Gottes Einladung nach Zion

Predigt über Jesaja 62,10‑12 zum Reformationstag

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Eine Stadt ist für viele Menschen heutzutage etwas Ab­schrecken­des. Lärm, Schmutz, Beton, verpestete Luft, anonyme Menschen­massen – all das fällt uns ein, wenn wir an eine Stadt denken. Wenn es irgend geht, meiden viele die Stadt, ziehen in Vororte und suchen Erholung da, wo es möglichst einsam ist. Die unberührte Natur, das Grüne, die Ab­geschieden­heit einer einsamen Insel – all das erscheint attraktiver als die Stadt vor. Da hat es Gott schwer mit seiner Botschaft von einer Stadt. In unserem Textwort ergeht nämlich die Auf­forderung an Gottes Boten, überall auf der Welt einzuladen und die Menschen zusammen­zurufen – aus­gerechnet in eine Stadt! Es ist die Stadt Jerusalem, die hier als Sinnbild für Gottes Gegenwart steht. Kann das denn ein ver­lockendes und einladendes Bild sein?

Ja, es kann. Denn Gottes Stadt ist ganz anders als die grauen Städte, die wir kennen. Im Alten Testament wurde der Stadt­bevölke­rung, der Tochter Zion, ver­sprochen: „Siehe, dein Heil kommt!“ Heute kann es sogar heißen: „Siehe, dein Heil ist da!“ – nämlich dein Heiland Jesus Christus. Er ist der große König dieser Stadt, und er hat ihr Frieden gebracht. „Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her!“ Wir sind sein Volk, das er sich gewann und das mit ihm und dem Vater in dieser Stadt zusammen sein darf. Er hat uns erworben, er hat uns teuer erkauft – mit seinem „heiligen, teuren Blut und mit seinem un­schuldigen, bitteren Leiden und Sterben“. Weil Gott in dieser Stadt wohnt und Jesus Christus sie regiert, dürfen wir sie uns als köstliche, glänzende Stadt vorstellen. Die Tore bestehen aus Perlen. Die Straßen sind sauber. Die Türen der Häuser stehen offen, weil niemand Einbrecher zu fürchten braucht. Lärm, Hektik oder Un­freundlich­keit gibt es da nicht. Alle spiegeln das Licht und den Glanz ihres Königs wider, so wie der Mond den Schein der Sonne wider­spiegelt.

Wo liegt aber diese para­diesische Stadt? Sicher denkt ihr an das himmlische Jerusalem, das nach dem Tod auf uns wartet. das ist nicht falsch. Und doch gibt es diese Stadt schon jetzt bei uns. Denn das Zion, von dem wir hier durch Jesaja hören, ist ja ein Sinnbild für Gottes Gegenwart. So wahr wir schon heute in Gottes Gegenwart leben, leben wir auch schon in Jerusalem. Dabei ist nicht an die allgemeine Genwart Gottes gedacht, sondern an seine besondere und heilvolle Gegenwart durch den Heiligen Geist. Sie findet sich besonders in der christ­lichen Gemeinde, in der Predigt des Evangeliums und in den Sakra­menten. Hier, an diesem Altar, und hier, auf dieser Kanzel, ist das neue Jerusalem – hier, in diesem Gotteshaus! Ihr seid heute der göttlichen Einladung in die heilige Stadt gefolgt. Die Stadt hat nach Jesaja auch den Namen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“; ihre Einwohner heißen „heiliges Volk“ und „Erlöste des Herrn“. Wer anders sollte das sein als die Gemeinde der Heiligen, die eine heilige christliche Kirche, die sich zwar in vielen Kirch­gebäuden, aber doch um den einen König und Erlöser sammelt? Ja, die Worte des Propheten Jesaja sind heute in Erfüllung gegangen: Wir haben das große Vorrecht, das Heil von Gottes neuem, geistlichen Jerusalem zu erfahren und daran teil­zuhaben. Jesaja und die vielen Heiligen vor Christus kannten diese Stadt nur aus der pro­phetischen Ankündigung und haben sehnsüchtig darauf gewartet; wir heute dürfen im Geist durch den Glauben in ihr leben.

