Die Kirche muss wachsen

Predigt über Apostelgeschichte 16,9‑15 zum Sonntag Sexagesimä

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Was wir da eben gelesen haben, ist der Bericht von einer Etappe der zweiten Missions­reise des Apostels Paulus. Nichts Besonderes, könnte man sagen – ein Bericht wie viele andere in der Apostel­geschichte. Paulus und seine Reise­begleiter reisen von Troas nach Philippi. Dort predigt Paulus am Sabbat einigen gottes­fürchtigen Frauen und kann eine von ihnen für den Glauben an Jesus Christus gewinnen. Sieht man diesen Bericht aber eingebettet in den großen Erzähl­bogen, den die Apostel­geschichte spannt, dann ist mit ihm ein wichtiger Einschnitt gegeben, und zwar in doppelter Hinsicht.

Erstens geht der Bericht­erstatter ganz un­vermittelt in die Wir-Form über.“Da fuhren wir aus von Troas“, heißt es. Dieses Wir taucht hier erstmals in der ganzen Apostel­geschichte auf. Wer verbirgt sich dahinter? Autor der Apostel­geschichte ist Lukas, der Verfasser des gleich­namigen Evan­geliums. Die Apostel­geschichte ist gewisser­maßen die Fortsetzung des Evan­geliums. Lukas, ein griechi­scher Arzt und Intellek­tueller, hat bis hierher aufgrund genauer Nach­forschungen berichtet. Nun gibt er durch die Wir-Form zu erkennen, dass er Paulus ab Troas auf dieser Missions­reise begleitet hat. Wahr­scheinlich hat er dem ge­sundheit­lich schwachen Apostel manche medi­zinische Hilfe zuteil werden lassen; jedenfalls grüßt Paulus im Kolosser­brief liebevoll von ihm. Der Wir-Bericht macht sich für uns als Leser der Apostel­geschichte insofern bemerkbar, als dass wir ab dieser Stelle sehr genaue und lückenlose Berichte über die Reiseroute und die Missions­aufenthalte des Paulus haben.

Der zweite Einschnitt, den dieser Text für die Apostel­geschichte bildet, ist wesent­licher: Zum ersten Mal wird hier berichtet, wie das Evangelium durch den Dienst des Paulus nach Europa kommt. Bis Troas war nichts Ent­scheidendes auf dieser Missions­reise geschehen. Allerdings hatte es gleich zu Anfang Krach zwischen Paulus und seinem früheren Reise­gefährten Barnabas gegehen, sodass beide diesmal getrennte Wege zogen. Zwar konnte Paulus einige kürzlich entstandene Missions­gemeinden besuchen und stärken, aber eine Missions­tätigkeit in den Provinzen Mysien und Bithynien, wie er sie ur­sprünglich geplant hatte, blieb ihm verwehrt. Nun saß Paulus in der Hafenstadt Troas im Westen von Kleinasien, nur noch durch das Ägäische Meer von Griechen­land getrennt. Da bestätigte ihm ein visionärer Traum, was er wohl schon lange geahnt hatte: Er sollte das Evangelium nun auch nach Europa bringen. Ein make­donischer Mann erschien ihm in diesem Traum und forderte ihn auf, in die griechische Nordprovinz Makedonien zu kommen. Paulus erkannte in diesem Traum Gottes Weisung und bereitete ohne Zögern die Überfahrt vor. Schnell war ein Schiff gefunden, das sie an der Insel Samothrake vorhei bis zur Hafenstadt Neapolis mitnahm, dem Hafen der bedeutenden römischen Provinz­hauptstadt Philippi. Zunächst versuchte Paulus hier, den Juden das Evangelium zu bringen, wie es für ihn Prinzip war. Es gab keine Synagoge in Philippi, aber an einem Bach vor der Stadt pflegten sich die Juden zum Gottesdienst zu versammeln. Dort hatte Paulus Gelegen­heit, mit einigen Frauen der jüdischen Gemeinde zu sprechen, unter ihnen Lydia. Sie stammte aus der klein­asiatischen Stadt Thyatira in Lydien, wo es später auch einmal eine christliche Gemeinde geben sollte. Als Händlerin des sehr begehrten Textil­farbstoffs Purpur hatte Lydia es zu einigem Wohlstand gebracht; man kann annehmen, dass zu ihrem „Haus“, wie es hier bezeichnet wird, nicht nur Familien­angehörige, sondern auch viele Bedienstete gehörten. Lydia war keine geborene Jüdin, sondern sie war zum Judentum über­getreten; die Bezeichnung „gottes­fürchtig“ drückt das im Neuen Testament aus. Diese Frau hörte also Paulus von Jesus reden. Da öffnete ihr Gott das Herz, und so wurde sie der erste Mensch, den Paulus in Europa taufte. Ihre Haus­angehörigen ließ sie gleich mit taufen, denn nun sollte ihr ganzes Haus christlich werden. Darauf lud sie Paulus und seine Reise­gefährten ein, ihre Gäste zu sein.

