Woran Gott Gefallen hat

Predigt über Jesaja 58,1‑9a zum Sonntag Estomihi

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Da hat es Jesaja den Juden aber gegeben! So könnten wir über diese Worte urteilen und uns mit einigen tausend Jahren Abstand behaglich zurück­lehnen. Wie konnten die Juden damals auch meinen, dass sie durch bestimmte Fasttage Gottes Wohl­gefallen wieder­erlangen würden, nachdem sie manche Niederlage erfahren und ihre Un­abhängig­keit verloren hatten! Meinten sie wirklich, Gott ließe sich davon be­eindrucken, wenn man „seinen Kopf hängen lässt wie Schilf und in Sack und Asche sich bettet“? Wenn man für einen Tag auf Speise und Trank verzichtet? Wenn aber zugleich dieses äußere Ritual der Buße überhaupt nicht der inneren Haltung entspricht? Wenn gleich­zeitig die unter­gebenen Lohn­arbeiter weiterhin geplagt und misshandelt werden oder wenn Armen hartherzig das lebens­notwendige Almosen vor­enthalten wird? Nein, solche Krokodils­tränen durchschaut Gott sofort; eine solche Buß-Schau ist eine Beleidigung des All­mächtigen.

Da hat es Jesaja aber vielen Kirch­gängern gegehen! So könnte mancher versucht sein, den Text für unsere Zeit zu deuten. Die Menschen, die sich selbst für fromm halten, haben sich doch seit damals kaum geändert. Wieviele meinen, sie könnten durch ihr trauriges Gesicht am Karfreitag Gott einen Gefallen tun! Wieviele knien mit büßender Gebärde im Beicht­gottes­dienst, sind aber zugleich beim Empfang der Sünden­vergebung innerlich so unbeteiligt wie beim Leeren ihres Haus­brief­kastens! Wieviele gehen sonntags zur Kirche und sehen hinterher genauso unerlöst aus wie vorher! Wieviele sogenannte Christen sind un­freund­licher und liebloser als manch anderer Zeit­genosse! Wie viele meinen, mit ihren Tisch­gebeten und Andachten könnten sie Pluspunkte bei Gott sammeln! Wie viele haben fromme Sprüche in ihren Wohnungen hängen, spiegeln aber nichts davon in ihrem Leben wieder! Nein, Gott hat kein Gefallen an solcher Kirchen­frömmig­keit, wenn sie nicht aus dem Herzen kommt, sondern mit der Berechnung geschieht, man könne auf diese Weise Gottes Wohl­gefallen erlangen.

Da hat es Jesaja aber den Industri­ellen und Groß­grund­besitzern gegeben! Es ist sehr beliebt, die sozialen Anklagen der alt­testament­lichen Propheten direkt in die Gegenwart zu übertragen. Klingt das alles nicht sehr aktuell? „Siehe, an dem Tag, da ihr fastet, geht ihr doch euren Geschäften nach und bedrückt alle eure Arbeiter.“ Da sieht man vor seinem inneren Auge den Unternehmer vor sich, der am Sonntag, kaum ist der Gottes­dienst vorbei, über seine Geschäfts­unterlagen gebeugt sitzt und überlegt, wie er noch größere Gewinne erzielen kann. Da fallen einem die sagenhaft Reichen in unter­entwickel­ten Ländern ein, deren Arbeiter kaum sich selbst und ihre Familien ernähren können. Exportieren sie nicht Kaffee, Tabak und exotische Früchte um ein Vielfaches dessen, was die Land­arbeiter dafür bekommen? Wollen das nicht auch fromme Christen sein? Gilt ihnen nicht direkt Jesajas Wort: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“?

