Die Vorfreude auf das Kommen des Herrn

Predigt über Jesaja 52,7‑10 zum 4. Advent

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Sechs Türchen sind noch zu öffnen am Advents­kalender, dann ist Heilig­abend. Wenn ich an meine Kindheit zurück­denke, dann erinnere ich mich daran, wie in diesen Tagen vor Weihnachten die Vorfreude auf das Weihnachts­fest ins Un­ermess­liche stieg. In einem weihnacht­lichen Kinderlied kommt diese Vorfreude voll zum Ausdruck: „Einmal werden wir noch wach, / heißa, dann ist Weihnachts­tag!“ Ich denke, dass es den Kindern immer noch so geht, und vielleicht kennen ja auch noch einige Erwachsene diese Vorfreude.

Aber auch wenn das Weihnachts­fest Jugendliche und Erwachsene nicht mehr in diese freudige Erregung versetzt, so gibt es doch andere Dinge, die sie mit fast kindlicher Vorfreude erwarten. Wer verliebt oder verlobt ist, freut sich auf das gemeinsame Zusammen­leben. Und für eine Frau gibt es kaum eine größere Freude, als wenn sie ihr erstes Kind erwartet. Im Tages­evangelium haben wir heute von zwei Frauen gehört, die sich gemeinsam über ihre Leibes­frucht freuten: Als Maria erfahren hatte, dass sie schwanger ist, besuchte sie ihre ebenfalls schwangere Verwandte Elisabeth und verbrachte bei ihr einige Zeit. In diesen Wochen freuten sich beide gemeinsam auf die Söhne Johannes und Jesus, mit denen sie schwanger waren.

Unser Textwort aus dem Jesajabuch beschreibt die Vorfreude einer ganzen Stadt, und zwar der Stadt Jerusalem, die hier stell­vertretend für das ganze jüdische Volk genannt ist. Wir müssen uns vorstellen: Die Stadt lag in Trümmern, und viele ihrer Bewohner waren verschleppt worden. Die Rest­bevölkerung war verzagt und traurig. Sie hatte nur eine Hoffnung: dass Gott den ver­sprochenen König sendet, der Frieden und Heil bringen soll. Jahr­hunderte­lang lebte das jüdische Volk in der Vorfreude auf diesen König. Die Stein­trümmer waren zwar bald beseitigt, aber der ver­sprochene König ließ lange auf sich warten. Als Trost hatten die Menschen nur die Worte der Freuden­boten, der Propheten wie Jesaja, die das künftige Kommen des Königs in fröhlichen Bildern ausmalten.

Betrachten wir Jesajas Bild! Hier ist die wartende Stadt, und dort, im Osten, sind die Berge der judäischen Wüste. In den Bergen kann man kleine Punkte erkennen, die sich bewegen – Menschen, die zur Stadt hinabeilen, freudige Botschaft bringen und das Kommen des Königs ankündigen. „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße der Freuden­boten, die da Frieden ver­kündigen, Gutes predigen, Heil ver­kündigen, die da sagen zu Zion: Dein Gott ist König!“ Gott selber kommt als König in seine Stadt – seine Boten, seine Vorläufer, haben es an­gekündigt! Schon kommt er selbst über die Berge; die Wächter auf der Stadtmauer erkennen ihn nun auch und stimmen in den Chor der Freuden­boten ein. „Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und rühmen mit­einander; denn alle Augen werden es sehen, wenn der Herr nach Zion zurück­kehrt.“ Wie ein Lauffeuer breitet sich die frohe Botschaft aus. Und dann zieht der König selbst in die Stadt ein; alle sehen es, freuen sich und loben ihn. „Seid fröhlich und rühmt mit­einander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der Herr hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.“

So weit das Bild des Propheten Jesaja, ein Bild der Vorfreude auf das Kommen Gottes, der in Gestalt des Messias, des ver­sprochenen Erlösers, sein Volk besuchen wird. Und nun ist er da, der Messias. Nun hat sich das Wort der Freuden­boten erfüllt – angefangen von Mose bis hin zu Johannes dem Täufer. Sie sind allesamt ihm voraus­gelaufen und haben sein Kommen an­gekündigt. Nun ist er da, der neugeborene König der Juden: Gott selbst in Menschen­gestalt, das Kind in der Krippe. Wer ihn mit Vorfreude erwartet hat, der sieht nun seine Sehnsucht gestillt. So zum Beispiel der alte Mann Simeon, der es noch erleben durfte, dass er seinen Heiland in den Arm nehmen und ausrufen kann: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen“ (Lukas 2,30).

Jetzt leben wir also in der Zeit der erfüllten Vorfreude. Der König, auf den man jahr­hunderte­lang gewartet hatte, ist nun da. Und er hat alle Erwartungen der Vorfreude erfüllt, die man aufgrund der pro­phetischen Worte auf ihn setzen konnte. Er hat den Frieden gebracht – Frieden mit Gott. Gott ist nicht mehr das für die Er­wachsenen, was der Weihnachts­mann für die Kinder ist: der Mann mit dem Geschenke-Sack in der einen und der Rute in der anderen Hand, der mit strengem Blick fragt, ob die Kinder auch artig waren. Nein, durch Jesus breitet Gott seine Arme aus und lässt gerade uns Kinder, die wir die Rute verdient haben, zu sich kommen. Bei Gott sind wir geborgen und geschützt, wenn Dinge uns Angst und Kummer machen. So bringt der Retter Trost. Und er bringt Heil. Früher oder später werden alle Wunden von ihm geheilt werden. Er heilt auch die schlimmste menschliche Wunde, die unsere Sünde mit sich bringt: den Tod. Er bringt uns viel Gutes. Er schenkt uns den Heiligen Geist, der uns loben, preisen und lieben lehrt. Er stärkt in uns die Gewissheit, dass durch diesen König alles neu und gut geworden ist. Er schenkt uns die Mittel, durch die der Heilige Geist zu uns kommt: Wir haben die Bibel, aus der wir Trost und Weisung erhalten. Wir haben das Heilige Abendmahl, mit dem uns unser König leiblich begegnet. Darum singen wir nach dem Abendmahl oft wie Simeon: „Meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“ Ja, die Vorfreude von Jesaja und von Gottes Volk hat sich erfüllt; wir dürfen wissen, glauben und erfahren, was man jahr­hunderte­lang herbei­gesehnt hat.