Wir wollen noch ein wenig bei dem Bild verweilen und betrachten, was es für das Wesen der Kirche bedeutet. Es bedeutet unter anderem, dass Gott uns das Heil ge­meinschaft­lich zugedacht hat. Gott ist nicht ein fliegender Händler, der herumgeht und sein Heil den Menschen in ihrer Ver­einzelung austeilt. Vielmehr ruft er sie aus dieser Ver­einzelung heraus in seine Stadt, wo er ihnen in den christ­lichen Ver­sammlungen als Gemein­schaft begegnen und sie segnen will. Predigt, Abendmahl und Bibelstunde sind Gottes Heils­veranstal­tungen für sein Volk als Ganzes, nicht für eine Anzahl von Einzel­christen. Die private Frömmig­keit, das persönliche Andachts­leben und das Gebet im stillen Kämmerlein haben nur dann ihren guten Sinn, wenn sie den Gemeinde­gottesdienst ergänzen. Diejenigen unter uns, die ganz treu in der Gemeinde leben, können bestätigen, wie herrlich es ist, in dieser „Stadt“ zu leben. Der Glaube, der in der Einsamkeit oft schwankt und verzagen will, wird durch das Versammeln um das Wort, durch das gemeinsame Singen und Beten gestärkt. Liebe und Vertrauen, diese Kennzeichen der Gemeinde, wachsen da, wo man zusammen­kommt und Gemein­schaft pflegt.

Diese Gemein­schaft ist nun aber keine Vereins­meierei. Im Verein kommen Menschen mit gleichen Interessen von sich aus zusammen. Die Kirche ist aber kein geistlicher Interessen­verein, sondern Gottes Stadt, in die hinein seine Boten rufen und einladen. Sie kommen dem Aufruf Gottes nach: „Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!“ Wir können auch sagen: Predigt das Kreuz unter den Völkern, durch das Jesus euch mit Gott versöhnt hat! Das griechische Wort für Kirche heißt wörtlich übersetzt „die Zusammen­gerufenen“, und so ist es auch gemeint. Wir sind hier nicht in erster Linie aus einem bestimmten Interesse oder Bedürfnis heraus anwesend, sondern weil Gott uns zusammen­gerufen hat.

Wer sind nun aber die Zusammen­rufer, an die Gott sich in unserm Wort wendet? Es sind die Propheten, die schon vor Jesu Kommen in das geistliche Jerusalem eingeladen haben. Es sind auch die Apostel, die nach Jesu Auf­erstehung in alle Himmels­richtungen die Botschaft verbreitet haben: Jetzt ist das Heil da! Es sind auch alle, die danach die Botschaft der Apostel und Propheten weiter­verkündigt haben.

Heute erinnern wir uns natürlich besonders an einen dieser Zusammen­rufer, der der Kirche besonders zum Segen geworden ist: Martin Luther. Allerdings wird immer wieder versucht, Luther für alle möglichen Zwecke zu vereinnahmen: Luther als National­held, Luther als Revolutio­när, Luther als erster moderner Theologe, Luther als Kirchen­gründer und so weiter. All das war er nicht – oder jedenfalls nicht in erster Linie. Er selbst hat sich nie als etwas anderes gesehen als so ein Zusammen­rufer Gottes, so ein Einlader in die Kirche, in die geistliche Stadt Zion, an Gottes Altar, in den Schall­bereich des Evan­geliums, zur Gemein­schaft mit dem lebendigen Gott, die durch Jesu Opfer ermöglicht wurde. Luther war einfach ein Einlader Gottes, dem wie vielen das Wort galt: „Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg!“

In dem bildlichen Vergleich sind Gottes Rufer sozusagen die Straßen­arbeiter, die die Zugangswege zu Gottes Stadt in Ordnung zu halten haben. Hindernde Steine müssen da aus dem Weg geräumt werden, und die Oberfläche muss eingeebnet werden. Martin Luthers besonderes Verdienst war es, dass er einige besonders hinderliche große Steinblöcke beiseite geräumt hat. Da war zum Beispiel der Stein eines verzerrten Gottes­bildes. Gott war in den Augen vieler mittel­alterlicher Christen nur der gestrenge Richter, der einmal gnadenlos mit den Menschen abrechnen würde. Luther zeigte seinen Zeit­genossen, dass Gott uns mit Jesus in erster Linie als der Liebende und Vergebende gegenüber­tritt. Da war auch der Stein des mannig­fachen Aber­glaubens, der von den damaligen Pfarrern geduldet oder sogar gefördert wurde. Für jeden Zweck gab es da einen Heiligen, den man anrufen konnte – an den dreieinigen Gott selbst wandten sich die Menschen deshalb nur selten. Da war der Stein des Papsttums und des kirchlichen Lehramts, das sich göttliche Autorität anmaßte und sogar solche Lehren für heils­notwendig erklärte, die überhaupt keine Anhalts­punkte in der Bibel hatten. Da war der Stein des Messopfers, das aus dem Vergebung spendenden Sakrament des Altars ein gutes Werk der Menschen machte und das dem ein für alle Mal geschehenen Opfer von Golgatha Hohn sprach. Und da waren noch manch andere kleinere Steine, die Luther beiseite räumte. Er war nur von dem einen Gedanken beseelt: Der Weg zu Gott muss doch eben gemacht und dem Volk bereitet werden; es darf dort keine kirchlich verordneten Stolper­steine und Schlag­löcher geben, weil sonst sogar ernsthaft suchende Menschen an ihrer Seele Schaden nehmen könnten. Wenn Christus einfach zu sich enlädt und spricht: „Kommt her zu mir!“, dann dürfen wir den Menschen nichts in den Weg stellen. Das und nichts anderes war die Re­formation: längst überfällige Straßen­arbeiten am Weg in die Kirche Jesu Christi!

