Moses unverschämte Bitte

Predigt über 2. Mose 33,17‑23 zum 2. Sonntag nach Epiphanias

Liebe Brüder und Schwestern in Christus,

Wir sind reich, Gott beschenkt uns reichlich. Du kannst dich täglich sattessen. Deine Wohnung ist geheizt. An Kleidung mangelt es dir nicht. Du kannst dich mehr oder weniger guter Gesundheit erfreuen, und wenn du krank bist, dann stehen dir Ärzte und Medikamente zur Verfügung. Du hast Gemein­schaft mit anderen Menschen. Du lebst in Frieden. Du darfst ungehindert deinen Glauben leben. Du gehörst zu einer Gemeinde, in der Gottes Wort gepredigt und die Sakramente getreu seiner Einsetzung verwaltet werden. Du gehörst zu einer Gemeinde, die Gott in vielerlei Weise reich gesegnet hat, mit einer schönen Kirche, mit guter Kirchen­musik, mit fröhlicher Gemein­schaft, mit mancherlei Angeboten der Glaubens­stärkung und Seelsorge für alle Alters­gruppen. Du hast einen Gott, der dir zuhört, wenn du mit ihm redest. Du hast einen Gott, der mitgeht, egal, ob dein Leben gerade oder krumme Bahnen nimmt. Du hast einen Gott, der dich tröstet, stärkt und fröhlich macht. Du hast einen Gott, der dich als sein Kind angenommen hat und der dich liebt, trotz deiner Sünde. Ja, wir sind sehr, sehr reich! Trotzdem haben viele von uns ein unruhiges Herz. Trotzdem zweifelt mancher daran, ob Gott denn wirklich mit ihm geht. Die Gründe können vielfältig sein. Den einen erschreckt die Schwäche seines Körpers: Die Kräfte nehmen ab, es geht nicht mehr so wie früher. Der zweite hat Angst vor Krebs. Der dritte kommt mit den Menschen in seiner Umgebung nicht klar. Der vierte hat wirtschaft­liche Sorgen. Der fünfte sorgt sich um die Umwelt. Der sechste hat Angst um den politischen Kurs Deutsch­lands und Europas. Den siebten lässt keine Ruhe, dass er in dieser Welt auf einem Pulverfass teuflischer Waffen sitzt. Diese Reihe der unruhigen Herzen könnte noch länger werden.

Einerseits reich unter Gottes Gegenwart, anderer­seits verzagt und voller Zweifel – so stand Mose einsam auf dem Berg Sinai, als sich diese merkwürdige Geschichte zutrug, die wir eben gehört haben. Ja, Mose war verzagt und enttäuscht; die Last der Ver­antwortung für das Volk Israel war ihm zu schwer geworden. „Wenn du nicht mitgehst, Gott, dann hat es doch überhaupt keinen Zweck, weiter­zuziehen. Dann führe uns doch nicht von hier weiter durch die Wüste ins Land Kanaan“, so hatte er kurz zuvor gesagt. Man bedenke, das sagt Mose! Mose, der aus dem brennenden Busch von Gott mit Namen gerufen und zum Anführer des Volkes Israel gesetzt wurde! Mose, der in Gottes Namen immer wieder mutig vor den Pharao getreten war und die zehn Plagen angekündigt hatte, bis Pharao die Israeliten ziehen ließ! Mose, der in erster Reihe dieses un­glaubliche Wunder miterlebt hatte, dass sich die Fluten des Schilfmeers teilten! Mose, der immer wieder erfuhr, wie Gott sein Volk tränkte, speiste und aus Gefahr errettete! Mose, der von Gott die Gesetzes­tafeln bekam! Mose, der in der Stiftshütte mit Gott redete, „wie ein Mann mit seinem Freund redet“, so der Origaltext der Bibel! Wie reich war Mose an Gottes­erfahrungen und an Beweisen der Güte des Herrn! Und doch war sein Herz nun verzagt. Weshalb? Wegen Israels Ungehorsam! Die Sache mit dem goldenen Kalb bildete eine frische Wunde, und die war nicht der einzige dunkle Fleck in der Geschichte des Gottes­volks. Würde Gott überhaupt noch weiter mitziehen? Mose bekam Zweifel, wurde deprimiert und verzagt. Der reiche Mose, der viele Male wie kein anderer Gottes Nähe erlebt hatte! Mose, ein Mensch wie du und ich: reich und doch verzagt. Und nun trat Mose mit einer Bitte vor Gott, die uns ganz unverschämt erscheint. „Lass mich deine Herrlich­keit sehen!“, sagte er. Gott hatte ihm schon so viel von sich gezeigt. Nun wollte Mose, dass auch noch die letzte Hülle fällt, dass Gott ihm so erscheint, wie er wirklich ist, in der Fülle seiner Herrlich­keit. Eine vermessene, eine un­verschämte Bitte! Es ist freilich die Bitte eines verzagten Herzens, das nicht mehr ein noch aus weiß und das Gewissheit erhalten möchte darüber, ob Gott denn überhaupt noch mitgeht.

