Das Erste Gebot

Predigt über 5. Mose 5,6‑7 zum Altjahrsabend

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wer ab und zu ins Theater geht, wird diese Art der Bühnen­bild­gestaltung kennen: Die Bühne liegt im Halbdunkel, und mehrere Schauplätze sind durch Kulissen nur angedeutet. Die Schauplätze und die ent­sprechenden Personen werden im Lauf des Stücks durch Schein­werfer aus dem Halbdunkel der Bühne heraus­gehoben. Mit so einer Bühne können wir Gottes Wort in unserm Leben ver­gleichen. Es gibt eine Fülle wichtiger Sätze in der Bibel, die wir nicht alle auf einmal verarbeiten können. Daher ist es sinnvoll, bestimmte Verse wie mit einem Schein­werfer an­zustrah­len und ihnen besondere Aufmerksam­keit zu schenken.

Das Schein­werfer­licht unseres Interesses soll zu diesem Jahres­wechsel auf die beiden Verse aus dem 5. Buch Mose gerichtet sein, die uns als das 1. Gebot vertraut sind. Wir wollen diese Worte an der Schwelle zu einem neuen Jahr einmal durch­buchsta­bieren: „Ich bin der HERR, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Es handelt sich dabei gewisser­maßen um die Überschrift der Zehn Gebote. Zweimal sind uns diese Verse im Alten Testament über­liefert: Einmal hat Mose sie dem Volk Israel am Berg Sinai überbracht, zu Beginn der Wüsten­wanderung. Und 40 Jahre später, kurz vor dem Einzug ins verheißene Land Kanaan, erinnerte der greise Mose die inzwischen neu heran­gewachsene Generation an Gottes Gebote. Lasst uns diese Worte nun Stück für Stück betrachten.

Ich bin der HERR“, so lautet die Über­schrift. Da stellt sich jemand vor. Wir würden hier einen Namen erwarten. Wenn ich mich vorstelle, sage ich: Ich bin Matthias Krieser. Tatsächlich finden wir im hebräischen Urtext auch einen Namen an dieser Stelle. „Ich bin Jahwe“, steht da. Seit der Babylo­nischen Gefangen­schaft trauten sich die Juden aber nicht mehr, diesen hoch­heiligen Gottesnamen aus­zuspechen, denn sie fürchteten, sie könnten ihn miss­brauchen. Stattdessen satgen sie „der Herr“, oder auf hebräisch: „Adonaj“. Das hat sich in den meisten Bibel­über­setzungen bis hin zu unserer Lutherbibel ausgewirkt. Übrigens ist es im Mittelalter durch mangelnde Kenntnis der hebräischen Sprache dazu gekommen, dass der Gottesname Jahwe und das Wort Adonaj lautmäßig vermischt wurden zu der Form „Jehova“. Jahwe, Jehova und HERR, das meint also alles dasselbe und steht für Gottes Namen, mit dem sich der Allmächtige in der Überschrift der Zehn Gebote vorgestellt hat.

Nun ist Gottes Name nichts Zufälliges. Vielmehr zeigt sich an diesem Namen, wer er ist – oder vielmehr, wie er sich uns Menschen zeigt, denn sein geheimnis­volles Wesen kann kein Mensch ganz erfassen. Mit dem Namen Jahwe hat sich Gott Mose bereits am brennenden Dornbusch vorgestellt und hat ihm auch gleich die Bedeutung dieses Namens genannt: „Ich werde sein, der ich sein werde“ (2. Mose 3,14) . Man könnte die Namens­bedeutung auch so wieder­geben: „Ich bin der, als der ich mich jeweils erweise und den Menschen zeige.“ Was bedeutet das? Es heißt nichts anderes, als dass Gott für uns Menschen zunächst einmal unverfügbar ist. Wir haben keine Ansprüche an ihn zu richten, wie er zu sein hat oder was er zu tun hat oder was er uns geben muss oder was er nicht zulassen darf. Mit mensch­lichen Ansichten und Philo­sophien können wir nichts von ihm erkennen. Es ist vielmehr Gottes Recht, über uns zu verfügen: Er kann uns erscheinen, wie er will; er kann uns Gebote geben; er kann sich auch verborgen halten oder uns bei unseren Fragen ohne Antwort lassen. Das Volk Israel erfuhr das in seiner Geschichte oft genug, und wir haben in der Bibel die Kunde davon: Gott zeigte sich mächtig am Schilfmeer; Gott gab die Gebote am Berg Sinai; Gott zeigte sich barmherzig, als er in der Wüste Wasser und Manna gab; Gott strafte auch immer wieder in für uns un­verständ­licher­weise; Gott hielt sich für einen Mann wie Hiob lange Zeit verborgen und gab ihm auch am Ende keine schlüssigen und logisch be­friedi­genden Antworten auf seine Fragen. „Ich bin Jahwe; ich werde sein, der ich sein werde“, so stellt sich Gott vor, und wir erkennen, dass die Übersetzung „Ich bin der HERR“ die Bedeutung von Gottes Namen gut trifft.