Und wie sieht es heute aus? Können wir in die Re­formations­zeit zurück­blicken und sagen: Nun ist ja alles in Butter, Herr Luther? Nun sind die Steine ausgeräumt, der Weg ist eben, und wer zu Gott will, kann ungehindert kommen? Leider ist es nicht so. Die Straße zum geistlichen Zion scheint wie jede wirkliche Straße immer wieder neu reparatur­bedürftig zu werden. Und so müssen sich auch heute noch Gottes Zusammen­rufer als Straßen­arbeiter verstehen – alle, die zum Evangelium und in die Kirche einladen. Auch heute liegen viele Stolper­steine im Weg. Aus diesem Grund – und nur aus diesem – geht unsere Selb­ständige Evangelisch-Lutherische Kirche mit ihren Schwester­kirchen einen besonderen konfessio­nellen Weg. Wir können doch nicht aus falscher Rücksicht­nahme Steine liegen­lassen, die Menschen auf dem Weg zur Seligkeit gefährden!

Welche Steine sind das heute? Nach wie vor gibt es da römisch-katholische Steine. Zwar hat sich am mittel­alterlichen Gottes-Zerrbild vieles gebessert, aber doch ist da noch manches, was den Weg in die wahre Kirche Christi erschwert und gefährdet. Immer noch will der Papst bestimmen, was in der Kirche zu lehren und zu glauben sei. Erst vor wenigen Jahrzehnten hat ein Papst das Dogma verkündigt, dass Maria wie Christus gen Himmel gefahren sei. Das steht aber nirgends in der Bibel. Überhaupt bringt die Marien­verehrung die Gefahr mit sich, den Blick von Jesus abzulenken, hin auf seine leibliche Mutter. Dabei kann doch Segen, Heil und Erlösung einzig von ihm selbst kommen – der Segen, durch den die Kirche lebt. Aber es liegen auch andere Steine im Weg. In den pro­testan­tischen Kirchen besteht die Gefahr, dass neben die Botschaft vom Kreuz andere Botschaften treten, zum Beispiel politische oder psycho­logische. Da wird aus der Kirche, die doch durch ihre Gnaden­mittel Vergebung der Sünden und ewiges Leben predigen soll, dann eine Ein­richtung, die den Weltfrieden sichern und das Gewissen der Mächtigen sein will. Ein weiterer schwerer Brocken ist die neuzeit­liche Bibel­auslegung, die sich überheblich zum Richter über die Heilige Schrift macht und selbst­herrlich entscheiden möchte, was darin ewiges Gotteswort ist und was zeit­gebundenes Menschenwort.

All dies sind Hindernisse auf dem Weg in die Kirche, über die man stolpern kann und die einen entmutigen oder auf Abwege führen können. Wir sagen nicht, dass in anderen Kirchen und Kon­fessionen keine Christen wären, die trotz dieser Hindernisse den Weg zum wahren Evangelium und zu ihrem Herrn Jesus Christus finden. Die Stolper­steine selbst aber können und werden wir nicht billigen. Wir gehen unseren besonderen kirchlichen Weg, weil wir wenigstens für die paar uns an­vertrauten Seelen den Weg zum Evangelium gut instand halten wollen, und weil wir gegenüber anderen Kon­fessionen mahnend unsere Stimme erheben müssen, wenn sie ihren Gemeinde­gliedern solche Steine in den Weg legen. Wenn wir so handeln, dann handeln wir wie Luther ganz einfach als Gottes Rufer und Weg­bereiter. Re­formations­fest ist dann nicht bloß eine feierliche geschicht­liche Gedenk­stunde, sondern die erneute Orien­tierung am göttlichen Auftrag. Reformation ist Straßenbau – und der ist heute so nötig wie damals. So gesehen ist die Kirche in der Tat eine, die immer aufs Neue, bis zur Wiederkunft ihres Herrn, reformiert werden muss. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 1983.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum