Gottes Geist macht Sünden­wunden heil

Predigt über 1. Mose 11,1‑9 zum Pfingstmontag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Die Geschichte von der ersten Bauruine der Welt gehört zu den interes­santesten Berichten des Alten Testaments. Es ist er­staunlich, was in diesen neun Versen alles drinsteckt. Darum möchte ich im ersten Teil der Predigt diese Geschichte Stück für Stück unter die Lupe nehmen. Im zweiten Teil möchte ich aufzeigen, wie auch in unserer Zeit noch babylo­nische Türme gebaut werden – zumindest im über­tragenen Sinn. Teil drei soll davon handeln, was die Turmbau­geschichte mit Pfingsten zu tun hat.

Betrachten wir also erstens den biblischen Bericht selbst. „Es hatte alle Welt einerlei Zunge und Sprache“ – das ist die Ausgangs­situation. Welche Sprache das war, wissen wir nicht; jedenfalls war es die Sprache Noahs und seiner Nachkommen, die die Sintflut überlebt hatten. Nach der Sintflut blieben Noahs Nachkommen zunächst zusammen. Gemeinsam machten sie sich auch auf die Suche nach einer geeigneten Wohngegend. „Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst“, heißt es im Bibeltext. Es ist das Gebiet der späteren Stadt Babylon. Als sie sich dort nieder­gelassen hatten, machten sie eine tolle Entdeckung: Wenn man Tonerde brennt, so werden daraus Blöcke so hart wie Stein! Der Ziegel war erfunden. Als Baumaterial hat er enormen Vorteile gegenüber dem Naturstein. Außerdem fand man in dieser Ebene Asphalt, auch Erdharz genannt; noch heute kann man ihn im Nahen Osten finden. Dieser Asphalt konnte hervor­ragend wie Mörtel benutzt werden. In Verbindung mit den Ziegeln ließen sich nun mit relativ wenig Aufwand Wände bauen, die viel stabiler waren als Lehmwände. Eine revo­lutio­näre Erfindung war gemacht worden. Diese Erfindung ließ einen kühnen Plan in den Menschen aufkeimen.

„Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen!“, so sprachen sie unter­einander, nahmen Ziegel als Steine und Erdharz als Mörtel. „Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder!“ Gleich zweimal sagten diese Leute „wohlauf“, auf hebräisch „haba“. Man sieht sie förmlich vor sich, wie sie in die Hände spuckten und sich an ihrem Plan be­geisterten: Ha! Haba! Ein Turm,der bis an den Himmel reicht! Unsere neue Technologie macht es möglich! Ziegel und Erdharz, die Bau­materialien mit den un­begrenzten Möglich­keiten! Einen Namen wollten sie sich machen, berühmt wollten sie werden. Vielleicht träumten sie von einer Gedenk­tafel, die ihre Nachkommen einst am Fuße des Turms anbringen würden mit der Inschrift: Diesen Turm bauten unsere klugen und mutigen Vorfahren, nachdem sie den Ziegel erfunden hatten. Außerdem wollten sie ihre Be­völkerungs­politik selbst in die Hand nehmen. Sie wollten, dass die Nachkommen nur in Sichtweite des Turmes siedeln sollten, damit sie nicht zerstreut werden. Keiner fragte dabei nach Gottes Willen. Gott aber hatte andere Pläne. Die Menschen sollten die Erde füllen, nicht auf einem Fleck zusammen hocken bleiben! So wurde das Turmprojekt zum Symbol für mensch­lichen Stolz und Eigensinn. Weil in der naiven Vorstellung der Menschen damals Gott gleich über den Wolken wohnte, dachte man, man könne Gott gewisser­maßen auf Augenhöhe begegnen, wenn die Spitze des Turms bis in den Himmel reichte.

Wie lächerlich diese Vorstellung ist, das zeigt der biblische Bericht mit wunderbarer Ironie. Wir lesen: „Da fuhr der Herr hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschen­kinder bauten.“ Das ist natürlich in menschlich-bildlicher Weise von Gott geredet. Das Bauwerk, das für das Volk auf Erden gewaltige Dimensionen hatte, nahm sich aus Gottes Perspektive sehr bescheiden aus. Gott musste erst einmal ganz tief von seinem himmlischen Thron herab­steigen und sozusagen die Lupe aus der Tasche ziehen, um dieses Türmlein überhaupt betrachten zu können – den Turm, „dessen Spitze bis an den Himmel“ reichen sollte. Und was hielt Gott nun von dem ehrgeizigen Projekt der Menschen? Wir können seine Meinung nachlesen: „Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben.“ Gott musste fest­stellen: Die Menschen sind dabei, sich von ihm zu emanzi­pieren. Das aber ist die Wurzel der Sünde. Wie hatte doch die Schlange einst Eva versucht? „Ihr werdet sein wie Gott“, hatte sie gesagt (1. Mose 3,5). Wenn Gott nun tatenlos zusehen würde, wie die Menschen nach eigenem Gutdünken einen Plan nach dem anderen ver­wirklichen, dann würde bald niemand mehr nach Gott fragen. Damit wäre das Verderben der ganzen Menschheit besiegelt. Also musste Gott ihnen ihre Grenzen deutlich machen und zeigen, wohin ehrgeizige gottlose Pläne führen. Gegen die Bau­aktivitäten an sich hatte Gott nichts ein­zuwenden, wohl aber gegen die menschliche Über­heblich­keit, die dahinter stand und ausrief: Haba! Wir haben eine tolle Erfindung gemacht, damit werden wir berühmt und kriegen alle Probleme in den Griff! Nun war es an Gott, „haba“ zu sagen: „Haba, wohlauf, lasst uns hernieder­fahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! – So zerstreute sie der Herr von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.“ Es handelt sich hier um ein Strafwunder Gottes: Die Bauleute sprachen plötzlich in ver­schiedenen Fremd­sprachen und konnten sich nicht mehr ver­ständigen. Dies führte zur Zer­streuung. Gott hat das letzte Wort. Der Mensch denkt, Gott lenkt. Übrigens bestätigt die Sprach­wissenschaft dieses Ereignis: Es gibt ver­schiedene Sprachen­stämme, die keine Ver­wandtschaft unter­einander haben. Das sind die Fremd­sprachen, die Gott in Babel stiftete. Die einzelnen Fremd­sprachen innerhalb eines Sprach­stamms dagegen zeigen Ver­wandtschaft und lassen sich durch allmähliche Ent­wicklungen erklären. Der Ortsname „Babel“ wird schließlich im letzten Vers vom hebräischen Verb „balal“ her erklärt, das „zer­streuen“ bedeutet. Ob die Bauruine unter den aus­gegrabenen sogenannten Zikkurats des Zweistrom­landes zu finden ist, das ist zweifel­haft; sie wird aber ähnlich wie diese Stufentürme ausgesehen haben.

Ich komme zum zweiten Teil, zu den babylo­nischen Türmen der Neuzeit. Ich meine damit alle ehr­geizigen, kühnen Projekte von Menschen, die mit derselben Geistes­haltung unternommen werden. „Haba“ sagten die Schiffs­ingenieure am Anfang des 20.‑Jahr­hunderts, „wohlauf, lasst uns einen unsinkbaren Luxus-Passagier­dampfer bauen, der schneller ist als andere Schiffe!“ Sie taten es und nannten das Schiff Titanic. Bereits auf der Jungfern­fahrt sank es, und viele Menschen er­tranken. „Haba“ sagten die Politiker und Technologen ein halbes Jahrhundert später, „lasst uns Atom­kraftwerke bauen, die nie kaputt gehen!“ Immer wieder beteuerten sie, dass bei den sorgfältig geplanten Sicherheits­vorkehrungen ein Störfall praktisch aus­geschlossen ist. Versteht mich nicht falsch: Ich weiß nicht, was Gott von Atom­kraftwerken an sich hält, und ich will ihm da auch nichts in den Mund legen. Aber ich weiß, was Gott von der über­heblichen Haltung denkt, wir Menschen könnten mit unserer Technologie die Atomkraft in den Griff bekommen und uns vollkommen absichern. Was er darüber denkt, das hat er zum Beispiel in Tschernobyl gezeigt. Gott möchte, dass wir nach seinem Willen fragen, dass wir um seinen Schutz flehen, dass wir ihm alles anbefehlen, auch die Atom­kraftwerke, wenn es sie denn geben muss. „Haba!“ sagen die Gen­technologen unserer Tage. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dann können wir beliebige Lebewesen auf dem Reißbrett entwerfen und zum Leben erwecken!“ Liebe Gemeinde, lasst uns Gott darum bitten, dass die genetische Forschung in Ver­antwortung vor dem Schöpfer geschieht. Ich habe nichts gegen den wissenschaftlich-technischen Fort­schritt, im Gegenteil, ich halte ihn für eine Segensgabe Gottes – eine Segensgabe allerdings, die wir dankbar aus seiner Hand nehmen sollten, nicht eigen­mächtig und selbst­herrlich gebrauchen. So wünsche ich uns Gen­techniker, die ihr Handwerk in Ver­antwortung vor Gott ausüben, damit er nicht auch in diesem Bereich herabfahren und uns unsere Grenzen mit Gewalt zeigen muss.

Und dann ist da auch noch dies, liebe Gemeinde: „Haba“ sagen wir immer wieder in unserem Herzen, ein jeder von uns in seiner per­sönlichen Lebens­situation. Wohlauf, lasst uns eine gute Ausbildung machen, damit wir einen guten Beruf kriegen! Lasst uns unser Geld pfiffig in­vestieren, damit wir ein gutes Polster haben! Lasst uns Häuser bauen, dass wir darin ein erfülltes Leben führen können! Lasst uns Ver­sicherungen ab­schließen, damit wir nicht unverhofft in Not geraten! Lasst uns in Krankheit die besten Ärzte aufsuchen, damit uns geholfen werde! Nichts gegen Ausbildung, Vermögens­anlage, Häuser, Ver­sicherungen und Ärzte. Hüten wir uns aber davor zu meinen, damit könnten wir unser Leben in den Griff kriegen. Das müssen wir allerdings wohl immer wieder auf die harte, schmerz­hafte Weise lernen, wie es die Leute von Babel lernten: Gott zeigt uns schnell unsere Grenzen, lässt die Türme nicht in den Himmel wachsen, lässt etwas dazwischen kommen, lässt es anders kommen, als wir denken. Ach, wenn wir doch diese Lektion lernen würden! Wenn wir doch immer wieder fragen würden: Herr, gefällt es dir auch, was ich vorhabe? Wenn wir doch immer wieder bitten würden: Herr, segne du all mein Tun, denn ohne deine Hilfe vermag ich nichts! Wenn wir doch immer wieder danken würden: Danke, Herr, dass du uns Arbeit, Brot, Wohnung und Gesundheit schenkst, dass du uns vor allem Übel bewahrst! Wenn wir doch alles tun würden im Aufblick zu Gott, nicht im Bewusstsein des eigenen Könnens und der eigenen Stärke.

Was hat das mit Pfingsten zu tun? So lautet der dritte und letzte Teil dieser Predigt. Zunächst können wir äußerlich fest­stellen: Sowohl in der Turmbau­geschichte als auch in der Pfingst­geschichte spielen Sprachen eine Rolle. Beim Turmbau sorgte Gott dafür, dass Menschen mit derselben Sprache sich plötzlich nicht mehr verstanden. Zu Pfingsten sorgte der Heilige Geist dafür, dass Menschen ver­schiedener Sprachen sich plötzlich verstanden. Die Auslands­juden aus allen Ecken und Sprach­räumen der antiken Welt konnten die Pfingst­predigten der Apostel verstehen; ein jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Beim Turmbau tat Gott ein Straf­wunder, er verwirrte die Sprache der Menschen. Zu Pfingsten tat der Heilige Geist ein Heilungs­wunder, er entwirrte die Sprache der Menschen. Damit hat der Heilige Geist klar gemacht: Durch das Evangelium heilt Gott den Sünden­schaden! Die Sprach­verwirrung war ja eine Folge der mensch­lichen Über­heblich­keit, der mensch­lichen Sünde, wie die Turmbau­geschichte lehrt. Die Sünde wird in Gottes Augen aufgehoben und vergeben, wo immer das Evangelium gepredigt und geglaubt wird, das uns kund tut: Jesus Christus hat durch seinen Tod unsere Sünde gesühnt. Solche Evangeliums­predigt begann durch das machtvolle Wirken des Heiligen Geistes beim ersten Pfingst­fest. Ja, alle, die der Botschaft glauben, dürfen bis zum heutigen Tag dieses Heilungs­wunder des Heiligen Geistes erleben. Freilich müssen auch Christen bis zum heutigen Tag in einer Welt mit vielen Sprachen leben. Wir leben ja in einer Welt, die immer noch von der Sünde und ihren Folgen gezeichnet ist, auch wenn uns die Sünde nicht mehr verdammen kann. Aber auch heutzutage tut der Heilige Geist sein Heilungs­wunder, selbst wenn es meist nicht so spektakulär geschieht wie am ersten Pfingsttag. Wir wissen: Wenn ein Mensch das Wort des Evangeliums hört und glaubt, dann ist das nicht seinem Verstand zu­zuschreiben, sondern dem Geist Gottes. Wir sprach­verwirrten Menschen haben von Natur aus keine Antenne für Gottes Wort, auch wenn wir es in unserer Mutter­sprache hören. Geistliche Worte können nur geistlich gehört und verstanden werden, und diese Sprache lehrt uns der Heilige Geist. Wo er dieses Wunder tut, da merkt man dann oft, wie sich geistliche Menschen auch über menschliche Sprach­grenzen hinweg verstehen. Ich selbst habe dies mehr als einmal erfahren: Manchmal kann ich mich mit Menschen meiner Mutter­sprache nicht richtig unter­halten, weil sie nicht an das Evangelium glauben. Ihnen sind ganz andere Dinge wichtig, sie verstehen mich nicht und ich sie auch nicht; es ist, als ob wir eine andere Sprache sprächen. Und manchmal verstehe ich mich mit Christen anderer Sprach­gruppen aus­gezeichnet, obwohl unsere Ver­ständigungs­möglich­keiten menschlich gesehen sehr dürftig sind.

Ich erinnere mich an einen Fahrrad­urlaub, den ich mit zwei Freunden in Holland machte. Eines Abends suchten wir einen Camping­platz für unser Zelt. Wir trafen einen Holländer, der kaum deutsch und kaum englisch sprach, wir indessen konnten kein hol­ländisch. Er gab uns zu verstehen, dass die Camping­plätze alle belegt seien, und lud uns in sein Haus ein. Dort durften wir über­nachten; zuvor aber saßen wir zusammen. Schnell stellte sich heraus, dass er ein Christ ist. Und wir haben uns an diesem Abend so gut unterhalten und auch über geistliche Dinge geredet, als ob es keine Sprach­barriere gab. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1987.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

 


 

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