Aber nun ist das so eine Sache mit der erfüllten Vorfreude. Irgendwie liegt es in der mensch­lichen Natur: Wenn in Erfüllung gegangen ist, worauf man sich freute und wonach man sich sehnte, dann ist die Freude gar nicht mehr so groß, und wir nehmen es fast als selbst­verständ­lich hin. Wenn Weihnachten vorbei ist und die Kinder alles neue Spielzeug ausprobiert haben, kehrt schnell wieder der Alltag ein, und von der über­schwäng­lichen Freude ist nichts mehr zu spüren. Ich habe als Kind dann manchmal gedacht: Schade, dass es nun bis zum nächsten Weihnachts­fest noch ein ganzes Jahr hin ist! Auch die Vorfreude eines jungen Paares auf die Ehe ist oft größer als die Freude an der Ehe selbst. Wenn die Flitter­wochen vorbei sind, dann wird die großartige Gabe des gemeinsamen Lebens etwas Selbst­verständ­liches und kann mitunter sogar zur Last werden. Und auch wenn eine werdende Mutter sich sehr auf ihr Kind gefreut hat, dann freut sie sich zwar immer noch, wenn es geboren ist, aber sie wird auch etwas stöhnen über das ständige Wickeln und über das nächtliche Aufstehen zum Stillen.

Ich habe das Gefühl, seit Christus in die Welt gekommen ist, geht es der Christen­heit ebenso. Natürlich freuen wir uns von Herzen darüber, dass dieser König in die Welt gekommen ist, Frieden mit Gott gestiftet hat und uns froh und heil macht. Aber diese über­schwäng­liche jubelnde Freude, die sich in den Worten Jesajas ausdrückt, ist vielen Christen verloren gegangen. Wer freut sich denn schon die ganze Woche lang darauf, dass er am Sonntag zur Kirche gehen darf? Wer sehnt sich denn schon mit großem Verlangen nach dem nächsten Abendmahls­gang? Wer liest sich denn schon täglich am köstlichen Schatz des göttlichen Wortes fest? Wer dankt schon seinem Herrn morgens und abends auf Knien für all die guten Gaben, die er ihm täglich und reichlich gibt, und macht dann von dem großen Vorrecht Gebrauch, ihn für alles und alle zu bitten, die ihm am Herzen liegen? Die meisten können das wohl so nicht von sich behaupten. Da ist sicher mancher Seufzer über das frühe Aufstehen am Sonntag­morgen, und manche Trägheit, die tägliches Bibellesen und Beten verhindert, zumindest zu einer eher lästigen Pflicht­übung werden lässt. Die meisten von uns werden solche Anflüge von Lust­losigkeit kennen – und denkt nur nicht, dass Pfarrer da eine Ausnahme bilden!

Zur Freude kann man sich nicht zwingen, Freude kann man sich nur schenken lassen. Wir können Gott bitten, dass er uns wieder kindliche Freude über das Gekommen-Sein seines Sohnes schenkt – auch wieder zu diesem Weihnachts­fest. Aber auch wenn sich aus diesem oder jenen Grund keine Freude einstellen will, sollten wir dennoch treu am Wort Gottes, an der christ­lichen Gemein­schaft und am Gebet bleiben – selbst wenn das mal mit Unlust geschieht.

Aber wir können uns dabei etwas bewusst machen: Eigentlich leben wir immer noch in der Zeit der Vorfreude! Das letzte Kommen Christi steht ja noch aus, wenn er nämlich wieder­kommen wird, um uns ins Paradies zu holen. Wir alle, alte und junge Christen, haben den besten Teil unseres Lebens noch vor uns. Manche Unlust, manche Ent­täuschung, manchen Fehlschlag in diesem Leben können wir leicht wegstecken, weil wir wissen: Unseren Lebens­hunger brauchen wir ja gar nicht in dieser Welt hier zu stillen, dafür haben wir noch eine Ewigkeit Zeit.

Die ersten Christen haben ganz stark mit dieser Erwartung gelebt. Wie Jesaja seine Vorfreude auf das erste Kommen Christi zum Ausdruck brachte, so freuten sie sich maßlos auf sein Wieder­kommen. Wir sollten es ihnen nachtun. Schon kündigen Gottes Boten in aller Welt an, dass er wieder­kommen wird; schon sind die lieblichen Füße der Freuden­boten auf den Bergen. Schon breitet sich die gute Nachricht wie ein Lauffeuer aus, schon sehen die Wächter der Stadt den König kommen, und schon können die Trümmer der Stadt (die Trümmer der Angst, der Trauer und Verzagt­heit) zu jubeln anfangen. „Wir warten dein, du kommst gewiss, / die Zeit ist bald vergangen; / wir freuen uns schon überdies / mit kindlichem Verlangen. / Was wird geschehn, / wenn wir dich sehn, / wann du uns heim wirst bringen, / wann wir dir ewig singen!“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1983.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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