Liebe Gemeinde, das können wir verstehen. Hast du nicht auch schon mal im Geheimen gewünscht, dass Gott die Hüllen Wort und Taufwasser und Brot und Wein fallen lässt und sich dir mit un­verhüllter Herrlich­keit zeigt? Im Traum vielleicht? Oder in einer Vision? Hättest du es gern, dass er dich einmal durch seinen eigenen über­irdischen Mund tröstet und leitet, nicht durch den Mund seiner mensch­lichen Boten auf Erden? So wie Mose sich wünschte: „Lass mich deine Herrlich­keit sehen“?

Das Ent­scheidende an dieser Geschichte ist nun, wie Gott mit dieser Bitte umgeht. Passen wir genau auf, was geschieht! Wir haben hier ein Muster­beispiel vor uns, wie Gott mit dem Gebet eines Menschen umgeht, selbst da, wo es eine so un­verschämte Bitte ist.

Zuallererst sagt Gott sein großes, gnädiges Ja. „Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorüber­gehen lassen und will dir kundtun den Namen des Herrn: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Ja, Mose, du sollst merken, dass Gott da ist und mitgeht. Er hört deine un­verschämte Bitte, er akzeptiert sie, er nimmt sie ernst. Denn von Anfang an hat er dich ja schon gerufen, dich in seinen Dienst gestellt und dir klar­gemacht: Er will dir gnädig sein, und durch dich dem ganzen Volk Israel. Er steht zu seinem Wort: Wem er Gnade versprochen und Gnade erwiesen habt, dem ist er auch weiter gnädig, mit dem geht er auch weiter mit. Und alle verzagten Herzen, die ihn auf dieser Grundlage anrufen und um Hilfe schreien, haben die Garantie, dass er sie erhört. Er sagt: Wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich wirklich, nicht nur halb, nicht nur zum Schein; nicht, um ihn wieder fallen zu lassen, wenn er mal einen Fehler macht.

Liebe Gemeinde, was für ein gewaltiger Trost! Was für eine Ermutigung zum Gebet! Wir dürfen bitten: „Gott, ich möchte mehr von dir erleben. Ich berufe mich darauf, dass ich dein Kind bin – in der Taufe hast du mich ja angenommen und sagst es mir seither immer wieder. Gott, geh mit mir mit in meinem Leben! Lass mich nicht im Stich! Und bringe mein Leben in Ordnung. Ich warte darauf, Gott, ich baue darauf, ich klammere mich fest daran! Wenn du mitgehst, wird alles gut!“ Ja, so dürfen und sollen wir beten, und wir dürfen dabei unsere ganz per­sönlichen Nöte vor ihn bringen: „Gott, geh mit, denn ich habe Angst, dass ich Krebs kriege!“ – „Gott, geh mit, denn ich komm in meiner Ehe nicht mehr klar!“ – „Gott, geh mit, mir graut vor Unfällen und Kata­strophen!“

Gott hörte die Bitte des Mose, aber er erfüllte sie nicht ohne Ein­schränkung. Er ließ Mose zwar spüren, dass er bei ihm ist, aber er zeigte ihm seine Herrlich­keit nicht so unverhüllt, wie Mose es wollte. Und er erklärte ihm, warum es nicht gut ist, Gott unverhüllt zu sehen: „Kein Mensch wird leben, der Gott sieht.“ Der weise Mose musste hier eine Lektion aus dem Kon­firmanden­unterricht nachholen, und wir wollen zusammen mit ihm diesen Nachhilfe­unterricht nehmen: „Kein Mensch wird leben, der Gott sieht.“