Wir haben es hier also mit einer ent­scheidenden Etappe auf dem Siegeszug des Evangeliums zu tun und mit einem ent­scheidenden Abschnitt der Apostel­geschichte – einer Schrift, die mit jenem abenteuer­lichen Auftrag Jesu an die Apostel beginnt: „Ihr werdet meine Zeugen sein zu Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde“, und die damit schließt, dass Paulus als Prediger des Evangeliums Rom erreicht, die Hauptstadt des römischen Weltreichs. Die Kirche wächst, das Evangelium breitet sich aus, und mit dem gehörten Bericht erleben wir, wie es durch Paulus erstmals nach Europa kommt.

Was empfinden wir heute, wenn wir so einen Bericht hören? Wie kommt uns dieser stürmische Siegeszug des Evangeliums mit zweitausend Jahren Abstand vor? Kann uns so ein Bericht heute irgendwie weiter­helfen?

Zunächst einmal ist uns so ein Bericht ein Anlass zum Loben und Danken. Es ist ein Wunder Gottes, dass sich aus einer Handvoll schlichter Jünger das Evangelium und die Kirche Jesu Christi auf der ganzen Welt aus­gebreitet haben. Wir dürfen dankbar sein, dass das Evangelium auf seinem Siegeszug auch nach Europa gekommen ist, dass es nach Rom gelangt ist, dass es dann Staats­religion wurde und dass es dann schließlich auch zu unseren Vorfahren, den Germanen, kam. Wenn damals nicht Menschen mit großem Eifer und unter Einsatz ihres Lebens die Botschaft weitergetragen hätten, dann säßen wir heute noch im finsteren Heidentum. Gott hat seinen Boten zur rechten Zeit Weisung gegeben, wie wir es am Beispiel des Paulus und seines Traums mit dem Makedonier erkennen können. Und Gott hat Menschen für die Botschaft von Jesus Christus das Herz geöffnet, wie es am Beispiel der Lydia deutlich wird. Gott ist zu preisen dafür, dass die Kirche heute die Welt umspannt, und dafür, dass wir dazugehören dürfen.

Dann aber bringt uns so ein Bericht auch zum Fragen. Wir werden die heutige Situation der Kirche und des Evangeliums mit damals ver­gleichen. Damals breitete es sich aus wie ein frischer Hefeteig, damals über­stürzten sich die Erfolgs­meldungen, wie wir in der Apostel­geschichte nachlesen können. Und heute? Heute können wir eher das Gegenteil beobachten. Zumindest in unserem Land häufen sich die Kirchen­austritte, und viele ältere Christen, die sich noch treu zur Kirche halten haben, sterben. Viele Eltern halten es nicht mehr für nötig, ihre Kinder taufen zu lassen. Ent­kirchlichte Mitbürger und anders­gläubige Ausländer lassen sich kaum mehr zum Glauben an das Evangelium bewegen. Irgendwie ist also der Wurm drin, irgendetwas ist anders als damals, zur Zeit der Apostel, im goldenen Missions­zeitalter.

