Wie schön ist es, ein Schaf zu sein!

Predigt über Hesekiel 34,23 zum Sonntag Miserikordias Domini

Liebe Schafe!

So möchte ich euch heute am Hirten­sonntag einmal anreden. Oder ist euch diese Anrede un­behaglich? Fällt euch das sprich­wörtlich dummen Schaf ein, das niemand gern sein möchte? Haltet ihr es für eine Zumutung, für eine Herde vereinnamt zu werden? Möchtet ihr lieber unabhängige und selbst­bestimmte Menschen sein? Viele empfinden so und sind daher miss­trauisch gegenüber allem, was nach Herde aussieht, und gegenüber jedem, der sie wie ein Hirte führen will.

Machen wir uns aber klar: Der Herdentrieb gehört unlöslich zum Menschsein dazu; wer das abstreitet, macht sich etwas vor. Seht euch nur mal eure Häuser und Gärten an: Mehr oder weniger ähneln sie sich alle; einer hat's vom andern abgeguckt. Und sie befinden sich meistens auf einem Haufen in einem Ort, nur selten vereinzelt auf freiem Land. Auch unser Verhalten haben wir uns zum großen Teil von andern Menschen abgeguckt, und eine Generation macht es der andern nach. Dass mittags warm gegessen wird, ist keineswegs in allen Ländern so, aber bei uns hat es sich eingebürgert. Und würde sich jemand als einziger eine Rolle aus ge­trockneten Blättern in den Mund stecken und anzünden? Wenn es aber viele machen, findet man das ziemlich normal und nennt es Rauchen. Oder würde jemand allein auf die Idee kommen, mitten im kalten Winter einen Baum abzusägen und in die gute Stube zu stellen? Wenn es aber alle machen, möchte man auf den Weihnachts­baum nicht verzichten. Auch was unsere Meinungen und An­schauungen anbetrifft, sind wir dem Herdentrieb ausgesetzt und orientieren uns daran, was gerade allgemein Thema ist. Könnt ihr euch vorstellen, dass ihr euch selbst mit Peitschen den Rücken blutig schlagt, um Gott damit einen Gefallen zu tun? Vor tausend Jahren hatten unzählige Menschen diese Meinung und handelten ent­sprechend. Genauso unsinnig, wie uns diese Anschauung heute vorkommt, wäre den Leuten damals die heute weit verbreitete Meinung vor­gekommen, Frauen sollten sich nicht unter­ordnen, sondern in führenden Positionen ebenso stark vertreten sein wie Männer. Oder ein anderes Beispiel: Vor fünfzig Jahren wäre der Umwelt­schutz ebenso nötig gewesen wie heute, aber kaum einer hat sich darüber Gedanken gemacht. Erst heute, wo er in aller Munde ist, wird er ernst genommen.

Dieser Herdentrieb gehört zum Menschsein dazu, auch wenn er bei den einen mehr und bei den andern weniger ausgeprägt ist. Der Herdentrieb ist auch immer wieder missbraucht worden von Personen, die sich selbst zu Hirten aufschwangen und die Volksmassen für ihre eigen­süchtigen Ziele kämpfen ließen. Adolf Hitler steht uns da als traurigstes Beispiel des 20. Jahr­hunderts vor Augen. Der Herdentrieb wird gefährlich, wenn die Herde sich an den falschen Hirten orientiert.

Solche falschen Hirten bestimmten das Bild im Volk Juda des sechsten vor­christlichen Jahr­hunderts. Diesem Volk galt das Wort Gottes durch den Propheten Hesekiel, das wir eben gehört haben. Die politischen Führer der Juden werden in diesem Propheten­wort auch aus­drücklich als Hirten bezeichnet, weil dieses Bild in Verbindung mit dem Königtum wohl vertraut war. Der berühmteste König, David hatte seine Karriere sogar als Hirtenjunge begonnen. Und was es heißt, wie ein Hirte für seine Herde zu sorgen, wussten die meisten Juden aus eigener Anschauung, denn sie waren ja ein Hirtenvolk. Die Könige Judas waren nun zum größten Teil von Gottes Wort abgewichen und hatten fremden Göttern gedient. Die Folge davon war zunächst der moralische und dann auch der politisch-wirtschaft­liche Verfall des einst so blühenden Staates. Zu Hesekiels Zeit waren die Juden von den Babyloniern abhängig. Auch die Priester, Richter und königlichen Beamten erwiesen sich als schlechte Hirten. Sie achteten nur auf ihre ego­istischen Interessen und stürzten dadurch das ganze Volk, das ihnen aufgrund des Herden­triebs blindlings nachfolgte, ins Elend.

Da erinnerte Gott durch den Propheten Hesekiel diejenigen, die noch nach Gott fragten, an ein Ver­sprechen. Es ist das Ver­sprechen, das Gott selbst einst dem König David gegeben hatte: Ein Nachkomme Davids werde König in Israel sein und eine ewige Friedens­herrschaft aufrichten. Dieser Nachkomme wird bei Hesekiel einfach David genannt, gemeint ist aber der verheißene Davidssohn. Gott verkündete durch Hesekiel: „Ich will ihnen einen einzigen Hirten erwecken, der sie weiden soll, nämlich meinen Knecht David. Der wird sie weiden und soll ihr Hirte sein.“

Wir haben es mir mit einer Weissagung für das Kommen des Erlösers zu tun. Aus dem Zusammen­hang geht hervor, dass dieser eine gute Hirte niemand anders sein wird als Gott selbst, denn wenige Verse vor unserm Predigttext steht Gottes An­kündigung: „Ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.“ Jesus Christus, der Gottessohn und Davidssohn, hat dann aus­drücklich bestätigt, dass er dieser eine gute Hirte ist und die ent­sprechenden Propheten­worte des Alten Testaments erfüllt. Er sagte: „Ich bin der gute Hirte“ – so haben wir es in der heutigen Evan­geliums­lesung gehört (Joh. 10,11). Dieser gute Hirte missbraucht den Herdentrieb der Massen nicht für seine ego­istischen Interessen, sondern im Gegenteil, er stellt das eigene Wohlergehen hintenan zugunsten seiner Schafe. Er tut es bis hin zur Selbst­aufgabe. „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe“ – das ist kein bloßes Reden im Munde Jesu geblieben (Joh. 10,11). Und noch etwas hat Jesus deutlich gemacht: Er ist nicht nur für die Herde seines Volkes Israel gekommen, sondern für alle Menschen; für alle will er der gute Hirte sein.

Liebe Schafe, lasst uns diesem guten Hirten vertrauens­voll nachfolgen! Wir können sicher sein, dass er wirklich ein guter Hirte ist. Bei allen anderen Hirten dürfen wir nicht blindlings folgen, sondern müssen kritisch sein. Politiker und andere menschliche Führungs­personen können trotz gutem Anschein schlechte Hirten sein, das hat sich oft genug gezeigt. Selbst bei denjenigen, die sich im kirchlichen Bereich Hirten nennen (auf lateinisch „Pasto­ren“), besteht die Gefahr, dass sie nicht die Stimme des einen guten Hirten Christus zu Gehör bringen, sondern die Herde eigen­mächtig nach eigenen Interessen führen. Liebe Gemeinde, solch ein Hirte will ich nicht sein, und in dieser Weise sollt ihr auch nicht meine Herde sein; ihr sollt mir nicht blindlings vertrauen. Ihr dürft mich ruhig bei allem, was ich predige und lehre, fragen: Wo steht das in der Bibel ge­schrieben; was sagt unser eigent­licher Hirte dazu?

Aber diesem einen guten Hirten können und sollen wir uns blindlings an­vertrauen. Hinter Christus können wir ruhig wie dumme Schafe hertrotten und brauchen gar nicht alles zu verstehen, was er macht. Er meint es ja von Herzen gut; wir können ganz geborgen bei ihm sein. Wie schön ist es, sein Schaf zu sein!

Das möchte ich jetzt noch ein wenig weiter ausführen. In Hesekiels Weissagung ist davon die Rede, dass uns der Davidssohn, der eine gute Hirte, „weiden“ wird. Dieser Begriff fasst eine Reihe von Tätigkeiten zusammen: erstens die Versorgung mit Futter und Wasser, zweitens den Schutz vor Raubtieren, drittens die besondere Sorge für das verlorene Schaf.

Erstens versorgt er uns mit Nahrung und Wasser. Abgesehen davon, dass wir reichlich mit dem täglichen Brot versorgt werden, ist damit vor allem die geistliche Nahrung gemeint. Da werden wir auf üppiges Weideland geführt – nicht nur mit der Bibel und mit Predigten, sondern auch durch die Taufe, in der Beichte, beim Abendmahl und mit dem Segen am Schluss des Gottes­dienstes. Ja, davon lebt unser Glaube, dass er zeitlebens vom guten Hirten Jesus Christus auf diese grüne Aue geführt wird. Und hier, im Bereich der Gemeinde, können wir auch getrost unsern Herdentrieb ausleben und es den andern Schafen gleichtun: Wir können in Scharen zum Gottes­dienst strömen, in den gemeinsamen Lobgesang einstimmen und einmütig das Glaubens­bekenntnis sprechen. Wir können an diesem Bild auch erkennen, wie gefährlich es ist, ohne die Gemein­schaft mit anderen Christen den Glauben leben zu wollen. Allzu leicht kann das Vorbild abtrünniger Schafe auf uns abfärben, allzu leicht können schlechte Hirten uns fangen. Wie schön ist es dagegen, als Schaf in der Herde Jesu Christi zu bleiben!

Zweitens schützt uns der gute Hirte vor Feinden, besonders vor dem einen Feind, dem Satan. Mit List und Tücke will der Teufel uns vom Hirten weglocken und sagt: Sei kein dummes Schaf! Du kannst doch für dich selbst ent­scheiden, was gut und richtig ist. So genau brauchst du die Stimme des Hirten doch nicht zu nehmen. Sieh dich um, so viele leben nicht nach den Zehn Geboten und haben keinen Nachteil davon. Da wehrt dann der gute Hirte den Feind ab – hat ihn schon am Kreuz ein für alle mal abgewehrt. Er hat im Kampf gegen Satan sein Leben gelassen und dennoch gesiegt. Und er spricht liebevoll zu uns: Ich tilge alle deine Schuld; habe nur Vertrauen zu mir! Wenn uns der gute Hirte so sehr liebt, dass er sein Leben für uns als Lösegeld gegeben hat, wie sollten wir da seinen Geboten misstrauen? Er meint es auch mit seinem Ordnungen für diese Welt herzlich gut mit uns. Wie gut haben wir es als Schafe Jesu Christi, wenn wir uns von ihm führen und treiben lassen!

Drittens: Wenn uns der Satan wirklich mal weit vom Hirten und von der Herde weglocken sollte, dann kommt der gute Hirte hinterher und sucht uns. So hat er es ja selbst im Gleichnis vom verlorenen Schaf angesagt. Er sucht uns durch die Stimme unsers Gewissens, die uns sagt: Es ist nicht recht, den Glauben zu verlassen, den du bisher bekannt hast. Er sucht uns durch andere Christen, die uns mahnen, trösten und ermuntern. Und wenn wir Buße tun, verzeiht er alles, sodass im Himmel nichts als Freude bleibt über einen Sünder, der zurück­gekehrt ist zur Herde. Übrigens: Wenn du zu den neunund­neunzig gehörst, die nicht weglaufen, dann freu dich mit! Wenn du mal hier einen in der Kirche erblickst, den du von früher her kennst und der lange weg war, dann freu dich über ihn! Und zeige ihm, dass du dich freust! Freu dich auch über die zag­haftesten Ansätze eines verirrten Schafes, wieder zur Herde Jesu Christi zurück­zukehren. Wie schön ist es, ein Schaf Jesu Christi zu sein, und wie schön ist es, wenn ein verlorenes Schaf zurück­gebracht wird!

Dieses wunderbare Weiden unseres guten Hirten ist wohl nirgends besser ausgedrückt als im 23. Psalm. Da ist von der grünen Aue und dem frischen Wasser die Rede, womit uns der Hirte versorgt. Da wird von seinem Schutz berichtet im finstern Tal und im Angesicht der Feinde. Und da freut sich das Schaf zum Schluss, dass es nicht ge­schlachtet und verzehrt wird, sondern für immer unter dem einen guten Hirten in der Herde bleiben darf, auch über das Ende dieser Welt hinaus: „Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Danke, mein lieber, guter Hirte Jesus Christus! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1987.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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