Wenn wir länger darüber nachdenken würden, dann würde uns gewiss noch eine ganze Reihe von Menschen einfallen, denen es Jesaja hier gegeben hat – Menschen in der Nähe und in der Ferne, Menschen aus Vergangen­heit und Gegenwart. Immer gab es und überall gibt es solche, die mit ober­flächlicher Frömmigkeit und äußerlichem Gottes­dienst das Wohl­gefallen des Schöpfers erlangen wollen, die aber gleich­zeitig ihre Mitmenschen lieblos behandeln und damit ihre wahre Herzens­haltung verraten. Aber wir sollten vorsichtig sein. Wenn wir dieses kräftige Propheten­wort anderen entgegen­schleudern, dann kann es sehr leicht wie ein Bumerang zurück­kehren. Wie war doch gleich das Wort Jesu mit dem Splitter und dem Balken? „Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ (Matth. 7,3) Wer von uns geht denn wirklich nur aus Freude an Gottes Wort und Sakrament zum Gottes­dienst? Wer geht wirklich deshalb zur Beichte, weil ihn seine Sünden quälen und er sie los werden will? Bei jedem ist wohl immer auch der üble Gedanke im Spiel, man würde durch solch frommes Verhalten Wohl­gefallen bei Gott gewinnen, sowie auch Ansehen bei den Mit­christen. Und wie stimmt unser Alltags­leben überein mit dem, was wir in der Kirche hören und bekennen? Jesaja klagt an: „Siehe, wenn ihr fastet, hadert und zankt ihr und schlagt mit gottloser Faust drein.“ Die Faust muss ja nicht immer aus Fleisch und Blut bestehen; Worte können manchmal noch mehr verletzen. Hast du nicht auch schon mal an einem Sonntag deinen Ärger an jemandem aus­gelassen? Hast du deinen Haus­genossen lieblose Worte gesagt an einem Tag, den ihr gemeinsam mit Gottes Wort und mit Gebet begonnen habt? Gott sagt durch Jesaja: „Das ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast, lass ledig, auf die du das Joch gelegt hast! Gib frei, die du bedrückst; reiß jedes Joch weg!“ Ein Joch ist ein schweres Gestell, das Ochsen aufgelegt wird, damit sie einem Wagen oder einen Pflug ziehen. Im über­tragenen Sinn werden wir immer wieder schuldig, weil wir unseren Mitmenschen Joche auflegen. Was für ein Joch kann ein Ehemann seiner Frau auflegen, wenn er ihre täglichen treuen Dienste für selbst­verständlich hält, auf die Zeichen ihrer Liebe nicht mehr reagiert oder sich Gesprächen mit ihr entzieht! Was für ein Joch kann eine Frau ihrem Mann auflegen, wenn sie ständig ihre Un­zufrieden­heit über ihn äußert, ihn kritisiert oder ihn in der Öffentlich­keit lächerlich macht! Welches Joch können Kinder ihren Eltern auflegen durch Ungehorsam und Lieb­losig­keit! Welches Joch können Eltern ihren Kindern auflegen, wenn sie sie nicht ernst nehmen oder wenn sie keine Zeit für sie haben! Welches Joch können Schüler ihren Lehrern auflegen! Welches Joch können Chefs ihren An­gestellten auflegen, aber auch umgekehrt! Welches Joch legen wir manchmal Behörden­angestellten oder Verkäufern auf, wenn wir unseren Ärger über ihre Institution oder ihre Firma an ihnen auslassen, obwohl sie persönlich gar nichts für den Missstand können! Welches Joch legen sich Nachbarn zuweilen auf! Keiner, der einmal darüber nach­zudenken beginnt, kann sich Jesajas Anklage entziehen. Und wer wollte schon von sich behaupten, er bräche dem Hungrigen genug von seinem Brot ab? Wie oft haben wir gehört, dass unsere Spenden für die Bedürftigen dringend nötig sind, und wie oft haben wir uns das auch schon selbst gesagt! Aber geben wir genug? Viele von uns in Deutschland trifft dieselbe Schuld wie die oben erwähnten Reichen in den Ent­wicklungs­ländern, auch wenn wir die Ärmsten der Welt nicht unmittelbar vor der Haustür haben.