Man kann es sich leicht machen und sagen: Wir leben in der Endzeit, wo der große Abfall voraus­gesagt ist. Damals musste die Kirche ja wachsen, weil sie in ihren kleinen, un­scheinbaren Anfängen sonst keine Chance gehabt hätte. Damals war sowieso eine besondere Zeit: Der Heilige Geist machte sich noch lautstark bemerkbar, und die Botschaft der Apostel wurde durch mächtige Wunder begleitet. Sicher ist an solchen Über­legungen etwas Wahres dran. Falsch wäre es jedoch, sich aufgrund solcher Über­legungen mit dem Schrumpfungs­prozess der Kirche zufrieden zu geben und zu meinen, das sei so in Ordnung. Wir haben es heute in den Tages­lesungen gehört und müssen es uns gesagt sein lassen: Gottes Wort kommt in unsere Welt, um zu wirken und Wachstum herbei­zuführen. Gottes Wort ist wie Tau und Regen, der Pflanzen wachsen lässt und Frucht hervor­bringt. Gottes Wort ist wie Same, der auf ver­schiedene Arten von Boden fällt, aber irgendwo auch vielfältig Frucht bringt. Gottes Wort, das hier von dieser Kanzel gepredigt wird und das hier in diesem Buch auf­geschrieben ist, ist kraftvoll und hat die Verheißung ungeahnter Wirkungen – nicht nur zur Zeit des Paulus, sondern auch heute noch. Gott will auch heute, dass sich das Evangelium ausbreitet und die Kirche wächst. Er will, dass wir Christen durch sein Wort im Glauben und in der Erkenntnis wachsen. Er will, dass Missionare hinaus­gehen, auch zu den ent­legensten Völkern und Stämmen. Er will, dass unsere kleine Gemeinde hier groß wird, dass sie die Heraus­forderung der zigtausend Ent­kirchlichten und Neuheiden in ihrer Umgebung erkennt und annimmt.

Was können wir denn tun? Eine Antwort fällt nicht leicht. Falsch wäre es, sich nach eigenem Gutdünken in hektisches Planen und Missio­nieren zu stürzen, Programme und Prognosen auf­zustellen oder großartige Werbe­strategien zu entwerfen. An der Geschichte des Paulus sehen wir: Gott gibt seinen Boten zur rechten Zeit einen Wink, und Gott muss die Herzen der Hörer auf­schließen, sonst gelingt garnichts. Falsch wäre es aber auch, die Hände in den Schoß zu legen und zu sagen: Gott muss ja alles tun, also warten wir ab und überlassen wir ihm die Arbeit. An der Geschichte des Paulus sehen wir: Als er Gottes Wink erkannt hatte, legte er los, plante die Reise, prüfte die missio­narischen Möglich­keiten, ging hin und predigte. Wir müssen also sensibel dafür werden, wo Gott uns in seinem Dienst haben will. Vielleicht gibt es etliche Menschen um uns herum, die uns, wie der Makedonier im Traum von Paulus, signali­sieren: „Komm herüber und hilf uns!“ Wir müssen Gott bitten, dass er uns auch einen Wink gibt, dass er uns mit der Nase darauf stößt, wo wir für ihn tätig werden können. Und dann sollen wir auch losgehen und das Evangelium bezeugen mit Worten und Taten – ein jeder so, wie er es am besten kann. Wir dürfen dabei das Vertrauen haben: Gottes Wort hat die Verheißung, dass es wirkt und Frucht bringt. Und so, wie Gott sich un­verdienter­maßen über uns erbarmt und uns zu seinen Kindern gemacht hat, so will er sich über viele erbarmen. Er will es durch seine Boten tun, auch durch mich und durch dich. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1984.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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