Liebe Gemeinde was ist am ge­fährlichsten? Die Klima­katastrophe? Ein Atomkrieg? Krebs? Aids? Nein, Gott! „Schreck­lich ist's, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen“, heißt es im Hebräer­brief (Hebr. 10,31). Wenn wir armseligen, verzagten, sündhaften und auf­geblasenen Menschen­kinder plötzlich Gottes unverhüllte Herrlichkeit vor uns sähen, müssten wir vergehen „wie Wachs in Feuers­hitz“. Ja, gefährlich ist es, wenn wir es mit Gott zu tun bekommen! Müssen wir hier nicht unser Gottesbild korri­gieren? Denken wir nicht zu schnell, Gott müsse immer gutmütig sein und dafür sorgen, dass es uns erträglich geht? Dann ist es kein Wunder, wenn das unsägliche Leid und Elend der Welt nicht in unser Gottesbild passt! Liebe Gemeinde, wir haben einen Gott, der Erdbeben, Hungers­nöte, Kriege und Kata­strophen zulässt, das lässt sich nicht leugnen. Und die Bibel sagt uns, dass wir darin etwas von Gottes Zorn erkennen, und zwar von Gottes be­rechtigtem Zorn über die Sünde. Auch die Tatsache, dass wir immer schwächer werden und das Herz eines Tages zu schlagen aufhört, haben wir der Sünde zu verdanken. Ja, es ist gefährlich, wenn wir es mit Gottes Zorn zu tun bekommen! Und die Dinge, die ich eben genannt habe, sind noch vergleichs­weise harmlos, weil dabei nur der Leib stirbt, nicht aber die Seele. Wer Gottes ganze Herrlich­keit unverhüllt zu Gesicht bekommen würde, der würde auch unverhüllt mit dessen Zorn kon­frontiert sein und müsste an Leib und Seele ver­schmachten. „Kein Mensch wird leben, der Gott sieht.“ Es gibt nichts Gefähr­licheres als Gott. Dass Mose diese Lektion gelernt hat, können wir übrigens im einzigen Mosepsalm nachlesen, dem 90. Psalm: „Das macht dein Zorn, dass wir so vergehen, und dein Grimm, dass wir so plötzlich dahin müssen.“

Nun will Gott aber gar nicht, dass wir um unserer Sünde willen zugrunde gehen. Deshalb verhüllt er seine Herrlich­keit, so wie er es bei Mose gemacht hat. Wir können uns das nicht genau vorstellen, was da am Berg Sinai passierte, aber wir können aus dem Bericht heraus­lesen: Gott kommt Mose so nahe, wie er nur irgend kommen kann, und beschützt ihn dabei gleich­zeitig vor der ver­nichtenden Glut seiner Gegenwart. Dann darf Mose hinter der Gottes­erscheinung hersehen und erkennen, dass es wirklich der Herr ist und dass Gott auf diese Weise wirklich sein Gebet erhört hat.

Liebe Gemeinde, so macht es Gott auch mit uns. Wir erfahren nicht mehr von seinem Zorn, als wir im Glauben ertragen können, ohne daran zugrunde zu gehen. Mehr noch: In seiner Gegenwart nimmt Gott so viel von seiner Herrlich­keit zurück, dass wir vor allem seine Güte und Liebe erkennen können. „Ich will all meine Güte vorüber­gehen lassen“, hatte er zu Mose gesagt. Und an Gottes Wort, an Gottes Zusage sollen wir festhalten. Wir haben es da sogar leichter als Mose. Denn in seinem Sohn Jesus Christus hat Gott vorgeführt, wie sehr er seine gefährliche Herrlich­keit zurück­nehmen und verbergen kann, um in Demut und Niedrigkeit seine Liebe und Barmherzig­keit zu beweisen. Auf dieser Grundlage lasst uns mit Gott in Verbindung bleiben und in unserer Verzagtheit immer wieder zu ihm treten. Gottes Zusage steht, dass Christi frohe Botschaft von der Barmherzig­keit und von der Sünden­vergebung sein letztes Wort ist für alle, die ihm vertrauen. Unsere Taufe, jeder Zuspruch der Sünden­vergebung und jede Abendmahls­feier verkündigen uns dies. Willst du mehr von Gott erleben, bist du unsicher und verzagt, dann wage es ruhig, so unverschämt um seine Gegenwart zu bitten wie Mose. Lass aber zugleich zu, dass Gott seine Gegenwart auf dieser Welt immer noch ein Stück weit verhüllt – zu deinem eigenem Schutz. Es gibt Situatio­nen, in denen du Gott hautnah spüren kannst; es gibt andere Situatio­nen, wo dir erst im Nachhinein, quasi im Hinterher­schauen, deutlich wird, dass Gottes Hand über dir war. Du kannst dir das erbitten. Aber lass dir an seiner Gnade genügen, denn Gott verhüllt die schreck­liche Seite seiner Gegenwart vor dir so weit, dass du seine Heiligkeit ertragen kannst – bis an den Tag, an dem dir zusammen mit Mose die Mosebitte bis ins Letzte erfüllt werden wird, weil du dann, an Leib und Seele ganz erneuert und geheiligt, im Himmel unter Gottes un­verhüllter Herrlich­keit leben wirst. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1987.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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