Der gute Hirte und die guten Schafe

Predigt über Psalm 23 zum Sonntag Miserikordias Domini

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Das Bild vom Hirten und seinen Schafen findet sich an vielen Stellen in der Heiligen Schrift. Gott heißt schon im Alten Testament der Hirte Israels. Die Regierenden der Israeliten und ihrer Nachbar­völker werden ebenfalls Hirten genannt. Jesus bezeichnete sich als guten Hirten, der sein Leben für die Schafe lässt; auch geht er dem verlorenen Schaf nach (Joh. 10,11; Matth. 18,12‑14). Schließlich heißen die Menschen, die Kirche und Gemeinde im Auftrag Jesu weiden, seit ur­kirchli­chen Zeiten ebenfalls Hirten, auf lateinisch Pastoren. Von daher verdient das Bild des Hirten durchaus einen eigenen Sonntag im Kirchen­jahr: der Sonntag Miseri­kordias Domini, der Hirten­sonntag.

Der 23. Psalm, den wir eben als Predigttext gehört haben, ist die berühmteste und zugleich schönste Bibel­stelle, in der Gott mit einem Hirten verglichen wird, und wir mit seinen Schafen. Vielleicht ist der Hirtenpsalm sogar die berühmteste Bibelstelle überhaupt. Lasst uns seine Worte nun im einzelnen betrachten und an ihnen erfahren, wie gut es Gott als Hirte mit uns meint. Lasst uns aber ebenfalls bedenken, wie wir uns als gute Schafe verhalten sollen.

Da ich selbst keinerlei Erfahrungen mit wirklichen Hirten und Schafherden haben, möchte ich einen Experten heranziehen. Es ist der aus dem Baskenland stammende Hirte Alfonso, der heute in den Vereinigten Staaten von Amerika lebt. Vor einigen Jahren erschienen in einer großen Zeitschrift seine Gedanken zum 23. Psalm, und die möchte ich in meine Auslegung ein­beziehen.

Der Psalm beginnt mit den Worten: „Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln.“ Schafe sind auf Leitung angewiesen. Alfonso sagt: „Sie wissen instinktiv, dass ihr Hirte sie dahin bringen wird, wo sie eine Weide finden. Sie machen sich keine Sorgen um das, was sie am nächsten Tag fressen werden.“ Wir denken dabei an Jesu Worte, dass wir uns nicht um unser tägliches Auskommen zu sorgen brauchen. Wir können uns darauf verlassen, dass uns der himmlische Vater alles gibt, was wir brauchen. Ein bisschen voraus­schauende Planung ist zwar ganz gut, aber niemand sollte meinen, er verdanke sein tägliches Brot der eigenen Klugheit und Umsicht. Eigentlich können wir nur immer wieder täglich die vielen guten Dinge dankbar aus Gottes Hand nehmen – so wie Schafe, die vom Hirten auf gutes Weideland gebracht werden. Der gute Hirte sorgt für uns; wir nehmen diese Fürsorge dankbar an und vertrauen auch für die Zukunft auf sie. Die Worte „Mir wird nichts mangeln“ sind nichts anderes als ein Ausdruck des Vertrauens, sozusagen der 1. Artikel des Glaubens­bekenntnis­ses.

Weiter heißt es im Psalm: „Er weidet mich auf grüner Aue.“ Wörtlich steht da: „Er lässt mich auf grüner Aue liegen und ruhen.“ Von Alfonso erfahren wir, dass Schafe zwischen vier und zehn Uhr morgens weiden. Dann legen sie sich hin und beginnen mit dem Wieder­käuen. Ein guter Hirte sorgt dafür, dass die Schafe morgens Flächen mit härteren und schwerer verdau­lichen Pflanzen abweiden; danach können sie dann auf saftigen grünen Auen zur Ruhe zu kommen. Nun haben wir als Schafe Gottes keinen so un­komplizier­ten Lebens­rhytmus. Aber wir dürfen uns ganz und gar darauf verlassen, dass unser guter Hirte uns zu jeder Zeit auf genau die richtige Weide führt. Wenn einer das Gefühl hat, Gott führe ihn gerade auf eine herbe Weide, dann denke er daran, dass Gott ihn auch zu gegebener Zeit auf grüner Aue ausruhen lassen wird. Im 1. Ko­rinther­brief heißt es: „ Gott versucht niemand über seine Kraft (1. Kor. 10,13). Gott weiß genau, zu welchen Zeiten er einen Menschen geistlich oder leiblich fordern kann und wann er Ruhe braucht. Niemand frage: Warum ich?, und niemand sehe neidisch auf das Nachbar­schaf. Der gute Hirte gibt allen zur rechten Zeit, was gut ist. Gute Schafe nehmen auch die herbe Weide dankbar an.