Ist Gott also ein Gott der Willkür, der immer wieder als un­berechen­bares Schicksal über uns herein­bricht? Gott macht bei seiner Vorstellung in der Überschrift der Zehn Gebote einem Zusatz, der dieses Miss­verständnis abwehrt: „Ich bin der HERR, dein Gott.“ Zwar ist Gott an sich für Menschen ganz und gar un­verfüg­bar, aber er macht sich verfügbar für sein Volk und für alle, die ihn suchen, indem er sagt: Ich bin dein Gott, ich trete mit dir in eine lebendige Beziehung, ich bin für dich da. Gott hätte das Recht, sich völlig willkürlich zu erweisen oder auch sich ganz verborgen zu halten; aber er benutzt diese seine Freiheit gerade dazu, mit uns Menschen in eine Beziehung zu treten und sich damit auch in gewisser Weise zu binden. Wie diese Beziehung aussieht und wie sich Gott darin erweist, darüber gibt uns die Heilige Schrift reichlich Zeugnis. Und da lernen wir, dass Gottes Beziehung zu uns Menschen von grenzen­loser Liebe und Barmherzig­keit bestimmt ist. Selbst dort, wo er zürnt und straft, tut er es immer mit der Absicht, dass Menschen sich bekehren und in die lebendige Beziehung zu ihm ein­willigen. Den größten Beweis für seine Liebe und Barmherzig­keit hat er uns durch Jesus Christus gegeben. Als Jesus von Nazareth hat Gott den Satz „Ich bin dein Gott“ näher erklärt: „Ich bin das Licht der Welt“, „Ich bin das Brot des Lebens“, „Ich bin der gute Hirte“, „Ich bin die Auf­erstehung und das Leben“, „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“.

Dass Gott unser Gott sein will, mag uns selbst­verständlich erscheinen. Die meisten von uns haben ihn ja von klein auf so kennen­gelernt. Wir meinen: Es ist sozusagen Gottes Beruf, für uns da zu sein, uns zu vergeben, uns zu erlösen, uns zu segnen, uns zu helfen. Machen wir uns aber einmal klar, was dahinter steckt. Menschlich gesprochen, ist Gott mit dem Experiment Mensch ein ungeheures Risiko ein­gegangen. Er hat ein Wesen „nach seinem Bild“ geschaffen; ein Wesen also, das sich für gut oder böse frei entscheiden konnte; ein Wesen als sein Gegenüber. Menschlich gesprochen misslang dieses Experiment: Der Mensch entschied sich für das Böse, und das hat bis heute seine fatalen Folgen. Nun wäre es das Natür­lichste von der Welt, dass Gott sich von seiner Schöpfung abwendete – so wie der Töpfer einen be­arbeiteten Tonklumpen wegwerfen und einen neuen nehmen kann (dieses Gleichnis ist übrigens biblisch). Aber Gott läuft diesen Menschen, die nichts mit ihm zu tun haben wollen, immer wieder hinterher, wirbt um sie, mahnt sie, straft sie, segnet sie, beschenkt sie, liebt sie, stellt sich ihnen als ihr Gott vor. Schließlich lässt er sich zu dem un­begreif­lichen Liebes­handeln herab, selbst ein Mensch zu werden und sich zu erniedrigen „bis hin zum Tode am Kreuz“ (Phil. 2,8) – damit wir Menschen eine letzte Chance kriegen, mit ihm versöhnt zu werden. „Ich bin der HERR, dein Gott“ – ja, das gilt bis heute.

