lammes.“ Menschlich betrachtet klingt das unsinnig: Im Blut kann ein Kleid nicht sauber werden, im Gegenteil, es wird völlig verdorben, wenn ich es in Blut tauche. Aber bei Gott geschieht dieses Wunder: Das Kleid wird hell und rein und leuchtend weiß, wenn es im Blut des Lammes gewaschen wird. Liebe Gemeinde, deswegen hören wir doch Gottes Wort, deshalb gehen wir zur Beichte, deshalb empfangen wir das Heilige Abendmahl, deshalb glauben wir an das Evangelium: Weil wir mit dem dreckigen Kleid unserer armseligen menschlichen Gerechtigkeit – oder eigentlich: unserer mangelnden Gerechtigkeit – kommen, es ins Blut des Lammes tauchen und es dann strahlend rein wieder zurückbekommen. Ja, darum sind wir Heilige – hier noch kämpfend, dort dann triumphierend. Amen.
PREDIGTKASTEN |