Weiter heißt es im Psalm: „Er führt mich zum frischen Wasser.“ Auch diese Übersetzung muss erläutert werden: „Wasser der Ruhe“ steht im hebräischen Text. Alfonso weiß, dass Schafe kein sprudelnd dahin­fließendes Wasser trinken mögen. Der gute Hirte wird seine Schafe also dahin führen, wo das Wassers einiger­maßen ruhig ist. Wenn wir an Jesus denken, dann wissen wir, mit welchem Wasser er uns erquickt: Es ist der Heilige Geist, der durch die Predigt des Evangeliums und durch das Heilige Abendmahl unseren Glaubens­durst löscht. Als gute Schafe sollen wir dieses Wasser nicht schnell an uns vorüber­fließen lassen, wir sollen uns nicht mit einem ober­fläch­lichen geistlichen Leben zufrieden geben. Der gute Hirte führt uns zu ruhigem Wasser: Er hat uns einen Ruhetag gestiftet, an dem wir uns, frei von Arbeit und Alltags­verpflich­tungen, im Gottes­dienst am frischen Wasser seines Wortes laben können. Auch über den Sonntag hinaus können wir uns in häuslichen Andachten und im stillen Bedenken von Gottes Wort geistlich erfrischen. Lassen wir uns also als gute Schafe zum ruhigen Wasser führen; nehmen wir uns Zeit für Gottes Wort!

Weiter heißt es: „Er erquickt meine Seele. Er führt mich auf rechter Straße um seines Namens willen.“ Alfonso weiß zu berichten, dass die Schafe im Heiligen Land immer eine bestimmte Weide­ordnung einhalten. An der Stelle in der Herde, wo sie morgens zu weiden beginnen, tun sie es den ganzen Tag über. Das ist die „rechte Straße“, der rechte Fleck, den der Hirte für jedes seiner Schafe bestimmt hat. Außerdem nimmt sich ein guter Hirte täglich für jedes seiner Schafe ein wenig Zeit, ruft es zu sich und streichelt es. So erquickt der gute Hirte die Seele. Unser himmlischer Hirte weiß für jedes seiner Menschen-Schafe eine „rechte Straße“, also eine gute Lebens­ordnung. Jeder von uns hat seinen gott­gewollten Platz: als Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Großvater, Großmutter, Lehrer, Schüler, Hausfrau, Chef, An­gestellter oder was immer es sei. Diese Stelle wird ein gutes Schaf dankbar von Gott annehmen und das Beste daraus zu machen suchen. Jeder wird an seinem Platz versuchen, so gut wie möglich seinen Mitmenschen zu dienen und Gott zu gefallen. Eine solche Lebens­haltung mag heute vielen überholt erscheinen. Aber wir müssen bedenken, dass das Wort des Hirten, also das Wort Gottes, keine Re­volutionen und Gesell­schafts­verände­rungen anregt. Vielmehr sind wir dazu angehalten, dass jeder an seinem Platz bleibt und an dieser Stelle Liebe übt. Die Liebe des Hirten wird er an diesem seinen Platz auch immer wieder zu spüren bekommen. Er kann im Gebet zu ihm kommen und wird in Andachten oder stillen Zeiten Erquickung seiner Seele finden.