Du sollst“, geht es dann weiter. Alle folgenden Gebote beginnen so. Dieses „Du sollst“ gibt allerdings nur schwach wieder, was der hebräische Urtext meint. In der deutschen Übersetzung hören wir gewisser­maßen immer einen erhobenen Zeigefinger mit. Eigentlich steckt in dem „Du sollst“ auch ein „Du kannst“ und „Du darfst“ mit drin. Diese zwei Wörtchen hängen wie eine Anhänger­kupplung die Gebote an ihre Überschrift an. Es ist so zu verstehen: „Ich bin der HERR, dein Gott, und darum sollst du, kannst du, darfst du…“ Die Gebote sind kein Gesetzes­katalog, mit dem ein klein­karierter Gott die Menschen ärgern und reglemen­tieren will. Sie sind vielmehr grund­legende Orien­tierungs­hilfen, wie wir in der Beziehung zu Gott und zu unsern Mitmenschen angemessen leben können. Die Zehn Gebote sind sozusagen die Gebrauchs­anweisung für gutes Leben; wer sie befolgt, der wird sich und anderen dauerhaft Freude bereiten. Wer sich aber darüber hinweg­setzt, wird mit seinem Leben scheitern. „Die Zehn großen Freiheiten“ werden die Gebote deshalb auch manchmal genannt.

Wie positiv wir dieses „Du sollst“ verstehen können, möchte ich mit einer kleinen Geschichte ver­deutlichen. Ein Bauer bestellt an einem Sonntag sein Feld. Da sieht er seinen Kollegen im Gras liegen und faulenzen. Er spricht ihn an: „Warum arbeitest du nicht? Hast du nichts zu tun?“ Der Kollege antwortet: „Das schon; aber ich arbeite heute nicht, weil Gott geboten hat: Sechs Tage sollst du arbeiten, aber am siebenten Tage sollst du ruhn.“ Der erste Bauer erwidert vorwurfs­voll: „Du befolgst dieses Gebot ja nur, weil es dir einen Vorteil bringt und du so mit gutem Gewissen faulenzen kannst.“ Darauf der andere: „Genau richtig. Dazu hat Gott uns ja die Gebote gegeben: dass sie uns Menschen Vorteile bringen!“

Was nun den Inhalt der Gebote anbetrifft, so beschränken wir uns hier auf das 1. Gebot: „Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.“ Gibt es überhaupt andere Götter? Ja und nein. Es gibt ebensoviele Götter, wie es Eiffeltürme gibt. Das heißt, es gibt nur einen wirklichen Eiffelturm, aber es gibt darüber hinaus unzählige Modelle, die in Souvenirläden angeboten werden. Solche Modell-Götter beschaffen sich Menschen immer dann, wenn sie sich vom wahren Gott entfert haben. Martin Luther sagte von solcher Ersatz­befriedigung des mehr oder weniger unbewussten Triebs, einen Gott haben zu wollen: „Woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott“ (Großer Katechismus, zum 1. Gebot). Ich könnte jetzt lang und breit Beispiele nennen, was denn solche Ersatz­götter im Leben der Menschen sind. Für das Volk Israel waren es die Götzen­bilder der Nachbar­völker. In der heutigen Zeit werden immer wieder Besitz, Idole, der Fußball oder die Sternbilder genannt. Solche Götzen können wir freilich leicht durch­schauen. Mit einem anderen Götzen dagegen haben auch wir Christen immer wieder unsere Probleme und befinden uns deshalb immer an der Schwelle zur Untreue gegen den einen wahren Gott und dieses Gebot. Ich meine den Gott „Ego“, zu deutsch „Ich“. Der Götze Ego fragt: Was schmeichelt dir? Was ist dir angenehm? Wie kannst du dich am besten selbst ver­wirklichen? Willst du lieber zur Kirche gehen oder aus­schlafen? Musst du dir von anderen Menschen wirklich etwas gefallen lassen? Warum kriegen andere so viel, und du kriegst so wenig? Warum sollst du dich abmühen, wenn andere für dich arbeiten? Das Leben ist hart genug, warum sollst du dich nicht zerstreuen und dein Vergnügen suchen? Auch im Neuen Testament hatte dieser Gott schon einen Namen, er hieß „Bauch“. Im Philipper­brief schrieb Paulus von den Gottlosen: „Ihr Gott ist ihr Bauch“ (Phil. 3,19).

Wenn es uns mit Gottes Hilfe gelingt, diesem Gott Ego (oder wie er sonst heißen mag) eine Absage zu erteilen, dann werden uns auch weitere Götter nicht mehr gefährlich werden. Und dann können wir das 1. Gebot, aus dem sich die weiteren alle von herleiten lassen, als große Freiheit empfinden, so wie es von Gott gemeint ist. Wenn aber unsere Schwachheit uns verführt, doch einmal einem anderen Gott zu dienen, dürfen wir uns zurückrufen lassen von dem Herrn, der unser wahrer Gott ist, der uns durch Christus liebt, der uns vergibt und der uns mit un­ermess­licher Geduld immer wieder neu seine Gemein­schaft schenkt. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1985.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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