Wir müssen also erkennen: Wenn wir dieses Propheten­wort ernst nehmen, dann betrifft und trifft es uns ebenso wie die Menschen damals. Wir können uns nicht behaglich zurück­lehnen und es andern vorhalten. Wir haben es hier mit einer Gesetzes­predigt Gottes zu tun, die auch uns anklagt. Und Gottes Gesetz tut hier genau das, was Paulus im Römerbrief darüber gesagt hat: „Was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, auf dass aller Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei, weil kein Fleisch durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht sein kann“ (Römer 3,19‑29). Wenn wir uns diese Gesetzes­predigt also gesagt sein lassen, dann kann nur eines dabei heraus­kommen: Uns allen wird dadurch der Mund gestopft; wir verstummen betroffen. Wir Heutigen haben genauso­wenig wie die Juden damals gelernt, uns so zu verhalten, dass wir die Verheißung am Ende des Propheten­wortes auf uns beziehen könnten: „Dann wird dein Licht hervor­brechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voran­schreiten, und deine Gerechtig­keit wird vor dir hergehen, und die Herrlich­keit des Herrn wird deinen Zug be­schließen.“

Nun dürfen wir aber wissen und immer wieder aufs Neue erfahren, dass wir eben nicht mehr unter dem Gesetz sind. Ein anderer hat das Gesetz für uns erfüllt, und durch ihn bekommen wir den Segen. Im Leben Jesu war Fasten und Barmherzig­keit, Liebe und Gottes­dienst eine derart wunderbare und vollkommene Einheit, dass er als einziger diesem Propheten­wort gerecht geworden ist. Die Schuld aller anderen Menschen aber, auch unsere Schuld, hat Jesus auf sich genommen, sodass wir im Glauben Zuflucht bei ihm finden und wissen dürfen: Nun hat Gott dennoch Wohl­gefallen an uns – aber nicht, weil wir dem Gesetz gehorsam waren, sondern weil Jesus gehorsam war.

Wenn wir diese frohe Botschaft zu Herzen nehmen, geschieht zweierlei.

Erstens können wir nicht mehr uns oder andere mit Gesetzes­worten wie diesem ver­urteilen. Wenn wir mit der Vergebung ernst machen, dürfen wir nicht mit dem Finger auf andere zeigen und ihr Christsein in Frage stellen. Das Christsein steht und fällt ja nicht mit dem, was wir tun, sondern damit, ob wir annehmen, was Christus für uns getan hat.

Zweitens können wir sagen, dass wir die wahre Liebe nun eigentlich erst kennen­gelernt haben. Größere Liebe bekommen wir nirgendwo anders vorgelebt als im wunderbaren Evangeliums-Tun des dreieinigen Gottes, in seinem Erlösungs­werk. Und weil wir nun die Liebe so kennen, werden wir fähig, selbst zu lieben. Wir fangen an, aus Liebe zu Gott zu „fasten“, nämlich innerhalb und außerhalb des Gottes­dienstes die Gemein­schaft mit Gott zu leben. Wir fangen an, aus Liebe zum Mitmenschen auf unsern eigenen Vorteil zu verzichten, Joche zu zerbrechen und Bedürftigen das zu geben, was sie nötig haben. Psychologen haben fest­gestellt: Nur der kann lieben, der selber Liebe empfangen hat. Ein Kind, das nie Mutterliebe erlebt hat und immer nur beschimpft und geschlagen wurde, wird später kaum selbst lieben können – es sei denn, es erlebt doch noch irgendwo wirkliche Liebe. Ein Mensch wird mit den Forderungen in Gottes Gesetz kaum Nächsten­liebe lernen. Aber wenn er sich das Gesetz sagen lässt, wird es ihn zu Gottes Liebe treiben, und dann wird er lieben lernen.

Was dabei heraus­kommt, mag kümmerlich und un­vollkommen scheinen. Glücklicher­weise sind wir nicht darauf angewiesen, uns um den Erfolg unserer Bemühungen zu sorgen. Wir kennen zwar die Forderung: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ Wir wollen sie uns auch zu Herzen nehmen. Aber wir wissen, dass Gottes Wohl­gefallen nicht davon abhängt, wie gut uns das dann wirklich geligt, denn Gottes Wohl­gefallen wird uns durch Christus frei und umsonst geschenkt. Darum werde viele Christen am Jüngsten Tag ziemlich überrascht sein, wenn Christus zu ihnen sagen wird: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich bekleidet.“ (Matth. 25,35-36) Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1984.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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