Weiter heißt es: „Und ob ich schon wandere im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück. Denn du bist bei mir; dein Stecken und Stab trösten mich.“ Alfonso kennt ein Tal des Todes­schattens – eine steile, unwegsame Gebirgs­schlucht in Palästina, durch die öfters Schafherden getrieben werden müssen. An einigen Stellen ist das Tal nur wenige Meter breit. Der felsige Boden hat Spalten und Löcher, in die leicht eines der Schafe stürzen kann. In diesem finsteren Tal lauern auch wilde Tiere. Wenn eines der Schafe in ein Loch gefallen ist, benutzt der Hirte seinen Stab, um es heraus­zuziehen. Die Rundung des Stabes wird dabei um den Hals oder die Brust des Tieres gelegt. Gleich­zeitig dient der Hirtenstab als Waffe gegen wilde Tiere. Unsere Erfahrung als Schafe Gottes lehrt uns ebenfalls, dass wir nicht immer auf grünen Weiden und an ruhigen Wassern liegen können. Im Leben eines jeden Christen muss das Tal der Finsternis durchquert werden – oft sogar mehrmals. Und einmal wird es im wahrsten Sinne des Wortes das Tal des Todes­schattens sein. Wie gut zu wissen, dass der gute Hirte dann dabei ist und dass man sich auf ihn und seinen Stab verlassen kann! Wenn die Seele in Angst und Ver­zweiflung fällt, wenn der Satan mit schwerer Anfechtung oder Unglück über uns kommt, dann können wir uns nicht durch unsere eigene Glaubens­kraft retten, dann hilft nur der Stab des Hirten, der uns herauszieht und den Feind abwehrt. Der gute Hirte scheut dabei sein eigenes Leben nicht; in der heutigen Evangeliums­lesung haben wir es wieder gehört: „Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ Ja, er hat sein Leben für uns gelassen, hat selbst die Schrecken in der Schlucht des Todes­schattens durch­litten, damit wir niemals tiefer fallen können als in die Arme Gottes.

Weiter heißt es: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“ Im Heiligen Land gibt es Gift­pflanzen, die ein Hirte unter Umständen erst beseitigen muss, ehe er seine Schafe auf eine neue Weide lässt. Dies, sagt Alfonso, sind die Feinde, von denen der 23. Psalm spricht. Das bedeutet im über­tragenen Sinn: Die Speise, die uns tödlich vergiften kann, ist die Sünde. Der gute Hirte hat sie durch das Opfer seines Lebens für uns aus­gerottet. Zwar sehen wir in unserem Leben die Sünde noch immer, aber sie schadet uns nicht mehr. Gute Schafe bleiben deshalb auf der guten und sünden­freien Weide, die der Hirte ihnen bereitet hat, und haben kein Verlangen, auf Abwegen zu gehen.

Weiter heißt es: „Du salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein.“ Afonso erklärt: Jeder gute Hirte in Palästina hat zwei Tongefäße, eins mit Olivenöl und eins mit Wasser. Mit dem Öl werden Ver­letzungen der Tiere behandelt. Das Wasser dient zu einen er­frischenden Trunk am Abend. Der gute Hirte sorgt dafür, dass das Wassergefäß immer randvoll ist. Weil das Wasser durch den un­glasierten Ton verdunsten kann, ist es stets gut gekühlt. Mit diesem Bild erkennen wir ein weiteres Mal die liebevolle, barmherzige und über­reichliche Zuwendung unseres guten Hirten. Uns als guten Schafen kann bei soviel Liebe und Zuneigung nur das Herz übergehen vor lauter Freude und Dank­barkeit.

Was aber, wenn ich Gott so nicht erfahre? Wenn ich stattdessen Krankheit, Schmerzen, Angst und Trauer erlebe? Und wenn ich an die vielen Menschen denke, die noch weniger von Gottes Güte merken? Keiner von uns kann damit rechnen, dass er in ewiger Gesundheit und allezeit gut versorgt leben wird. Und doch heißt es bereits im Alten Testament, und zwar am Ende des 23. Psalms: „Ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Das ewige Leben hat der gute Hirten seinen Schafen ein für allemal erworben – das erkennt der Glaube, und das steht fest. Da ist natürlich noch das Tal des Todes­schattens, da sind die Feinde, da sind die Gift­pflanzen. Ja, Krankheit, Angst, Trauer und Tod müssen kommen, das hat Jesus uns klar an­gekündigt. Und doch weiß jedes gute Schaf, dass „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“ (Römer 8,28). Ja, auch das, was uns schlecht vorkommt, dient uns letzlich zum Besten und gehört deshalb zur Barmherzig­keit unseres guten Hirten. Er sorgt auch und gerade in den dunklen Stunden des Lebens dafür, dass unsere Seele nicht Schaden leiden und sterben, sondern ewig bei Gott bleiben wird, im „Hause des Herrn“. Freuen wir uns doch schon auf die fette Weide des Himmels, wo unseren Seelen vollendete Ruhe verheißen ist! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1985.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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